Leseprobe: Deutschland - Die Gegenwart des Rauschs
 
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Leseprobe: Deutschland - Blutige Kriege & Goldene Jahre - Die Gegenwart des Rauschs

von Steffen Schütte

 

 

_Schlechte Zeiten mehren den Wunsch nach Vergessen. Wilde Zeiten wecken das Bedürfnis nach orgiastischen Ausschweifungen. Beide Zeitströmungen machen die Zwischenkriegsjahre zur hohen Zeit der Droge. Zwar beginnen die Behörden mit ersten Restriktionen, doch noch immer ist der Umgang mit Opium und Kokain, mit hochprozentigem Alkohol, Absinth und sogar Arsen von nahezu kindlicher Naivität. Viele Erwachsene mittleren Alters, die sich in den 1920ern mühen, sich mit einer zu dieser Zeit bereits illegalen Substanz zu versorgen, können sich noch an jene Zeit um 1900 erinnern, als es Laudanum, Äther und andere Rauschmittel noch fast an jeder Ecke zu kaufen gab.

 

Alle Zeiten und Völker kannten berauschende Substanzen. Aber nur die europäische Kultur extrahiert – und konsumiert – den reinen Drogeninhaltsstoff, dessen Wirkung kein Organismus auf Dauer verkraftet. Die Geschichte beginnt mit dem Destillieren von Alkohol aus Wein, setzt sich fort mit der Isolierung von Morphium und Kokain aus Mohnsaft bzw. Cocablättern und wird schließlich mit der ersten Synthese von LSD im Jahre 1943 folgerichtig zu den modernen Designerdrogen führen.

 

 

<typohead type=3>Mohnsaft und Schnee</typohead>

Die beruhigende Wirkung des Mohnsafts kannte schon das klassische Altertum. Eingedickt und als Opium geraucht, potenziert sich die Wirkung dieses Rauschmittels. Opiumhöhlen gab es aber vor allem im Fernen Osten. Im Westen frönten zunächst nur wenige diesem Laster und diese hatten zuvor meist selbst als Seeleute, Soldaten oder Forscher Asien bereist. Viel gebräuchlicher als die Opiumpfeife war im Westen die alkoholische Lösung von Opium, Theriak, später vom Alchimisten Paracelsus mit einem Zusatz von Bilsenkrautexktrakt zum Laudanum „verfeinert“. Trotz seiner stark betäubenden, abstumpfenden und Sucht erzeugenden Wirkung wurde Laudanum nicht nur von Ärzten bereitwillig verordnet. Als Bestandteil zahlreicher „Patentmedizinen“, die noch um die Jahrhundertwende in Drogerien, bei Hausierern oder über den gerade aufblühenden Versandhandel bezogen werden konnten und die Hilfe gegen jegliches Übel von „weiblicher Hysterie“ bis hin zum Alkoholismus versprachen, wurde Laudanum zum heimlichen Laster einer ganzen Generation.

 

Als Friedrich Wilhelm Schlüter 1804 in Einbeck und Hameln aus Opium erstmals reines Morphium isolierte, stand der Medizin ein erstes wirksames Schmerzmittel und den Abhängigen eine im Vergleich zum Laudanum nochmals verstärkter Droge zur Verfügung. Aber erst der Große Krieg verhilft dem Morphium zum therapeutischen Durchbruch. Dabei tragen die Ärzte und der Krieg in einer unheiligen Allianz auch zur Vervielfachung der Zahl der Süchtigen bei. Wer als Verwundeter oder Versehrter die Feldlazarette des Großen Kriegs überlebt, hat nicht selten derart hohe Dosen an Morphium gegen seine Schmerzen verabreicht bekommen, dass ihn die Sucht nach dieser Substanz für den Rest seines Lebens begleiten wird.

 

Wirken Opium, Laudanum und Morphium schlicht betäubend, stachelt Kokain die Sinne bis aufs Äußerste an. Um 1860 von Albert Niemann in Göttingen erstmals aus Cocablättern extrahiert, mutierte der „Koks“ schnell zur Modedroge der Kreativen, der Macher und natürlich vor allem jener Schickeria, die zu allen Zeiten echte und Möchtegern-Künstler als treue Gefolgschaft umschwärmt. Wieder war der Einsatz von Cocablättern und deren Extrakt zunächst von kindlicher Unbefangenheit. Nicht nur Sherlock Holmes spritzte sich gelegentlich eine Lösung dieser Droge, Sigmund Freud empfahl sie zumindest noch vor dem Krieg als Medikament, und selbst Coca Cola verdankte seinen Namen dem Kokain als Bestandteil ihres „Geheimrezepts“.

 

Nach dem Weltkrieg wird die Gefahr anders eingeschätzt, die Verwendung von Kokain wird illegal – und damit für viele besonders spannend. In speziellen Kaschemmen, sogenannten „Kokskellern“, herrscht in der Zwischenkriegszeit ein wildes Schneegestöber. Nur die begabtesten Kulturschaffenden bemerken, dass der Schaffensrausch des Kokains nichts ist als Illusion. Was an Talent und Vision nicht schon in einem steckt, wird keine Droge erschaffen und hervorlocken können.

 

 

<typohead type=3>Die Laster der Ärzte</typohead>

 

Nicht nur Morphium und Kokain sind Substanzen, die aus dem medizinischen Gebrauch in die Kreise der Drogenkonsumenten gelangten. Und oft sind es Ärzte, Krankenpfleger, Drogisten, Apotheker und Krankenschwestern, die diesen Rauschmitteln als Erste verfallen. Die ersten Betäubungsmittel der Medizin waren Äther und Chloroform, schwer zu dosieren und giftig, aber auch billig und – für Angehörige der Heilberufe – leicht zu beziehen. Der Äther hat hier die weiteste Verbreitung, ist er doch noch um die Jahrhunderwende in ländlichen Gegenden in Nord-, Mittel- und Osteuropa auf Jahrmärkten als billiger Alkoholersatz ausgeschenkt worden. Und ein Äther-Alkohol-Gemisch ist noch in den Zwischenkriegsjahren unter dem Namen Hoffmann’sche Tropfen ein beliebtes „Stärkungsmittel“. Äther wird ansonsten geschnüffelt oder getrunken, während das giftigere Chloroform ausschließlich inhaliert wird. Als neues gasförmiges Rauschmittel kommt schon bald das Lachgas (Distickstoffoxid) hinzu. Und auch der Dampf des Benzins – das zunächst als „Chemikalie“ ebenfalls in Apotheken bezogen werden musste! – findet „seine“ Liebhaber. Meist empfinden sich Äthertrinker und Chloroformisten, Stickoxidatmer und Benzinschnüffler übrigens nicht als „Süchtige“. Das ist bei den Anhängern der Volksdroge Alkohol schon anders.

 

 

<typohead type=3>Die Grüne Fee</typohead>

 

Um kein alkoholisches Getränk ranken sich derart zahlreiche Legenden wie um den Absinth. Kein Branntwein erscheint den Zeitgenossen gefährlicher, gesundheitszerstörender, Sucht erzeugender. Zur Zeit des Weltkriegs – lange vor der amerikanischen Prohibition – ist das Getränk sowohl in Europa als auch den USA verboten. Was seinen Nimbus natürlich noch fördert.

 

Absinth ist eine hochprozentige alkoholische Lösung verschiedener Pflanzenextrakte, allen voran Wermut, gefolgt von Anis und Fenchel. In konzentrierter Form ist Absinth klar, grün – und ungenießbar. Das aus dem Wermut stammende Absinthin ist derart bitter, dass es noch in 70.000-facher Verdünnung herausgeschmeckt werden kann. Um Absinth also genießen zu können, bedarf es einer speziellen Vorbereitungszeremonie: Ein Schuss des Likörs kommt in ein Wasserglas, über dessen Öffnung ein perforierter Löffel mit möglichst viel Zucker liegt. Dieser Zucker wird solange mit Eiswasser übergossen, bis das Glas gefüllt ist. Da nun Wasser der Hauptbestandteil der Mischung ist, die pflanzlichen Extrakte im Absinth sich aber nicht in Wasser lösen, wechselt die Farbe von klarem Grün zu milchigem Weiß.

 

Zeitgenössischen Berichten zufolge wirkt Absinth noch zerstörerischer als Alkohol auf seine Konsumenten. Sind giftige Inhaltsstoffe des Wermut dafür verantwortlich? Nun, der schlechte Ruf des Absinths hat wahrscheinlich weit profanere Gründe. Der bittere Geschmack und eine ursprüngliche Kundschaft, die man bestenfalls als „Lumpenproletariat“ bezeichnen kann, machen es möglich, Absinth zu panschen oder zu strecken. Anstelle von Trinkalkohol wird beispielsweise Industriespiritus verwendet, der Beimischungen von Methanol und Fuselölen enthält. Reicht das pflanzliche Chlorophyll nicht für eine ordentliche Grünfärbung aus, hilft man mit Kupfersulfat, Kupferacetat, Indigo und Anilinfarben nach. Und eine milchige Trübung lässt sich auch mit Antimontrichlorid erreichen. Rasierwasser zu trinken wäre sicher gesünder als der Konsum von solchem Absinth. Doch auch dafür gibt es Abnehmer. Schließlich favorisiert man zur gleichen Zeit in Verbrecherkreisen beispielsweise Brennspritus („Brennabor“) gegenüber Rum und Doppelkorn.

 

Nachdem offizielle Verbote das Absinth-Angebot verknappen und sich herausstellt, dass unter den ursprünglichen, bettelarmen Konsumenten auch später berühmte Künstler wie Vincent van Gogh oder Charles Baudelaire zu finden waren, wandelt sich das Image der „Grünen Fee“ vom Proletenfusel zum Kultgetränk der Schickeria. In diesen Kreisen ist so mancher auf einen Kick aus, der den eines normalen Rauschs übersteigt.

 

Tatsächlich enthält Wermut mit der Substanz Thujon (Absinthol) ein starkes Nervengift mit psychoaktiver Wirkung. Allerdings ist diese Wirkung bislang nur von jenen verspürt worden, die reine Wermutpflanzen konsumierten. Die Thujonkonzentration in reinem Absinth ist bei allen bekannten Herstellungsverfahren verschwindend gering. Und die Wirkung ist eher lebend und betäubend, weniger rauschhaft. Zumindest die moderne Medizin konnte nachweisen, dass die oft fabulierte haschischähnliche Wirkung von Thujon im Organismus nichts als ein Mythos ist. Wer aber trotzdem auf den „abscheulichen Absinth“ als exotisches Rauschmittel nicht verzichten mag – und gäbe es einen besseren Führer in die lovecraftschen Traumlande als die „Grüne Fee“? –, muss einige (natürlich völlig unbewiesene) Hypothesen aufstellen. Vielleicht reichert sich Thujon bei jahrelangem Konsum ja im Organismus des Trinkers an und kann dann sogar zu spontanen „Flashbacks“ führen, wie sie sonst nur von LSD bekannt sind? Angenehme Träume!

 

 

<typohead type=3>Reines Gift</typohead>

 

Es ist erstaunlich, was Menschen zu konsumieren bereit sind, wenn man sie nur richtig motiviert. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war das Essen von Arsenik ein weit verbreitetes Laster. Am erstaunlichsten ist dabei die Tatsache, dass sich der Verzehr dieser hochgiftigen Substanz aus zwei vollkommen unterschiedlichen Traditionen speiste: Zu den Arsenessern zählten einerseits alpenländische Bauersleute, andererseits die großstädtische Partyszene diesseits und jenseits des Atlantik. Es ist tatsächlich möglich, den Organismus langsam an die Aufnahme großer Arsenmengen zu gewöhnen. Das Arsenessen bewirkt (nach anfänglicher Übelkeit) schon bald ein „blühendes Aussehen“, was in erster Linie eine Gewichtszunahme beschreibt. Will also ein knochiger Jüngling rasch ein „gestandenes Mannsbild“, ein magerer Backfisch eine „üppige Schönheit“ werden, half man mit Arsenik nach, das besonders gern auf Speck gestreut verzehrt wurde. Neben der Wirkung des „Anfütterns“ (derer sich auch Rosstäuscher auf Pferdemärkten bedienen) hat Arsen eine generell anregende Wirkung, die mit der von Cocablättern verglichen werden kann. Diese half und hilft den Bauern der Alpen, ihr schweres Tagwerk leichter zu verrichten, während sie den „Dippers“ der Schickeria, die ihr Arsen gern im Kaffee zu sich nehmen, orgiastisches Durchfeiern ganzer Nächte erlaubt. Natürlich endet die Selbstmedikation mit einem tödlichen Giftstoff sowohl auf dem Lande als auch in der Großstadt nicht selten im Leichenschauhaus. Doch es dürfte eher die Tatsache sein, dass Gewichtszunahme heute nicht mehr mit einem „blühenden Aussehen“ gleichgesetzt wird, die Arsen aus dem zeitgenössischem Drogenkabinett verbannt hat.

 

 

<typohead type=3>Die Lasterhöhle</typohead>

 

In einem unansehnlichen vierstöckigen Gebäude der Flottwellstraße befinden sich zwei Keller. In dem einen wird ein Produktengeschäft betrieben, dessen zwei schwarze Tafeln links und rechts vom Eingang, mit weißer Kreide, linkisch geschrieben, die neuesten Preise für Lumpen, Papier und Altmetalle enthalten, während der andere Keller, dessen tiefliegendes Fenster mit schmutzigweißem Stoff behängt ist, oberhalb des Einganges auf einem verwitterten Schild die Aufschrift trägt: Bouillon und Kaffee zu jeder Tageszeit. Darunter in unauffälliger kleiner Schrift: Inh. Robert Mürich.

 

Die "Bouillon", die hier zum Verkauf gelangt, muss nach dem Aussehen und Benehmen der Gäste von ganz besonderer Beschaffenheit sein, denn die Männer und Weiber im bunten Durcheinander machen den Eindruck, als ob sie, plötzlich von einer Krankheit befallen, schwach und fiebernd hier ihre Genesung oder ihren Tod erwarten.

 

Das Tageslicht dringt nur sehr spärlich in dieses fast unterirdische Gewölbe. Eine Gaslampe, die von der verräucherten Decke herabhängt, verbreitet mit der weiblichen Flamme des zerrissenen und dauernd hin und her pendelnden Glühstrumpfs nur eine matte und unbeständige Helligkeit.

 

Was sich in dem Raum an Schmuck und Inventar befindet, ist schmutzig, verbraucht und morsch, wie die Menschen, die auf den Bänken längs der Wände sitzen, hocken, liegen oder vornübergebeugt die Tischplatte als Stütze für Kopf und Arme verwenden.

 

Diese merkwürdige Gaststätte wird im Kreise der eingeweihten Besucher "der Kokskeller" genannt, was mit dem Brennstoff nichts zu tun hat, sondern von Kokain abgeleitet ist. Und alle Gäste, die hier verkehren, haben nicht das geringste Bedürfnis nach Bouillon oder Kaffee, sondern nur nach Kokain und Morphium, welche Gifte ihnen von dem ebenso geschäftsgewandten wie gewissenlosen Wirt in jeder gewünschten Menge und natürlich zu sehr hohen Preisen verabfolgt werden.

 

Es wäre irrig anzunehmen, dass solche "Narkomanen", wie man Kokainisten und Morphinisten wissenschaftlich bezeichnet, den wohlhabenden Ständen angehören. Zweifellos ist der größte Teil von ihnen aus besseren Gesellschaftskreisen hervorgegangen, aber die unglückselige Manie hat ihnen im Laufe der Zeit die klare Überlegung und den Besitz geraubt. Alle geistigen Eigenschaften nur auf die Erlangung der betäubenden Gifte gerichtet, hat sich bei diesen bedauernswerten Naturen schließlich der Sinn für materielle Werte und für jede sittliche Weltanschauung von selbst ausgeschaltet. Sie sind sich deshalb auch nicht bewusst, dass ihre krankhafte Leidenschaft von denen, die sie selbst für ihre Wohltäter halten, in schmählicher Weise ausgebeutet wird. Und sie entledigen sich, wenn es erforderlich ist, ihres letzten Besitztums und der notwendigen Kleidungsstücke, scheuen auch vor Diebstahl und Verbrechen nicht zurück, lediglich, um sich das Rauschgift zu beschaffen. Geistig und körperlich heruntergekommen, erwecken sie auch äußerlich den Eindruck verkommener Menschen, wenn nicht nahe Verwandtschaft oder Freunde dafür sorgen, dass ihnen die anständige Kleidung erhalten bleibt.

 

Die Wirkung der Gifte ist äußerlich sehr verschieden. Das Kokain, das gewöhnlich in Pulverform geschnupft wird, erzeugt entweder einen rauschähnlichen Betäubungszustand oder angenehme Träume, also eine Geistesabwesenheit und Loslösung von jeder irdischen Bedrückung. Psychopathisch veranlagte Menschen ohne seelische Hemmungen sind in den meisten Fällen infolge eines gemüterschütternden Ereignisses oder eingebildeter seelischer Qualen der Kokainleidenschaft zum Opfer gefallen. Bisher ist die Wissenschaft dieser Manie gegenüber machtlos geblieben. Eine vorübergehende Entziehung hat nur eine gegenteilige Wirkung gehabt. Mit ganz geringen Ausnahmen gehen diese haltlosen Menschen in verhältnismäßig kurzer Zeit zugrunde; dem Verfall des Nervensystems folgt der Verfall des gesamten Organismus, die Widerstandskraft erlahmt, und sie unterliegen den harmlosesten Krankheiten, falls sie nicht schon vorher durch geistige Umnachtung den bürgerlichen Tod gefunden haben.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Morphium. Dieses Gift besitzt die Eigentümlichkeit, körperliche Schmerzen zu beseitigen, ärztlich angewendet wird es daher zum Wohltäter der Menschheit. In irgend einem Fall ist der Morphinist immer durch den Arzt in Berührung mit dem Gift gekommen. Die psychopathische Veranlagung, ähnlich wie bei den Kokainisten, hat ihn allmählich dazu getrieben, die durch eine Morphiumspritze im Körper erzeugte Behaglichkeit zu wiederholen, und infolge der geistigen Hemmungslosigkeit ist diese ursprünglich nur gelegentliche Anwendung des Giftes schließlich zu einer sinnlosen Leidenschaft ausgeartet. Da sich der Körper allmählich an das Gift gewöhnt, sind immer größere Mengen erforderlich, um den Rauschzustand zu bewirken.

 

Gewohnheitsmorphinisten verbrauchen daher täglich eine so große Menge von Morphium, dass man viele Lebewesen damit vernichten könnte. Und ebenso wie bei der Kokainsucht enden solche Menschen im Irrenhaus, falls sie nicht schon vorher infolge mangelnder Widerstandskraft an einer Krankheit zugrunde gegangen sind.

 

Die "Narkomanen", die den Kokskeller zum Tummelplatz ihrer absonderlichen Leidenschaft erwählt haben, gehören dem jugendlichen Alter oder den mittleren Lebensjahren an. Wenn sich Greise unter ihnen befinden, so kann mit Sicherheit angenommen werden, dass die Rauschsucht noch nicht lange von ihnen Besitz ergriffen hat.

 

Das Bild, das sich dem gesunden Beschauer an dieser Stätte menschlicher Verirrung bietet, ist nicht nur wegen der hohlwangigen und zur Leblosigkeit fast erstarrten Erscheinungen grausig und erschütternd, sondern mehr noch durch die unheimliche Ruhe, die einem Grabgewölbe gleicht. Man glaubt, den Verwesungsgeruch von Leichen einzuatmen oder das leise Röcheln Sterbender zu vernehmen.

 

Wie lange die "Narkomanen" in diesem Zustand im Kokskeller verbleiben, hängt von der Menge des eingenommenen Giftes ab. Bei einigen dauert der Rausch nur kurze Zeit, bei anderen einige Stunden. Ebenso verschieden sind die Folgen der Betäubung. Nicht wenige dieser unglücklichen Menschen sind nach dem "Erwachen" so schwach, dass sie noch Stunden der Ruhe bedürfen, um dann schleppenden Ganges den Heimweg anzutreten. Andere erheben sich mit dem Rest ihrer Energie, taumeln wie Betrunkene, tasten sich wie Blinde die Kellertreppe hinauf und schleichen an den Häuserreihen entlang. Bei vielen ist die körperliche Widerstandskraft schon so gebrochen, dass sie nach einigen Versuchen, sich auf der Straße zu bewegen, wieder in den Kokskeller zurückkehren und sich von Neuem in den lethargischen Zustand versetzen.

 

Im Vergleich zu den schemenhaften Gästen des Lokals, die wie lebende Leichname wirken, erscheint Herr Robert Mürich, der geldlüsterne Spender der verhängnisvollen Gifte, wie das blühendste Leben.

 

von Adolf Sommerfeld: Die Tanzdiele am Kurfürstendamm, Berlin 1923

 

Quelle: Pegasus Spiele

 

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Erstellt: 31.12.2005, zuletzt aktualisiert: 24.02.2015 18:11, 1699