Interview: Robert Charles Wilson
 
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Bücher haben immer noch Bedeutung

Im Gespräch mit Robert Charles Wilson

 

Redakteur: Markus Mäurer

 

Robert Charles Wilson ist einer der spannendsten SF-Autoren Nordamerikas. Romane wie Spin oder Die Chronolithen haben ihn auch in Deutschland berühmt gemacht, Grund genug für unseren Redakteur Markus Mäurer ihn in einem Interview näher unter die Lupe zu nehmen.

 

FantasyGuide: Hallo Robert, danke, dass du ein wenig Zeit für uns übrig hast. Kannst du uns bitte ein wenig über dich erzählen?

 

Robert Charles Wilson: Ich wurde in Kalifornien geboren, lebte aber den Großteil meines Lebens in Kanada und wurde zu guter Letzt vor einigen Jahren kanadischer Staatsbürger. (Wenn mich die Leute fragen, ob ich mich selber als Kanadier oder Amerikaner sehe, zitiere ich normalerweise Mark Twain: „Ich habe die Moral des Südens und die Kultur des Nordens, und das ist die Kombination, die den idealen Mann ausmacht“). Ich habe zwei erwachsene Kinder und war zweimal verheiratet. Ich lebe außerhalb von Toronto/Ontario mit meiner Frau Sharry, die als professionelle Korrektorin arbeitet.

 

FantasyGuide: Laut deiner Homepage bist du seit 1986 ein „professioneller Vollzeitschriftsteller“. Was hast du vorher gemacht?

 

Robert Charles Wilson: Den längsten und interessantesten Job habe ich als Transkribtionist für die Ontario Human Rights Commission (Kommission für Menschenrechte von Ontario) gemacht. Es war eine tolle Arbeit für einen aufstrebenden Autor. Hauptsächlich kamen Leute zur Kommission und haben sich über Rassismus am Arbeitsplatz beschwert. Die Interviews wurden aufgezeichnet und ich habe sie transkribiert (aufgeschrieben). Ich habe dabei eine Menge darüber gelernt, wie die Menschen reden und wie Dialoge auf einer Seite aussehen; wie Nuancen wie Punktion unglaublich wichtig werden. Ich habe auch etwas über die dunkleren Seiten der menschlichen Natur gelernt.

 

FantasyGuide: Wie hast du deinen ersten Verlag gefunden und war es schwierig?

 

Robert Charles Wilson: Es war fast unangenehm einfach. Ich hatte eine Kurzgeschichte an Shawna McCarthy verkauft, als sie Asimov’s Science Fiction Magazine herausgab. Kurz nachdem sie Asimov’s verlassen hat, wurde sie Herausgeberin bei Bantam. Sie erinnerte sich an meine Geschichte und fragte mich, ob ich an etwas in Romanlänge arbeiten würde. Das tat ich nicht, aber log und sagte ja klar… Das war die Entstehung meines ersten Romans A Hidden Place (nicht auf Deutsch erschienen).

 

FantasyGuide: Bist du auch schon SF-Leser gewesen, bevor du selber angefangen hast SF zu schreiben, und liest du aktuelle Science Fiction? Wenn ja, was kannst du uns empfehlen?

 

Robert Charles Wilson: Science Fiction hat mich schon seit meiner Kindheit fasziniert, und ich war immer ein gieriger Leser. Ich lese jetzt weniger als damals. Nicht weil ich es weniger liebe, sondern weil es noch so viel mehr zu lesen gibt. Von aktuellen Autoren mag ich China Mieville, Paolo Bacigalupi und einige Autoren, deren Arbeit sich an der Grenze zur SF bewegt, wie z. B. Michael Chabon oder David Mitchell, dessen Roman Cloud Atlas (Der Wolkenatlas) wirklich großartig ist.

 

FantasyGuide: Kannst du uns bitte den Entstehungsprozess eines deiner Bücher beschreiben?

 

Robert Charles Wilson: Es funktioniert eher intuitiv als methodisch. Wenn eine richtig gute Idee zuschlägt, ist es ziemlich offensichtlich. Ich mag es, wenn Ideen für neue Projekte durchsickern, während ich noch an einem Buch arbeite. Aktuell beende ich gerade Vortex, das letzte Buch der Spin Sequenz. Aber worauf ich jetzt wirklich schon freue, ist ein Buch, das ich womöglich Logos nenne – eine Art seltsamer Alternativgeschichte, in der, während Menschen gerade die ersten Radiowellen entdecken, es bereits eine Radio Station gibt, die bereits sendet.

 

FantasyGuide: Parallel zu Julian Comstock habe ich auch Howard Zinns Eine Geschichte des amerikanischen Volkes gelesen und einige Übereinstimmungen gefunden. Nicht nur in den historischen Fakten sondern auch in Perspektive, aus der du die Situation beschreibst. Ist die amerikanische Revolution, die Zeit, die dich am meisten für diesen Roman inspiriert hat?

 

Robert Charles Wilson: Eigentlich war es der Bürgerkrieg, der mich inspirierte. Nicht der Krieg selber - das ist ein ziemlich weitschweifiges Thema, das immer noch viele Amerikaner quält – aber die kulturelle Geschichte dieser Ära, mit all ihren grellen Widersprüchen und moralischem Wahnsinn. Ich begann die populäre Literatur dieser Zeit zu lesen, nicht die Klassiker wie Melville und Hawthorne, sondern obskure und vergessene Autoren, die in ihrer Zeit sehr erfolgreich gewesen sind. Z. B. Oliver Optic, der Abenteuerliteratur schrieb. Diese Bücher sind kaum große Literatur, aber als kulturelle Artefakte sind sie enorm aufschlussreich.

 

Howard Zinn bietet einige nützliche Gegenpunkte zur üblichen patriotischen Historie der Vereinigten Staaten, aber er kann auch ein wenig einseitig sein. Während meiner Recherchen für Julian Comstock dachte ich von den USA nicht als ein Utopia (obwohl es mehr hat, als nur seinen Anteil an utopischen Bestrebungen) oder Dystopia (wo ein beträchtlicher Teil seiner Bevölkerung wirklich versklavt war) sondern als ein Utopia und Dystopia, eingeschlossen in einer blutig sinnlichen Umarmung.

 

FantasyGuide: Die Macht des geschriebenen Wortes ist in dieser Geschichte sehr wichtig. Die Schriften von Adam und deren Wirkung auf die Menschen erinnern mich an die Schriften von Thomas Payne, die große Bestseller waren und einer der größten Einflüsse auf die Revolution waren. Denkst du, dass ein Buch auch heute noch eine große soziale oder historische Veränderung herbeiführen kann?

 

Robert Charles Wilson: Wenn ich an Bücher und soziale Veränderungen in Amerika denke, fallen mir spontan zwei gegensätzliche Titel ein: Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin (Onkel Toms Hütte), welches die weiße abolitionistische Bewegung entfacht hat und eine enorme Kraft für eine positive soziale Veränderung war; und Thomas Dixons 1902 erschienenes The Leopard’s Spots , einem riesen Bestseller, der mit dem größtvorstellbaren Rassismus spielt und den Ku Klux Klan romantisiert. Stowes Buch machte Befreiung zu einer plausiblen Idee für Millionen von Amerikanern; Dixons Buch (und seine Fortsetzung The Clansman) unterstützten die Rassentrennung und die systematische Entrechtung der Schwarzen und machten die Sklavenbefreiung zu einem hohlen Sieg.

 

Die heutige Kultur ist vielfältiger, und es ist schwer vorstellbar, das ein einzelner Titel solchen Einfluss hatte. Aber wie viel trugen z. B. die Romane von Tom Clancy zur Kriegsstimmung in der Bush-Ära bei. Bücher haben immer noch Bedeutung.

 

FantasyGuide: Die Amerikansiche Revolution war eine Revolution von reichen, weißen, mänlichen Amerikanern, und alle Präsidenten von George Washington bis zum 10ten Präsidenten John Quincy Adams waren „Aristokraten“. Denkst du, dass sich die Situation heute geändert hat?

 

Robert Charles Wilson: Ich habe an anderer Stelle gesagt, dass das Gespenst das Amerika heimsucht nicht Diktatur sondern Aristokratie ist. Aber da gibt es auch die ehrwürdige amerikanische Tradition Aristokratien teilweise und Autoritäten im Allgemeinen zu misstrauen. Amerika hat also eine lange Tradition von progressiven und „freidenkenden“ Bewegungen.

 

FantasyGuide: In “Julian Comstock” ist alles digitale Wissen verloren. Alles, was übrig ist, steht in Büchern geschrieben. Was denkst du über die aktuelle Digitalisierung unseres Wissens (wie z.B. im „Google Book Search Project“)? Ist diese „Monopolisierung“ von Wissen eine gefährliche Entwicklung, wie sie auch in deinem Roman durch das Dominion geschieht?

 

Robert Charles Wilson: Ich fühle mich nicht wirklich qualifiziert, um diese Frage zu beantworten. Ich verstehe, dass es Kräfte gibt, die es begrüßen, neue Wege der Monopolisierung (und der Gebührenerhebung) zu finden, für das, was wir „den freien Austausch von Ideen“ nennen.

 

FantasyGuide: Die nächste Frage tauchte bei einem Lesezirkel auf, den wir in einem Science Fiction Forum gemacht haben. Warum hast du die französischen und niederländischen Sätze nicht übersetzt, und wie konnte Adam sich an sie erinnern, wenn er sie nicht verstanden hat?

 

Robert Charles Wilson: Die französischen und holländischen Passagen wirkten einfach noch lustiger in Adams Unverständnis. Ich denke der durchschnittliche Leser kann sie mehr oder weniger entschlüsseln (oder sie im Internet übersetzen lassen, falls nötig). Die Frage „Wie konnte sich Adam an sie erinnern, obwohl er sie nicht verstand?“ wird auf den letzten Seiten des Buches beantwortet. Die Holländischen kann er direkt aus den Briefen des Holländers, die er immer noch besitzt, zitieren. Die französischen Sätze bekommt er von Calyxa – und ich vermute, dass sie sich ein wenig über sich selbst lustig macht.

 

FantasyGuide: Eine andere Frage, die im Lesezirkel auftauchte: Warum heißt der Roman “Julian Comstock“ obwohl eigentlich „Adam Hazzard“ die zentrale Figur ist?

 

Robert Charles Wilson: Adam ist natürlich die zentrale Figur, aber glaubt selber nicht, dass er es ist. Was Adam angeht, ist es Julians Geschichte. Er wäre nie so egozentrisch, ein Buch nach sich selbst zu benennen.

 

FantasyGuide: Denkst du, dass man das man die beschriebene Dominanz des Kreationismus mit Büchern wie “Julian Comstock” bekämpfen kann? Oder wolltest du nur die möglichen Konsequenzen aufzeigen?

 

Robert Charles Wilson: Ich wollte die gequälten Darwinisten unterstützen und die bequemen Kreationisten quälen. (“I wanted to comfort the afflicted Darwinists, and afflict the comfortable Creationists” [ein Wortspiel, das sich nicht so einfach übersetzen lässt – Anmerkung des Übersetzers])

 

FantasyGuide: Ist das Buch, mit seinem Ende, nicht zu pessimistisch?

 

Robert Charles Wilson: Für mich nicht. Historische Veränderungen haben ihren Preis. Ich konnte kein plausibles Buch schreiben, in dem Julian das Domion niederwirft und ein neues Zeitalter der Vernunft einleitet. Und das Vorbild, das ich für Julian nahm, war der römische Kaiser Julian der Abtrünnige, dessen Geschichte kein gutes Ende nahm.

 

FantasyGuide: Eine Frage von einem meiner Kollegen: Parallelen zu Thomas Pynchons Gegen den Tag weckten in mir die Frage, wie sehr das 19. Jahrhundert in den USA, als eine Gesellschaft nachwirkt, die einer urtümlicheren Freiheit des Individuums verpflichtet war, und war das dein Ansatz, diese Epoche als Grundlage seiner "neuen" Zukunft zu wählen?

 

Robert Charles Wilson: Ich wollte über eine Zeit der Widersprüche und Paradoxa schreiben, und ich wollte es mit einer sehr amerikanischen Stimme tun. Das brachte mich ins 19. Jahrhundert.

 

FantasyGuide: Genug Beckmesserei. Was sind deine nächsten Projekte?

 

Robert Charles Wilson: Vortex beenden und Logos schreiben.

 

FantasyGuide: Mr. Wilson, danke für das Interview.

 

Robert Charles Wilson: Gern geschehen.

 

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Erstellt: 25.11.2009, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 9637