Neongrau (Autorx: Aiki Mira)
 
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Neongrau von Aiki Mira

Game over im Neorosubstrat

 

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Im Bereich der deutschsprachigen Science-Fiction-Kurzgeschichten ist Aiki Mira inzwischen eine feste Größe und wohl eher zufällig erschienen 2022 sowohl das Roman-Debüt Titans Kinder als auch der zweite Roman, Neongrau.

 

Mit über 500 Seiten ist das Buch zu einem Schwergewicht herangewachsen; ein selbstbewusstes Zeichen und ein wichtiger Programmpunkt für den Polarise-Verlag.

 

Hamburg hat sich im Jahr 2112 stark verändert. Der Klimawandel führte zu Überflutungen und Starkregen sorgt auch heute noch für häufige Überschwemmungen. Dominiert wird die Stadt von einem Konzern, der ZONE, die durch die Vermarktung von eSport-Games in einer großen Arena riesige Gewinne einfährt. Dabei läuft vor allem das Spiel Quanta II, eine Mischung aus Aufbaustrategie und Firstpersonshooter, das die Spielenden in einem Tank mit Neurosubstrat und VR-Anzügen spielen, während die Massen im Station ihnen dabei auf Leinwänden zusehen.

Im Zentrum der Handlung steht Stuntboi/Go. Als Stuntdouble verdient sich Stuntboi Geld und sieht sich selbst eher männlich. Für ihren Vater Tayo ist sie jedoch Go. Die Siebzehnjährige fühlt sich genderfluid und plant mit ihrer Volljährigkeit operative Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Doch ein Unfall während eines Videodrehs verrät Stuntboi/Go, dass vorher ein lebensbedrohendes Aneurysma behandelt werden muss. Zeugin der Untersuchung ist das Mädchen hinter der Kamera, ELLL, und nicht nur, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnt, ELLL steckt auch hinter dem »Unfall«. Beauftragt ausgerechnet durch Gos Mutter, der berühmten und im Untergrund lebenden Programmiererin Ren Kazumi, die ihre Familie vor Jahren verließ. Ren hat sich ELLL nicht nur als Handlangerin herangezogen, inzwischen empfindet sie sogar mütterliche Gefühle für sie, wie auch zu ihrem anderen Kind, der künstlichen KI CTRL. Die wiederum hat sich mit Go angefreundet. Doch weder weiß Go um die Natur ihres Freundes noch weiß Ren, dass die beiden in Kontakt stehen.

Die Beziehungen der Figuren verästeln sich noch weiter im Verlauf des Romans, wenn wir etwa erfahren, wer hinter der Bezahlfreundschaft steht, die Stuntboi/Gos Fater Tayo unterhält und was denjenigen mit ELLL verbindet.

 

Nach dem Unfall beschafft CTRL Stuntboi/Go einen Job im Stadion als Begleitperson der berühmten Gamerin Phoenix, die zusammen mit ihrem Bruder Ash zu den lokalen Gaming-Legenden zählen. Doch dann kommt es zu einem Anschlag …

 

Es fällt schwer, den eigentlichen Spannungsbogen des Romans aufzuzeigen, weil über zwei Drittel des Buches hinweg die Konflikte zwischen den Figuren zentral erscheinen. Vielleicht auch noch eine gewissen Unruhe im gesellschaftlichen Aufbau der Stadt. Doch Aiki Mira verfolgt diese Konflikte nicht wirklich bis zu einem dramatischen Höhepunkt, obwohl es ein aufgeladenes Finale gibt. Vielmehr stehen die Figuren und ihre Innensichten im Vordergrund des Erzählens. Dabei bedient sich Aiki Mira erneut einer wunderbar lyrischen Prosa, die mit einer Unzahl an verzaubernd formulierten Details besticht und in deren Tiefen man schnell versinkt.

Das führt aber leider auch dazu, dass die Spannung immer wieder absackt, weil man den Figuren wie in einer Serie eher beim Leben zuschaut, als mit ihnen mitzufiebern. Ähnlich wie die Massen im Stadion bleiben wir der eigentlichen Action eher fern. »Neongrau« liefert dabei eine fein ziselierte Zukunft mit eigenen Wörtern und Mythen. Deutlich wird das etwa durch das Wort Alupax, das sowohl einen Getränkebehälter als auch umgangssprachlich alte Menschen bezeichnet. Mit smarten Kontaktlinsen wird kommuniziert, man sendet Txt oder Pxx mit ihnen, kann aber auch über Neuroimplantate direkt am Gedankenstrom einer anderen Person teilhaben. Der technologische Fortschritt bleibt damit im Rahmen des Vorstellbaren und fühlt sich sehr organisch in das Leben der Figuren integriert an.

Etwas weniger komplex gestaltete Aiki Mira die Welt an sich. Es werden soziale Probleme erwähnt, sie spielen aber eher im Background der Figuren eine Rolle. Es gibt die Polizei, Regeln für den Gebrauch von Technik und den mächtigen Konzern, aber viel tiefer steigen wir nicht in das Gefüge der Stadt ein. Zwischendurch erhält man zwar Hinweise darauf, dass sich im Untergrund etwas zusammenbraut und Anschläge die Regel seien, aber diesen Konflikt baut Aiki Mira nicht weiter aus. Und das zeigt auf die große Schwäche des Romans: Ein unbefriedigendes Ende. Zwar werden alle Handlungsstränge zusammengeführt, aber es bleibt das Gefühl zurück, dass die eigentlichen Konflikte nicht wirklich auserzählt, sondern auf nette Art abgewürgt wurden. Nach vierhundert detailreichen Seiten beginnt eine Konfliktverpuffung. Vielleicht mag Aiki Mira lieber diese Art von Enden, aber hier fühlt es sich wie ein Fremdkörper an und will nicht so recht zum Rest des Romans passen.

 

Was bleibt, ist ein über weite Strecken großartig geschriebener Figuren-Roman, der von Details und sprachlicher Raffinesse lebt. Aiki Mira wird mit jedem Roman besser.

 

Fazit:

»Neongrau«, Aiki Miras zweiter Roman, entführt in ein schillerndes Hamburg der Zukunft mit vielschichtigen Figuren, an deren Wirken wir intensiv teilhaben.

 

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Buch:

Neongrau

Game over im Neorosubstrat

Autorx: Aiki Mira

Taschenbuch, 520 Seiten

Polarise, 8. Dezember 2022

Cover: Christin Giessel

 

ISBN-10: 3949345280

ISBN-13: 978-3949345289

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B0BQJTFQTS

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 20.01.2023, zuletzt aktualisiert: 28.01.2024 19:17, 21498