Martin Eden von Jack London
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Der Matrose Martin Eden verliebt sich in die aus wohlhabendem Hause stammende Ruth. Um die gebildete junge Frau für sich zu gewinnen, wird er zum Autodidakten. Dabei entdeckt er seine Liebe zum Schreiben und beschließt, sein Glück als Schriftsteller zu versuchen. Doch kann er seinen Traum verwirklichen?
Rezension:
Anlässlich des hundertsten Todestages von Jack London setzt der dtv seine Reihe mit Neuübersetzungen des amerikanischen Autors mit dem autobiographisch geprägten Roman Martin Eden fort.
Als Übersetzer steuerte Lutz-W. Wolff ein umfangreiches Nachwort und Anmerkungen bei, die wohl zur besseren Lesbarkeit im Roman selbst nicht markiert wurden. Ergänzt wird die hochwertige, leinengebundene Ausgabe mit einer für dtv-Klassikerausgaben gewohnten Zeitleiste, die den Roman in das Leben Jack Londons einordnet.
Der Stellenwert des Romans wird durch seine autobiographischen Züge geprägt. Dabei sind die Parallelen zwischen Martin Eden und Jack London eher punktuell.
Martin Eden ist Matrose und gewohnt, sich auch mit den Fäusten durchzusetzen. Daher springt er auch ohne groß nachzudenken einem jungen Mann in einer Prügelei zu Hilfe, der ihn daraufhin als Retter in sein gutbürgerliches Vaterhaus einführt.
Unsere erste Begegnung mit Martin Eden zeigt ihn uns, wir ehrfürchtig und staunend in die bourgeoise Welt eindringt. Sein schaukelnder Gang lässt ständig befürchten, dass er irgendwelchen Nippes von den Schränkchen und Bords schupst und diese Angst beunruhigt ihn sehr. Die ganze Welt der reichen Familie erstrahlt für ihn in schönstem Licht, kein Wunder, dass er sich prompt in die schöne Tochter des Hauses verliebt. Ruth studiert Englisch an der Universität und erscheint ihm durch ihre Klugheit wir das perfekteste Geschöpf auf Erden. Zwar liest Martin Eden in seiner Freizeit auch Bücher, aber eben nur das, was an Bord zu finden ist.
Der Besuch im Hause der Morse eröffnet ihm einen kleinen Blick in die Welt des Wissens und der Liebe. Mit einem grenzenlosen Hunger nach beidem beschließt er, sein Wissen, seine Sprache, seinen Stil selbst zu verbessern. Ruth wird ihm Lehrerin, die städtische Bibliothek eine unersetzliche Quelle der Weisheit. Bald drängt es ihm, selbst zu schreiben und er entdeckt in sich die Fähigkeit, auf eine ganz andere Weise zu denken und zu schreiben, als er es in den Zeitungen und Magazinen vorfindet.
Mit den fortschreitenden Kenntnissen wird auch sein Benehmen feiner und dennoch bleibt er voller Kraft und Lebendigkeit, die auch zunehmend Ruth fesselt. Doch Martin entwickelt sich bald über das hinaus, was ihn am Leben der Familie Morse einst faszinierte.
Der überragende Intellekt von Martin Eden lässt ihn erkennen, dass das bürgerliche Bildungsideal nicht in umfänglichem Wissen oder Streben nach neuen Erkenntnissen begründet ist. Vielmehr besteht es aus Traditionen, Konventionen und ist vor allem äußerst statisch. So wie Ruth in den Momenten, da sie Martins Gedanken nicht mehr folgen kann, ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es an seiner Unkenntnis liegt, so steckt auch ihr Vater in seinem Weltbild fest, das im Wesentlichen aus Plattitüden besteht. Echtes Wissen etwa über die sozialdarwinistischen Ideen von Herbert Spencer, erlangt er nicht durch die Lektüre, sondern wiederholt Gehörtes oder mutmaßt einfach.
Martin hingegen verschlingt jede Idee und prüft sie immer wieder gegen andere theoretische Ansätze und vor allem stellt er sie stets gegen seine eigenen, so wilden wie auch belebenden Erfahrungen.
Dabei wechselt er ganz langsam zum Nietscheaner und sieht sich als siegreiches Produkt der Evolution. Jack London bringt dabei nicht nur die entsprechenden philosophischen Lehren in den Überlegungen seiner Hauptfigur unter, er unterzieht sie auch einer sehr kritischen Betrachtung.
Martin Eden verliert durch seine Weltsicht nicht nur die Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, sondern schlussendlich jede Motivation.
Mag die kritische Auseinandersetzung mit Individualismus und sozialdarwinistischem Gedankengut, und damit auch eine kleine feine Breitseite gegen die Bourgeoisie Londons, eigentliches Schreibanliegen gewesen sein, ein sehr persönliches Licht lässt London auch auf seine schriftstellerische Karriere fallen.
Edens Schlacht um die Veröffentlichung seiner Manuskripte, das Hungern, die Pfandleihe, die grausamen Jobs, die Unmenschlichkeit der Redaktionsmaschinerie – all das lässt die bitteren Erfahrungen lebendig werden, denen sich London wohl selbst unterworfen sah.
Ganz besonders ernüchternd ist Edens Feststellung, Anerkennung für sein Schaffen zu einer Zeit zu erhalten, da er überhaupt nichts mehr leistete und dass ihn dieselben Leute verhungern ließen, als all die nun von ihnen hochgelobten Texte bereits verfasst, aber eben nur noch nicht gedruckt waren. Die Arbeit war bereits geleistet. Und doch noch nichts wert.
Wenn man bedenkt, dass sich diese Art der Wertschätzung von Literatur auch in den hundert Jahren danach kaum geändert hat, gewinnt Jack Londons herzerweichende Darstellung des schöpfungsgetriebenen Autors eine noch katastrophalere Wucht.
Doch es gibt in »Martin Eden« nicht nur die zynische Sezierung einer scheinheiligen Öffentlichkeit. In vielen Details und Nebenfiguren entwickelt London die für ihn typische liebevolle Beschreibung des einfachen Lebens. Besonders in der Charakterisierung von Martins Schwester Gertrude, der Wäscherin Maria Silva oder der ihn innig liebenden Lizzy Connolly erweckt Jack London die harte Wirklichkeit in den US-amerikanischen Vorstädten Anfang des 20. Jahrhunderts zum Leben. Während Ruth wohlbehütet auf eine Ehe wartet, müssen die Frauen der Arbeiterklasse oft in unwürdigen Verhältnissen schuften, Kinder versorgen und sich obendrein noch dem Willen eines Mannes beugen.
Vielleicht beschrieb London ihr Leben einfach nur realistisch, ohne die dahinterliegende Unterdrückung wirklich anprangern zu wollen. Letztlich versucht seine männliche Figur mit Geld oder Bildung zu helfen. Es ist ein männliches Eingreifen. Es ist männliche Kraft, denen sich die Frauen hier unterwerfen, wie überhaupt das männliche Wesen mit Kraft, Gesundheit und vor allem jugendlicher Stärke verbunden wird.
Die Übersetzung von Lutz-W. Wolff beeindruckt an einigen Stellung durch sinnvolle Entscheidungen. So wurden die ersten Englischlektionen durch Ruth mit englischen Vokabeln und deutschen Erklärungen so gut in den Text eingefügt, dass man ihnen leicht folgen und auch daraus lernen kann.
Ähnlich sanft sind die Slang-Übersetzungen geraten. Edens anfängliche Unterschichtensprache wird durch einige wenige Auslassungen angedeutet und nicht übertrieben. Dadurch werden die entsprechenden Passagen vielleicht sogar intensiver. Stilistisch ist der gesamte Roman ein Genuss und lässt sich selbst in den philosophischen Passagen mühelos lesen, ja, in den elegischen Beschreibungen der Liebe oder des Schreibens wird man sogar förmlich mitgerissen und fortgespült. Jack Londons Sprache ist in der Übertragung modern und kraftvoll, eben wie Martin Eden selbst.
Fazit:
»Martin Eden« ist in der wunderschönen Neuübersetzung ein fast schon aktuelles Kennenlernen des Autors Jack London. Der philosophische Background vor hundert Jahren wird ebenso lebendig, wie das quasibürgerliche Leben der US-amerikanischen Oberschicht und der in tiefem Kontrast dazu stehenden Mehrheit, die durch Bildung, Überlebenskampf und dem festen Gefüge einer unmenschlichen gesellschaftlichen Maschinerie, ihre wahren Fähigkeiten nur in Ausnahmefällen unter Beweis stellen können.
Ein großer Roman, kraftvoll, kritisch und schonungslos.
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