Neuromancer von William Gibson (Hörspiel)
 
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Neuromancer von William Gibson

Hörspiel

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Case hat Probleme. Noch vor zwei Jahren gehörte er zu den heißesten Konsolen-Cowboys. Er konnte sich durch jede Firewall hacken, kein Ice war vor ihm sicher. Dann hat er Scheiße gebaut. Er hatte versucht, seine Auftraggeber zu bestehlen, was scheiterte. Lächelnd spritzten sie ihm ein Toxin, das die Nerven derartig angriff, dass ihm seither der Cyberspace verwehrt bleibt. Jetzt ist Case als Schmalspurschieber in Chiba City tätig. Es läuft nicht gut. Er hat Schulden. Seine Freundin Linda Lee warnt ihn, jemand sei hinter ihm her, vielleicht will Gläubiger Wage ein Exempel statuieren, was mit säumigen Schuldnern passiert? Case mietet sich sicherheitshalber eine Knarre. Da tritt Molly, eine coole Straßensamurai mit in die Augenhöhlen implantierten Spielreflexgläsern und ausfahrbaren Messerklauen in den Fingern, an ihn heran. Man braucht Case – man braucht einen der besten Konsolen-Cowboys; das mit dem Toxin kann man schon hinbiegen. Mehr braucht er erstmal nicht zu wissen. Wie kann Case da ausschlagen? So kauft er die Katze im Sack, die sich leicht als schlecht gelaunter Säbelzahntiger erweisen könnte.

 

Neuromancer ist selbstverständlich die Hörspielfassung des gleichnamigen Romans von William Gibson. Die Bedeutung des 1984 erschienenen Romans für das Subgenre des Cyberpunk ist kaum zu überschätzen.

Die Geschichte ist eine Mischung aus Verschwörungsthriller und Sittengemälde bzw. Dystopie. In der näheren Zukunft sind Klone, Cyberimplantate und Cyberspace allgegenwärtig, Straßensamurai töten blitzschnell und die Konsolen-Cowboys surfen durch eine beinahe omnisciente Datenflut – via SimStim kann man selbst die Wahrnehmungen und Erinnerungen anderer Nutzer empfangen und die Digitalisierung von Hirnmustern macht Persönlichkeiten fast unsterblich. Und es gibt sogar eine Stadt in der Erdumlaufbahn: Freeside.

Hinter der technomanischen Fassade geht es im Wesentlichen um zwei Punkte: Globalisierung – die Welt ist ein Dorf geworden, Japan, Türkei oder USA werden für kleinst Trips besucht. Postmoderne – trotz (oder gerade wegen) der mächtigen Megakonzerne gibt es keine einheitlichen Deutungsmuster mehr, jeder agiert nach eigener Fasson, letztlich zählt nur das eigene Durchsetzungsvermögen.

In diesem Milieu kann sich ein Verschwörungsthriller wunderbar entfalten. Aufgrund der allgegenwärtigen Paranoia (die oftmals berechtigt ist), teilt niemand dem anderen all seine Absichten mit und so braucht Case einige Zeit, um herauszufinden, was er eigentlich machen soll, und noch länger, um herauszufinden, warum. Das damit das "Wie" noch nicht geklärt ist, liegt auf der Hand. Dank der postmodernen Attitüde kann jede Figur mit jeder anderen einen Pakt schließen, diesen aber auch jederzeit wieder brechen. Ob der eine dem anderen dann einfach den Rücken zukehrt oder ob er versucht ihm in den Rücken zu fallen, bleibt der individuellen Haltung überlassen. So wirken als Spannungsquellen in erster Linie die Wunder des Settings und die Rätsel des Plots, doch auch der Thriller meldet sich mit einigen Action-Szenen.

 

Die Themen Globalisierung und Postmoderne werden auch mit der Sprecherliste aufgegriffen. Das Booklet zählt neununddreißig Sprecher auf, unter denen so exotische Namen wie Weijian Liu oder Tayfun Bademsoy zu finden sind – Regisseur Alfred Behrens hat bei der Besetzung auf eine wahrlich internationale Zusammenstellung geachtet: Immer wenn Case den Ort wechselt, trifft er auf Figuren, die von Sprechern mit 'authentischem' Akzent gesprochen werden. Das Thema Globalisierung ist evident. Die Postmoderne manifestiert sich in der großen Zahl, durch die die Geschichte fragmentiert wird, und mehr noch durch den Umstand, dass einige Sprecher mehrere 'Rollen' sprechen und einige Rollen von mehreren Sprechern interpretiert werden. Damit wird die Verschiedenheit von realer und Cyberspace-Identiät eingefangen.

Schaut man sich die Sprecherliste an, so erwartet einen noch eine Überraschung – ein kleiner Auszug um den Punkt zu verdeutlichen: Der Erzähler ist Matthias Scherwenikas, ein Schauspieler und Sprecher des deutschen Fernsehens, der auch Hörbuch-Erfahrung hat. Jarreth Merz (Case) ist ein international erfolgreicher Schauspieler (ER, Passion) aus der Schweiz. Marion von Stengel (Molly) ist Schauspielerin (Tatort), Synchronsprecherin (Pamela Anderson, Angelina Jolie) und Hörspielsprecherin (Professor Zamorra, John Sinclair). Roland Marx (Armitage) ist Film- und Theaterschauspieler, aber besonders als Künstlerischer Leiter des German Abroad Theaters bekannt. Einer meiner Lieblingssprecher ist Tatortkommissar Boris Aljinovic, der sowohl mit dem Medium Hörspiel (Gabriel Burns), wie auch dem Hörbuch (Terry Pratchetts Winterschmied) Erfahrungen gesammelt hat. Christian Standtke (Dixie-Flatline) ist wiederum ein Theater- und Fernsehschauspieler (Sperling), hat aber auch Hörbücher eingesprochen. Last, but not least ist die Schauspielerin Dorothea Gädeke (Linda Lee) ein kleines Kuriosum: Sie verdient ihre Brötchen nicht nur mit dem Einsprechen von Hörbüchern und Hörspielen, sie ist auch eine anerkannte Stimmbildnerin und –therapeutin. Man sieht, alle Sprecher arbeiten zuweilen als Schauspieler, aber nur wenige als Hörspielsprecher. Mir scheint, als klänge der Mangel an entsprechender Erfahrung zuweilen leicht durch – dann wirken die Sprecher etwas theatralisch und künstlich. Das kommt zum Glück bei den Hauptrollen nicht vor und stört daher kaum. In der weit überwiegenden Mehrheit machen die Sprecher ihre Sache sehr gut.

 

Das Hörspiel ist gemäßigt modern inszeniert, denn es gibt noch einen Erzähler, doch der kommentiert nur das Nötigste. Oftmals sorgt er sogar für seltsame Entfremdungseffekte, etwa wenn er in einer Szene die Aktionen von Case aus der Außenperspektive vorstellt, während sonst Case sich selbst aus der Innenperspektive beschreibt. Vor allem bei Case wird durch akustische Effekte zwischen Gespräch mit anderen Figuren und Gedankengängen unterschieden – sofern andere Figuren via SimStim Zugang zu seinem Geist erhalten (oder umgekehrt), werden auch ihre Mitteilungen entsprechend bearbeitet. Die Geräusche werden zwar eher zurückhaltend und punktuell verwendet, doch sie stehen in der Vielfalt den Musiken kaum nach. Dort ist die Vielfalt besonders auffällig: Einmal reicht sie von klassischer Orchestralmusik über Verjazztem hin zu Technobeats, und dann kann es zu krassen, übergangslosen Wechseln zwischen den Stilrichtungen kommen – auch hiermit wird die Zerrissenheit der Postmoderne betont. Dann werden bestimmte Stücke symbolisch aufgeladen – wenn etwa der Linda-Lee-Song eingespielt wird, mit dem die Sängerin vorgestellt wurde, dann beginnt eine Szene, in der sich Cases Geist mit seiner Freundin befasst, gleich, ob dieses nur von ihm selbst ausgeht oder durch Fremdeinwirkung ausgelöst wird. Durch das Übereinanderlagern von Figuren- bzw. Erzählerrede, symbolisch aufgeladener Musik, untermalender Musik und Geräuschkulisse entsteht eine im wahrsten Sinne des Wortes sehr vielschichtige Inszenierung, zusammen mit der hohen Informationsdichte entsteht ein sehr anspruchsvolles Hörspiel.

 

Fazit:

Der ehemalige Konsolen-Cowboy Case erhält ein heißes Angebot, das er kaum ablehnen kann – dafür wird er zum Bauer in einem undurchsichtigen und brandgefährlichen Spiel. William Gibsons für das Subgenre des Cyberpunks bahnbrechende Romanvorlage Neuromancer wurde von Alfred Behrens künstlerisch sehr anspruchsvoll als Hörspiel umgesetzt – neben vielen großartigen Sprechern gibt es eine sehr dichte und vielschichtige Inszenierung in der in zahlreichen Aspekten die wichtigen Themen Globalisierung und Postmoderne anklingen.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404201346335589a744
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Hörspiel:

Neuromancer:

Reihe: -

Vorlage: William Gibson

Produzent: Radio Bremen/Westdeutscher Rundfunk

Regie: Alfred Behrens

Label: Der Audio Verlag

Erschienen: Juli 2004

Umfang: 3 CDs, ca. 212 min.

Asin: B0002JZ2U2

Erhältlich bei: Amazon

 

Sprecher (Auswahl):

 

Matthias Scherwenikas

Jarreth Merz

Dorothea Gädeke

Marion von Stengel

Ronald Marx

Christian Standtke

Boris Aljinovic


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Erstellt: 01.11.2009, zuletzt aktualisiert: 12.02.2024 15:44, 9464