Autor: Dirk Wonhöfer
Ich erinnere mich noch so genau an den Tag, der damals mein Leben veränderte, als wäre es gestern gewesen.
Wenn ich die Augen schließe, höre ich, wie die Tür gegen den Türstock schlägt, spüre den kalten Windhauch, der wie ein Atemzug durch den Raum wirbelt, und wenn ich mit der Zunge über meine Lippen fahre, kann ich beinahe den Schnee schmecken. Aber damals ist nicht heute....
Und heute ist alles anders.
Es war kein normaler Tag in unserem kleinen Dörfchen. Wir - damit meine ich die Dorfbewohner und mich - liebten es gemütlich und ruhig. Ich führte eine alte Taverne, die mein Vater mir überlassen hatte, und ich war zufrieden damit. Die Leute kamen und die Leute gingen, und niemals geschah etwas. Es war vermutlich die schönste Zeit meines Lebens.
Doch was an jenem schicksalsschwangeren Tag passierte, davon darf nie jemand erfahren. Und ich habe es niemals jemandem erzählt. Die Bürde ist zu groß und die Wahrheit zu grauenvoll, als dass man jemand anderen guten Gewissens damit belastet hätte.
Es war der Tag nach der Wintersonnenwende, und es war bitterkalt. Ich versorgte meine Stammgäste - andere Gäste hatten sich bei diesem Wetter gar nicht bei mir eingefunden - mit Getränken und achtete darauf, dass es ihnen warm ums Herz blieb. Die Nacht war längst hereingebrochen und hatte einen Schneesturm gebracht, den ich schlimmer noch nicht erlebt habe, weder damals noch irgendwann anders bis in die heutige Zeit. Der Himmel selbst schien geborsten zu sein, und die Splitter prasselten wie riesige Eiskristalle auf die Welt. Ich hatte gerade die letzten nüchternen Gäste verabschiedet und wollte mich nun an die schwierigen Fälle machen, die Betrunkenen. Ich rang mit mir, sie in meiner Taverne übernachten zu lassen, doch wer konnte schon sagen, ob sich der Sturm morgen früh gelegt haben würde? Egal, welches Wetter draußen tobte - niemand hatte es weit bis nach Hause, und bei mir bis zum nächsten Morgen verweilen durften nur die, deren Glieder so gut wie tot waren.
Ich schüttelte den alten Bärtram und versuchte, ihm Wasser einzuflößen, doch er grunzte nur und drehte sich zur Seite. Gerade war ich dabei, es noch einmal zu probieren, als der Sturm so stark wütete, dass er die Tür aufriss und mit einer solchen Wucht gegen den Türstock schlug, dass die Nieten heraussprangen, um sich auf dem Boden zu verteilen. Ich weiß bis heute nicht, ob es tatsächlich das üble Wetter war, das die Tür geöffnet hatte. Denn in dem Moment, als der Wind in die warme Stube rauschte, galt mein Blick etwas völlig anderem: Eine fremde Gestalt kniete draußen, mitten im harten Schneegestöber, und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Ich wusste nicht, wer oder was sie war und ob sie überhaupt ein Mensch sein konnte, denn sie war so schwarz wie die Nacht selbst. Ich glaube, sie war sogar noch schwärzer, denn draußen war es stockfinster, und trotzdem hatte ich keine Mühe, sie zu erkennen.
Ich konnte nicht mit ansehen, wie eine arme Seele in diesem Sturm saß und zugrunde gerichtet wurde, und so kämpfte ich gegen den Schnee an und vergaß für einen Moment das Stechen der winzigen Kristalle in meinen Augen und auf meiner Haut. Die Kleidung des Fremden war seltsam und ließ sich nicht richtig packen, aber nach etlichen Versuchen brachte ich es doch fertig und zerrte die Gestalt in die Taverne. Mit halb erfrorenen Händen warf ich die Tür ins Schloss und schickte einen Stossseufzer gen Himmel, als wieder Ruhe in meinen Räumen einkehrte wie ein gern gesehener Gast.
Doch so schnell wie sie gekommen war, wurde die Stille von einem schweren Hustenkrampf des Fremden jäh unterbrochen. Rasch wollte ich der Person die Jacke vom Leib reißen, und erst jetzt merkte ich, dass der Stoff weder kalt war noch nass. Er fühlte sich geradezu geschmeidig an, als hätte man ihn in Öl getränkt und mit Fett eingeschmiert, und doch blieben meine Hände sauber, als hätte ich die Kleidung gar nicht berührt. Aber ich konnte das Ding nicht entfernen, und so tat ich das einzige, was mir in dieser Situation einfiel: Ich schenkte einen Krug so randvoll mit warmer Milch, dass ich auf dem Weg die Hälfte der Flüssigkeit auf dem Fußboden verteilte, und brachte es dem Fremden. Zwei dunkle Handschuhe glitten unter dem Umhang hervor, fassten den Krug und verschwanden damit unter der Jacke. Eine Sekunde später bekam ich das Gefäß zurück, ohne dass ein Schluck gefehlt hätte. Der schwarze Umhang schüttelte sich und hustete erneut, diesmal so heftig, dass er vornüber kippte und reglos liegen blieb.
Ich wartete eine Zeit lang, bis ich die nervösen Blicke der Gäste auf meinem Rücken nicht länger ertragen konnte, und so nahm ich das zerbrechliche Bündel vorsichtig auf und trug es in eines der leeren Gästezimmer im ersten Stock. Der Fremde war leichter, als ich angenommen hatte, trotz seiner nicht geringen Größe.
So behutsam wie möglich legte ich die Gestalt auf ein Bett. Ich spürte, wie sie zitterte, als würden ihr noch immer die Eiskristalle ins Gesicht prasseln. Ihre Züge lagen im Dunkeln, der Umhang verhüllte ihr Antlitz und schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Ich suchte lang, bis meine Hände sicheren Halt an ihrem Gewand fanden, und ich brauchte noch länger, um den seltsamen Stoff zurückzuwerfen. Als ich endlich das Gesicht freigelegt hatte, stockte mir der Atem. Überrascht und erschrocken taumelte ich nach hinten, und ich wäre wohl hingefallen, hätte der Fremde mich angesehen.
Unter der Kapuze war kein Gesicht aus Fleisch und Blut zum Vorschein gekommen, sondern eine Mischung aus Schwärze und hellgrauen Schatten. Finsternis schien sich dort zu verfestigen, wo man Nase, Wangen und Mund vermutet hätte. Lediglich ein dunkelblaues Paar Augen war alles, das an einen Menschen erinnerte. Die Augen - diese unnatürlichen Funken, die auf einem Grund aus längst verloschener Asche lagen - starrten wie tot an die Decke empor.
Es war ein Reminis.
Wir Menschen kennen sie unter vielen Namen, und heute weiß ich, dass sie selbst sich Serabi nennen. Doch Reminis trifft es meiner Meinung nach besser, denn es ist abgeleitet von Reminiszenzen. Mehr als Reminiszenzen einer früheren Rasse sind sie nämlich nicht, wie man sagt. Es heißt, vor langer Zeit hätte einst eine hohe Rasse gelebt, die sich jedoch durch ihre zu große Macht selbst zugrunde richtete. Die schwarzen Schatten, die Serabi, sind lediglich die Reminiszenzen des hohen Volks, nicht viel mehr als eine Erinnerung, die Gestalt angenommen hat...
Der Fremde hustete erneut. Er starrte zur Decke und senkte langsam seinen Blick, bis er mich musterte. Aus irgendeinem Grund erwartete ich Traurigkeit, unendlich tiefe Traurigkeit, doch da war nichts. Nur diese ausdruckslose Leere, als wäre der Schatten längst tot und hätte es selbst noch nicht gemerkt.
"…enka'mik" flüsterte der Serabi fast tonlos in einer fremd anmutenden Sprache. Die Schatten in seinem Gesicht warfen Wellen, flossen wieder zusammen und wurden bleich. Trotz meiner Angst vor diesem Unbekannten Wesen wusste ich, dass es nicht vorhatte, mir Leid zuzufügen. Im Gegenteil, es war dem Tode nah, und es schien um Hilfe zu flehen. Ich beugte mich vor sein Gesicht.
"Was…" begann ich zögernd und voller Unbehagen. "Was hast du gesagt?"
"… kaeh'miech" wisperte das Wesen, wieder in dieser fremden Zunge. Und doch schienen die Laute seltsam vertraut. Ich legte dem Serabi die Hand auf den Umhang.
Nun sprach der Fremde zum dritten Mal zu mir, und jetzt, wo er mir so nah war - jetzt verstand ich endlich! Die Worte bedeuteten nichts anderes als entkleide mich.
Ich wusste nicht, warum ich es tun sollte, ich hatte keinerlei Ahnung, was die Gestalt überhaupt von mir wollte, doch in diesem Moment konnte ich nicht anders, als zu gehorchen. Kleidungsstück um Kleidungsstück fiel von der Person herab, plötzlich saß der seltsame Umhang gar nicht mehr so fest, ließ er sich mühelos lösen.
Als der schwarze Leib nackt vor mir lag, erkannte ich zum ersten Mal, dass ich eine Frau vor mit hatte. Serabi sind anders als Menschen: Sie besitzen nicht die gleichen Körperproportionen und haben keine Rundungen an den Stellen, wo sie einem vertraut wären. Doch der Schatten weckte ein schlafendes, unterschwelliges Gefühl der Weiblichkeit...
Eine schwarze Hand schoss hervor und krallte sich in meinem Arm fest. Die Serabi wand sich, doch schon bald verfiel sie wieder in ihre ruhige, todesähnliche Starre. Ihre blauen Augen sahen mich an, und ich konnte eine Regung der Wärme darin erkennen. Ihre Lippen bewegten sich, doch stumm, ohne einen Laut hervor zu bringen.
Wieder beugte ich mich über den Schatten, und wieder verstand ich, was er mir zuflüsterte.
"... sterbe... bald..."
Ich schluckte.
"... rette..."
Ihr Blick wurde unstet, ihre Hände zuckten, umschlossen ihren Bauch. "... rette... mein Kind..."
Ich riss mich von ihrem Antlitz los, taumelte nach hinten und suchte nach Worten. Ihr Kind! Die Serabi war schwanger, doch nicht mehr stark genug, ihr Kind zur Welt zu bringen! Fast wäre es mir zu viel geworden. Es hätte nicht viel gefehlt, dass ich panisch den Raum verlassen hätte, doch eine ungewohnte innere Stärke hielt mich zurück. Ich atmete tief ein und näherte mich dem Schatten.
Die Serabi war nun bleicher geworden. War sie vorhin noch unergründlich schwarz gewesen, so war ihre Haut nun hell, fast gräulich, und ein blasser Film hatte sich über ihre Augen gelegt. Sie musste dem Tod ins Angesicht geblickt haben, während sie die letzten Worte sprach, die ich aus ihrem Munde hörte.
"... rette mein Kind..." flüsterte sie schwach, aber fest. "... nur er kann das Dunkel noch zurückdrängen. Die Armeen der Dunkelheit... seine Armeen... werden stärker, doch wenn mein Sohn lebt, wird er ihnen Einhalt gebieten."
Sie schien zu lächeln, als sie meine Hand nahm, mir in die Augen sah und sagte: "Gib ihm das Schwert, das ich bei mir trage. Er wird wissen, wie damit umzugehen ist. Er ist ... der Auserwählte ..."
Sie sank zurück auf das Bett, doch nicht vor Erschöpfung. Sie hatte ihr Leben ausgehaucht, und ich wusste, dass es nun auf jede Sekunde ankam.
Ich habe keine Erinnerung mehr an das, was ich als nächstes tat. Vielleicht war es ihr Geist, der noch nicht ganz verschwunden war und mich leitete, vielleicht war es auch einfach nur Glück.
Jedenfalls ist das nächste, was mir noch in Gedanken hängen blieb, der Körper eines kleinen Schattens, der in meinen Armen ruhte. Ich fühlte den Puls eines winzigen Herzens und wusste, dass der Junge am Leben war.
Doch ich hielt nicht nur das Leben eines Neugeborenen in meinen Händen, sondern das Schicksal eines ganzen Landes.
Über Fünfzig Jahre sind nun schon seit den Geschehnissen dieser Nacht vergangen, doch es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den schwarzen Schatten denke, wie er auf meinem Bett liegt und langsam verblasst.
Ich sehe ihre Augen, ihre strahlend blauen Augen in diesem finsteren Gesicht. Sie blicken mich an, und für einen Moment bin ich bereit, alles zu tun, um ihr Leid zu lindern.
Doch ich war nicht stark. Ich war nicht stark.
Ich hatte Angst, den anderen Dorfbewohnern vom jungen Serabi zu erzählen. Ich fürchtete, als Hexer oder Dämon bezeichnet zu werden, und so versuchte ich, das dunkle Kind heimlich aufzuziehen.
Aber ich wusste nicht, was der Schatten essen oder trinken konnte, und alles, was ich ihm einzuflößen versuchte, spuckte er wieder aus. Ich hätte mit ihm in die nächste größere Stadt reiten können, in der zu dieser Zeit einige Serabi lebten. Doch ich tat es nicht.
Auch als er zwei Nächte später in einem Fieberkrampf auf seinem Bettchen lag, war ich zu feige, jemandem von ihm zu erzählen.
Der Junge starb nur wenige Stunden später.
Ich vergrub seinen schlaffen, grauen Leib gleich neben der Stelle, an der ich auch seine Mutter im Wald hinter meinem Haus beerdigt hatte. Seitdem verlor ich nie wieder ein Wort über diese Nacht. Das einzige, was mir blieb, war das Schwert, das die Serabi bei sich getragen hatte: Es war, so wie die Serabi selbst, nicht mehr als ein Schatten. Eine schlanke, spitze Nadel aus völliger Dunkelheit, die alles Licht in sich aufzunehmen schien.
Ich versteckte das Schwert an einem sicheren Ort und hoffte, die Gedanken an jene Nacht für immer verdrängen zu können.
Es war in der darauffolgenden Morgendämmerung, als sie kamen.
Sie plünderten und brandschatzten und vergewaltigten. Sie schrien und schlugen, folterten und tranken das Blut der geschändeten Opfer. Sie waren die Vorboten einer Armee, die in unser Land einfiel und es für immer verändern sollte.
Und ich wusste, warum sie hier waren. Was sie suchten.
Ich war der einzige, der wusste, dass all das Morden für sie einen Sinn hatte. Sie suchten, drei ganze Tage lang. Doch sie fanden sie nicht. Weder die Serabi noch das Schwert. Und als sie wieder fort waren, wurde alles anders. Die Horden überzogen das Land, verkrüppelten, versklavten, töteten.
Ihr Herrscher war mächtig, ihre Feinde geschlagen.
Sie nahmen sich, was sie wollten, ohne danach zu fragen. Auch von mir bekamen sie, wonach sie trachteten, selbst ohne es zu wissen: Mein Schweigen.
Ich habe bis zum heutigen Tage niemals jemandem von jener Nacht erzählt, und niemals erfuhr jemand von dem Schwert.
Ich verdamme mich selbst dafür, dass mein ruhiges, geregeltes Leben mir mehr Wert war als das Schicksal eines Neugeborenen, doch ich kann es nicht mehr ändern.
Ich bin alt, meine Glieder sind schwach, und ich werde die heutige Nacht nicht überleben. Ich weiß es. Spüre es. Um meine Hüfte habe ich einen Gürtel geschnallt, an dem das Schwert hängt, und ich habe mir den Mantel übergeworfen, den sie einst trug, als sie in meine Taverne kam. Er ist unversehrt. Er wird mich eine Zeit lang unsichtbar machen, doch irgendwann wird mich jemand finden.
Draußen tobt ein Schneesturm, so heftig, dass man die Hand nicht vor Augen sehen kann. Ich höre seine Stimme. Sie ruft nach mir.
Ich öffne die Tür, lecke den Schnee, der sofort meine Lippen benetzt. Die Flocken wirbeln um mich herum, hüllen mich ein.
Wieder höre ich das Geräusch des Sturmes, der sich Einlaß in meine Taverne verschafft, wieder spüre ich den Windhauch, der mich erschauern lässt.
Es ist wie damals, und doch so anders.
Ich werde nun meine letzte Reise antreten, ohne zu wissen, wohin sie mich führt. Während ich an sie denke, umklammere ich den Griff des Schwertes und trete hinaus in den Schnee.
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