König der Dämmerung, Königin des Lichts von Ian McDonald
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Eine rätselhafte, poetische Geschichte von drei wunderbaren Frauen: Sie beginnt 1913, als die junge Emily mythische Figuren zum Leben erweckt, die fortan sie und ihre Nachkommen Jessica und Enye begleiten. Die drei Frauen dringen in das dunkle, lebendig gewordene Reich ihres Unterbewusstseins ein, das ihre reale, hektische Welt des 20. Jahrhunderts überlagert und verändert. Auf unterschiedlichste Weise versuchen Emily und ihre Nachfahren sich der Mächte ihrer eigenen Traumzeit zu erwehren. Während die eine den mythischen Wesen nachgibt, versucht die andere, ihnen zu entkommen. Die dritte hingegen bekämpft sie mit Drogen und einem Samurai-Schwert.
Rezension:
Ian McDonald ist für seine Science-Fiction Romane bekannt, erntete jedoch für seinen 1991 erschienen Fantasy-Roman König der Dämmerung, Königin des Lichts großes Lob und gewann mit ihm den Philip K. Dick Award in der Kategorie Best Collection.
Tatsächlich kann man »König der Dämmerung, Königin des Lichts« als eine Sammlung von dreieinhalb Geschichten verstehen, oder wie es im Nachwort in Zitatform angedeutet wird, als dreibändigen Fantasy-Roman. Dabei wechselt von Band zu Band nicht nur die Handlungszeit, sondern auch wie im Klappentext erwähnt, die Protagonistin. Von Emily über Jessica bis zu Enye bleiben wir in der Familie Desmond, wobei jeweils eine Generation übersprungen wird und sich die Nachnahmen ändern. Die Verbindung über die mütterliche Blutlinie erinnert an das ferne Matriarchat der Urzeit. Die Macht, Realität und Traumwelt zu beherrschen, zu verändern und auch zu zerstören, geht weit über jene Fähigkeiten hinaus, über die die männlichen Figuren verfügen.
Im ersten Teil Craigdarragh lernen wir Emily Desmond kennen. Ein junges, viktorianisches Mädchen mit einer riesigen Fantasie. Eine Alice in ihrem eigenen Wunderland. Sie träumt von mythischen keltischen Wesen, Fee, Trolle, Elfen, der wilden Jagd, von belebter Natur und unbändiger Macht in einer Welt, die parallel zu unserer existiert und die in den Zeiten der Sonnenwenden überlappen. Im nahen Bridestone Wood kann sie sie sehen, mit ihnen reden und sogar Fotos schießen. Emily ist von dieser Welt fasziniert, fühlt sich angezogen vom wilden Wesen der dortigen Natur, von den unbändigen Gestalten, die so völlig anders sind, als ihr Leben im Hause eines Astronomen und einer verstoßenen Adligen in Irland kurz vor dem ersten Weltkrieg. Dabei vermischt sich ihre pubertäre Aufgewühltheit mit dem Zerbrechen ihrer Familie. Das Drama entwickelt sich aus der Beobachtung ihren Vaters, der bei einem Kometen Lichtsignale entdeckt, die er einer Intelligenz zuordnet. Der Bau eines riesigen Lichtsignalgebers in der nahen Meeresbucht zwingt ihn dazu, sich zu verschulden. Im Clymax des ersten Teils wird Emily Opfer eines Angriffs und sie flieht, schwanger.
Dass sie jene mythische Welt, den Mygmus, nicht nur betritt, sondern auf eine Art öffnet, ist ihr nicht bewusst.
Das alles erfahren wir aus Tagebucheinträgen, Briefen, Zeitungsartikeln und Interviews. Stets wandern die Ereignisse an einer sehr subjektiven Wahrnehmung entlang, sodass eine tatsächliche Interpretation der Ereignisse schwer möglich ist.
Der zweite Teil, Die Mythenlinien spielt Anfang der dreißiger Jahre in Dublin.
Jessica Caldwell ist eine rebellische junge Frau auf der Suche nach ihrem Traumpartner. Sie trifft ihn in der Straßenbahn. Er fasziniert sie sofort und er ist Mitglied des aktiven Kerns der IRA.
Da ihr Drang nach Unabhängigkeit gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstößt, nötigt ihre Familie sie, den Psychologen Dr. Rooke aufzusuchen. In mehreren Sitzungen offenbart sich ihm das Schicksal von Emilys Tochter.
In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir die seltsamen Vagabunden Tiresias und Gonzaga kennen. Sie ziehen durchs Land, folgen den alten und neuen Mythenlinien des Mygmus und versuchen, eine gefährliche Kraft zu neutralisieren, die derjenigen schaden will, deren Schutz sie übernommen haben: Jessica. Jene Manifestationen von Träumen, Legenden und Mythen nennen sie Phagusse.
Während die Handlungsbögen von Jessica sowie von Tiresias und Gonzaga ganz klassisch von einem neutralen Erzähler berichtet werden, begeben wir uns durch den persönlichen Bericht des Psychologen Dr. Rooke direkt in die Innensicht einer der Figuren. Dadurch erleben wir nicht nur die Hypnose-Sitzungen sehr intensiv mit, der wissenschaftliche Ton der Aufzeichnungen vermittelt auch einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit der Ereignisse.
Jessica selbst versteht ihre Tagträume selbst zunächst überhaupt nicht. Wenn sie sich in einen Vogel versetzt und dessen Perspektive einnimmt, erscheint dieses Phänomen zunächst als eine sehr intensive Art des Träumens, Visionen von besonderer Stärke, gänzlich ohne den Einfluss von Drogen. Sie stellt sich am Ende der Aufforderung ihrer Mutter, zu ihr zu kommen. Doch Jessica will sie selbst sein. Will leben und selbst darüber entscheiden, wie dieses Leben aussehen soll.
Der kurze dritte Teil Coda Spätsommer zeigt Jessica dabei, wie sie mit Owen McColl auf einem Bett aus Moos und Heidekraut fernab der Stadt Mutter wird.
Eine Generation wird übersprungen. Teil 4, Shekinah gehört ganz Jessicas Enkelin Enye. In schwarzer Ledekluft. mit zwei japanischen Schwertern, die sie an einen Computer anschließen kann und so Runen zum Leben erweckt, die ihre Stärke potenziert und unter dem Einfluss von Shekinah, einer selbst gebrauten Droge, jagt sie Phagusse jeder Art.
Nach und nach erfahren wir in Rückblenden, wie aus der Werbetexterin eine kaltblütige Kriegerin wurde. Dabei kehren wir auch zu Jessica zurück, bei der Enye als kleines Mädchen lange Wochen verbrachte, wenn es zu Hause Ärger gab. Das Mädchen spielt in der bunten Gartenlandschaft der Großmutter, die dort unterschiedliche Arten von Gärten erschuf, angefüllt mit Blumen und Dingen. Enye bevölkert die Gärten mit Lebewesen, ganze Völkern und ihrer Geschichte, ein eigenes mythisches Reich. Später erbt sie von ihrer Großmutter ein unvollendetes Manuskript.
So verschlingen sich Vergangenheit und Gegenwart immer dichter. Der Kampf gegen die Phagusse wird zu eine Mission, deren Ziel die Heilung der mit den Mythenwesen verseuchten Welt wird. Im Finale geht Enye in den Bridestone Wood, um sich ihrem Widersacher zu stellen. Doch hier findet sie nicht nur Erklärungen zu ihrem eigenen Trauma, sie findet vor allem den Ursprung der Mythen, die sich seit vier Generationen manifestieren.
Genau dieses Entstehen von Mythen, ihre Transformation, ihre Auswirkungen auf die Leben derjenigen, die sich mit ihnen befassen, stellt Ian McDonald in das Zentrum seiner ungewöhnlichen Fantasy-Familiensaga. Und noch ungewöhnlicher ist die klare Konzentration auf Frauenfiguren. Dabei klingt immer wieder eine Verwandtschaft zu Gabriel García Márquez’ magischem Realismus in Hundert Jahre Einsamkeit an. Auch Ian McDonald verbindet die Identitätssuche seines Heimatlandes mit den Legenden seiner Bewohner, mit der Natur und den mystischen Kräften in ihrer Schöpfungsfreude. Ian McDonald stellt sich jedoch deutlicher in eine Fantasy-Tradition.
Fazit:
»König der Dämmerung, Königin des Lichts« ist mehr als ein Fantasyroman. In seinen besten Passagen verwandelt der Roman die irische Insel mitsamt ihrer Menschen, ihrer Geschichte, dem Land und ihrer Natur zu einem lebendigen atmenden Wesen, einer magischen Einheit.
Nach oben