Autor: Dirk Wonhöfer
Draußen heulte der Wind zwischen den verwinkelten Türmen und Mauern. Seine Stimme war klagend und einschüchternd, ließ dem alten Serabi Rhynn das Blut in den Adern gefrieren. Der Herbst war gekommen, und mit ihm eine Kälte und Bitterkeit, die jedes lebende Wesen das Fürchten lehrte.
Rhynn blickte sich in seinem kleinen Zimmer um. Schatten sammelten sich in den Ecken, rannen wie Sand in ein düsteres Stundenglas, das längst überfüllt war und zu zerspringen drohte …
Mit einem unwohlen Gefühl im Magen wandte er sich wieder seinem Schreibtisch zu. Er war ein gut und lange gedienter Magier, fühlte sich bei weitem zu alt, um noch einmal derart finstere Zeiten durchleben zu müssen. Solche Dinge waren seiner Meinung nach für jüngere Generationen bestimmt.
Flackernder Kerzenschein erhellte die düsteren Wände, auf denen dunkle Figuren tanzten und ihm auffordernd die Hand zu reichen schienen. Komm, flüsterten sie eindringlich in seinem Kopf. Komm zu uns, alter Mann. Von den Schatten zu den Schatten.
Ein Rascheln erklang, als er den wallenden Stoff seiner Robe mit der Hand zurückschob, um seine Arme zu betrachten. Schwärze klebte wie Pech an seiner Haut, wo sie einst hell und lebendig gewesen war. Die dunklen Stellen hatten sich ganz heimlich heran geschlichen; hier ein schwarzer Fleck, dort ein seltsamer Streifen, fast wie Narben oder Striemen. Es hatte vor drei Tagen begonnen, und nun war beinahe sein gesamter Körper von Dunkelheit umschmiegt wie von einem Mantel, der das Licht verschluckt. Die betroffenen Stellen fühlten sich nicht wärmer oder kälter an als vorher, lediglich … anders.
Komm zu uns.
"Was immer ihr auch seid - so leicht bekommt ihr mich nicht" sagte er an die Schatten gewandt und drehte sich dann auf seinem Stuhl um, blickte angestrengt auf das Pergament auf seinem Tisch. Er tauchte die Feder in das Tintenglas und begann zu schreiben.
Mein Name lautet Rhynn éd Erkasar. Ich bin Magier im Hohen Rat der Serabi, der sich jedoch aufzulösen scheint, noch während ich diese Worte zu Papier bringe. Ich schreibe dies aus freiem Willen, obschon ich die Ahnung einer fremden Macht in meinen Adern spüre. Doch möchte ich von vorn zu Erzählen beginnen, da ich nicht weiß, wer dieses Schriftstück lesen wird und ob meine Rasse nicht in Vergessenheit versinkt.
Ich bin Angehöriger des Volkes der Serabi. Wir fühlen uns allesamt der Magie verbunden, werden mit ihr geboren und existieren durch sie. Sie schenkte uns unser großes Verständnis der Welt und sorgte dafür, dass wir zur mächtigsten und größten aller Rassen wurden.
Wir sind zudem das einzig bekannte Kollektiv-Volk. Dies bedeutet, dass wir im Stande sind, unsere Gedanken und Gefühle in gewissem Maße miteinander zu teilen. Ich fühle, was jeder andere Serabi fühlt, und alle anderen spüren meine Gegenwart.
Doch jetzt spüre ich gar nichts mehr. Mein Volk ist sich nicht mehr sicher, was mit ihm geschieht, denn eine Veränderung geht durch unsere Reihen. Ich selbst habe keine Angst, da ich auf den Tod vorbereitet bin. Ich werde ihn begrüßen, wenn er meine Seele küsst.
Aber ich möchte von unserem Frevel berichten, bevor nicht mehr genügend von mir übrig ist, um eine Feder zu halten.
Alles begann im Sommer des vierunddreißigsten Schlangenmonds, fünfzehn Jahre vor den Ereignissen, die mich nun dazu treiben, diesen Brief zu schreiben. Damals klopfte ein Wanderer an die Pforten unserer Burg und begehrte um Einlass. Er war vom Regen durchtränkt und in zerrissene Gewänder gekleidet, doch trotz seines Aussehens stellte er sich uns als Prinz der Mondelfen vor. Sein Name war Jovalis, und er kam von den entfernten Gefilden der Mondseen.
Schlohweißes Haar fiel über seine Schultern und perlte über seinen schlanken Körper. Er hatte es zu zwei langen Zöpfen geflochten und in der Leibesmitte zusammen geknotet, so dass er wie von einem hellen Schein davon umrahmt wurde. Seine Augen leuchteten in dem tiefsten Blau, das ich je gesehen habe. Die zerschlissene Kleidung, die er trug, konnte sein wahres Wesen eben so wenig verbergen wie ein nasses Federkleid die ungebändigte Erhabenheit eines Adlers.
Wir gewährten ihm, zu bleiben. Die Kräfte, die wir in ihm spürten, waren mehr als beeindruckend. Selbst wir, die wir ein Volk der Magier sind, konnten seiner Macht nicht annähernd gerecht werden. Wir waren uns sicher, dass er ein Auserwählter der Magie sei, eines jener legendären Wesen, die nicht nur in der Lage sind, Magie zu benutzen, sondern sie zu erschaffen.
Gierig waren wir, ihn bei uns auf zu nehmen, und gierig waren wir, ihn zu unterrichten. Denn als unwissendes Kind kam er zu uns, beherrschte die Magie zwar, doch nutzte er nicht einen Bruchteil seiner Kräfte. So weihten wir ihn in unsere tiefsten Geheimnisse ein.
Und Prinz Jovalis lernte schnell und viel. Bereits nach wenigen Jahren gab es nichts mehr, das wir ihm hätten beibringen können. Bald schon unterrichtete er uns. Er wusste von Dingen, die außerhalb unserer Sicht lagen. Er gelangte an Orte, von deren Existenz wir nicht einmal träumten. Und seine Kräfte hörten nicht auf, zu wachsen ...
Eine der Kerzen auf dem Schreibtisch erlosch, und zitternd setzte Rhynn die Feder ab. Bittere Kälte saugte dem Zimmer das Leben aus, stahl gleichzeitig den letzten Rest Würde, den der Magier sich zu bewahren versuchte. Die Schatten in den Ecken taten ihr Übriges.
Rhynn musterte sie bedrückt und kaute gedankenverloren auf dem Ende der Feder, bis sich saurer Tintengeschmack in seinem Mund ausbreitete.
Komm zu uns, komm. Du gehörst zu uns.
Die Schatten waren fester geworden, dichter und ... wirklicher. Unbehaglich rutschte der Magier auf dem harten Holz seines Stuhls hin und her. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, so als werde er beobachtet. Er blickte über seine Schulter. Einer der dunklen Schemen hatte sich von der Wand gelöst und verweilte nun eigenständig im Raum. Sein Umriss war der eines Serabi, doch er bestand nur aus Schwärze.
"Was bist du?" fragte Rhynn mit fester Stimme, aber der Schatten gab keine Antwort. Die Dunkelheit im kleinen Raum nahm zu, wogte wie Wellen in einem Ozean der Finsternis. Zwei weitere düstere Schemen glitten von den Seiten heran. Sie waren stumm, totenstill. Doch ihre Anwesenheit war fordernd und unnachgiebig.
Komm zu uns.
Der Magier holte tief Luft und schüttelte den Kopf. "Ich werde jetzt diesen Brief zu Ende schreiben. Daran hindert ihr mich nicht! Und danach ... werden wir sehen, was geschieht."
Er runzelte die alte Stirn, tauchte den Federkiel tief ins Tintenfässchen und schrieb weiter.
Heute frage ich mich, welches Ereignis Jovalis zu dem machte, was er ist. Es muss etwas mit ihm geschehen sein, bevor er zu uns kam. Er erzählte uns nie von seiner Heimat. Möglicherweise liegt dort der Schlüssel zu dem einzigen Raum, der wohl auch ihm für immer verschlossen bleiben wird.
Der Prinz besaß schon immer diesen seltsamen Hang dazu, alles verbessern zu wollen. Eine Welt zu schaffen, auf der es keine Ungerechtigkeit, keinen Hass und keine Feindschaft gäbe. Jeder vernünftige Serabi hätte ihm sagen können, wie kostbar dieser Traum doch war - jedoch zugleich wie unmöglich. Und doch schienen seine Kräfte das Unmögliche möglich machen zu können. Wir alle glaubten daran, als er uns zeigte, wie er weiße Magie schuf, sie kontrollierte und formte, und wie wir damit die Welt verändern konnten. Nur kleine Teile vielleicht - aber es lag plötzlich in unserer Macht.
Doch Prinz Jovalis gab sich nicht damit zufrieden und forschte weiter, bis er eine Möglichkeit fand, seinen Traum wahr werden zu lassen. Seine eigene Magie reichte bei weitem nicht dafür aus, doch er besaß die Unterstützung einer ganzen Rasse.
Es ist nun drei Tage her, seit wir den Zauber woben. Jovalis wurde in unser Kollektivbewusstsein eingebunden, und gemeinsam mit vielen tausend Serabi begann er, den Spruch zu formen. Es war anstrengend, aber machbar. Auch ich glaubte daran. Und wir schafften es tatsächlich: Als unsere Arbeit beendet war, kontrollierten wir die weiße Magie der gesamten bekannten Welt. Mit ihr war der Prinz in der Lage, all das zu bewirken, das er sich so sehnlichst gewünscht hatte.
Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde sein Traum Wirklichkeit werden.
Aber wir wurden sehr schnell eines Besseren belehrt. Durch unseren Zauber setzten wir das Gegenstück zu dem, was wir kontrollierten, frei. Wir entbanden unwissentlich jegliche schwarze Magie. Was wir mit unseren geeinten Kräften bewirkten, wurde nur einen Moment darauf von Chaos und Zerstörung anheim gesucht. Jedes Wesen, das wir heilten, starb, und jeder Landstrich, auf den wir unsere geistigen Finger legten, verdorrte kurz darauf und wurde kahl.
Als wir unseren Fehler erkannten, war es bereits viel zu spät, ihn wieder ungeschehen zu machen. Wir hatten die Mächte der schwarzen Magie entfesselt und sahen mit Schrecken, dass wir somit die Welt dem Untergang geweiht hatten. Die meisten Serabi - mich eingeschlossen - verfielen in Panik. Allein Prinz Jovalis wahrte die Ruhe und entschied das einzig Richtige: In einer gewaltigen Anstrengung nahmen wir all die schwarze Magie in uns selbst auf. Noch in der selben Sekunde zerbrach das geistige Kollektiv meines Volkes, und blind wurden wir zurück in die wirkliche Welt geschleudert.
Ich erwachte in der Ratskammer, gemeinsam mit den restlichen Mitgliedern des Hohen Rates. Unsere Körper waren bereits gezeichnet von den ersten Einwirkungen der Magie; schwarze Striemen fraßen sich in unsere Haut und breiteten sich langsam aus. Am Schlimmsten jedoch hatte es den Prinzen getroffen. Er hatte den Großteil der entfesselten Kräfte in sich gebunden, und so war sein Leib von Dunkelheit umhüllt wie von einem Meer aus Schatten. Wo die finsteren Zungen an uns noch zaghaft leckten, labten sie sich bei ihm schon an Fleisch und Geist. Sein weißes Haar hing in verfilzten, dreckigen Strähnen von seinem Schädel, sein früher so hellhäutiger Körper wirkte wie eine düstere, dämonische Hülle. Lediglich seine tiefblauen Augen leuchteten noch so hell wie zuvor.
Er betrachtete uns mit einem Blick, der all die schrecklichen Gedanken wiederspiegelte, die in unseren Köpfen nach Aufmerksamkeit heischten: Wir hatten das Kollektivbewusstsein zerstört und gleichzeitig jeden lebenden Serabi dem Untergang geweiht. Eine ganze Rasse, verteilt über aller Herren Länder, war mit einem Schlag dazu verdammt, vom Angesicht der Welt getilgt zu werden.
Prinz Jovalis verließ uns noch am selben Abend. Er sprach nicht darüber, wohin er ging. Seine eigene Dunkelheit trug er fort, doch die unsere konnte er nicht mit sich nehmen. Hätte es in seiner Macht gestanden, so hätte er es getan, daran zweifle ich keinen Augenblick. Doch er ging kraftlos und erschöpft.
Seit diesem Tage haben sich viele Serabi das Leben genommen. Manche irren verwirrt durch die Gänge der Burg, andere bleiben einfach in ihren Gemächern, so wie ich.
Mit diesen Zeilen endet meine Erzählung. Ich spüre, wie der Tod lechzend seine Finger nach mir streckt. Wer auch immer Ihr seid, der diesen Brief jetzt in den Händen hält - ich habe ihn nicht als Warnung verfasst. Ich ertrage nur den Gedanken nicht, dass unsere einstmals so mächtige Rasse in Vergessenheit gerät und unser Andenken wie Asche vom Wind davon getragen wird. Im Atemzug einer Herbstnacht hauchte das Volk der Serabi sein Leben aus. Darum erinnert Euch unserer jedes Mal, wenn der Wind durch welkes Laub raschelt, wenn Nachtnebel über den Mooren liegt, wenn kalter Regen den Staub auf der Straße fort wäscht.
Erinnert Euch des stolzen Volkes der Serabi.
Rhynn setzte die Feder ab, seufzte wehmütig und blies die Tinte trocken. Dann nahm er einen Kohlestift, setzte sorgfältig seine Initialen auf das Pergament und rollte es zusammen. Auf eine Versiegelung des Briefes würde er dieses Mal verzichten.
Er holte eine kleine Schatulle aus einer der Schubladen, verstaute den Brief darin und stellte das Kästchen gut sichtbar auf die Mitte seines Schreibtisches.
Und nun, alter Mann … komm zu uns.
Der Magier erhob sich, während ein bitterer Geschmack sich auf seine Zunge legte. Er raffte seinen Mantel, wobei sein Blick an seinen Händen hängen blieb. Sie waren nun so schwarz wie die Nacht, ebenso wie sein restlicher Körper.
Die Schatten standen noch immer mitten im Raum, schienen ihn blicklos zu beobachten.
Komm zu uns.
Ein Kribbeln ging durch Rhynns Finger, setzte sich über seine Arme fort und kroch schließlich in seine Brust. Er beugte sich vornüber, als wenn er Schmerzen verspürte, doch da war nichts. Nur die Dunkelheit überall um ihn herum und in ihm. Die Schemen verdichteten sich, fielen über ihm zusammen und drangen in seinen Leib. Alles geschah still und schmerzlos. Er wähnte sich in einem Traum, in dem er lediglich ein stummer Zeuge war.
Der Magier spürte, wie der Mantel von seiner Haut glitt und irgendwo, weit entfernt, den Boden berührte. Seine Hände verkrampften sich, wurden zu schwarzen Bällen, die Düsternis verströmten. Er wand sich unter der Berührung der Finsternis, sehnte sie aber auch herbei wie einen lange vergessenen, guten Freund.
Erst das Knarzen der Zimmertür riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Grelles Licht fiel durch den sich öffnenden, immer größer werdenden Spalt. Sofort huschten die schattenhaften Gestalten um ihn zurück in die dunklen Ecken, und Rhynn tat es ihnen gleich.
Er kauerte sich in die Dunkelheit und beobachtete, wie ein Serabi den Raum betrat und sich suchend umsah. Der Ankömmling rief Rhynns Namen, doch der Magier fühlte keine Verbundenheit mehr zu diesem Wort, das bereits in den Schlieren der Vergangenheit verblich.
Komm zu uns, wisperte er nur und streckte seine dunklen Finger nach dem Eindringling.
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