Eine ganz schön lange Zeit ist es her, seit Felix Woitkowski mit seinem Debüt Die Wanderdüne einen beeindruckendem Beitrag zu modernen deutschsprachigen Phantastik beisteuerte.
Er selbst bezeichnet auch Rattensang in seinem Vorwort als phantastischen Roman, dessen zwei Teile in diesem Buch zu einer passenden Einheit fanden.
Der erste Teil beginnt zunächst als klassischer Western. Irgendwo im Westen am Colorado. Ein Mann, ein verrammeltes Dorf und ein düsteres Geheimnis, das über dem ganzen liegt.
Doch das Quäker-Nest wird nicht von Banditen oder Indianern heimgesucht, sondern von Ratten und der Mann mit der Mundharmonika will ihnen helfen, sie zu vertreiben …
Was wie eine Reminiszenz an den Rattenfänger von Hameln klingt, ist auch tatsächlich eine. Wer durch die Auswahl des Musikinstrumentes das Gesicht von Charles Bronson vor Augen hat, dürfte auch damit nicht falsch liegen. Felix Woitkowski spielt hier ganz bewusst mit verschiedenen Assoziationsketten.
Doch lockt er auf einige falsche Fährten. So dürfte eine ganze Zeit unklar bleiben, welche Rolle der seltsame Technik-Bastler X in dem ganzen Spiel einnimmt. Mit Steampunk-Gerätschaften und Wissenschaft versucht sich der schrullige Erfinder am Rattenproblem.
Es beginnt ein Wettkampf zwischen dem Mythos und moderner Technik, der sich symbolträchtig erst im zweiten Teil entscheidet.
Auch auf einer anderen Ebene wird es metaphysisch. Mit Maria gibt es eine weibliche Figur, die sowohl zum Bezugspunkt für den Namenlosen wird, als auch zum Fokus von Leseerwartungen. Wird sie zum Love-Interest? Hilft sie bei der Lösung der Rattenplage? Wird sie zum Opfer?
Lange bleiben diese Fragen in der Schwebe, bis uns Maria im zweiten Teil als Hauptfigur begleitet, denn, es ist kein Spoiler, wenn man verrät, dass für die Beseitigung der Rattenplage ein Preis gezahlt werden muss.
Dieser Preis ist hoch, führt auf eine mit Symbolen bedeutungsschwer aufgeladene und mühselige Wanderschaft, tief hinein in ganz andere Mythen.
Hier begegnen wir auch den im Vorwort erwähnten Hopi-Legenden. In ihnen entwickeln sich die Menschen immer wieder von ihren Schöpfern weg. Jedes Zeitalter endet mit der Zerstörung der bisherigen Welt und nur die wahren Gläubigen überleben. Der mit Musik verknüpfte Glaube wird als Gleichklang mit der Natur verstanden. Der Verlust der göttlichen Töne geht einher mit schlechtem Verhalten und soll erklären, warum diese Menschen es nicht wert sind, leben zu dürfen.
Die Verflechtung der Hopi-Legenden mit der Fortführung der Rattenfänger-Sage und dem Konflikt zwischen Natur und Technik kumuliert in einem klassischen Showdown.
Das wahre Ende jedoch zitiert wiederum die Bibel.
Wie schon in der »Wanderdüne« setzt sich Woitkowski auch in »Rattensang« mit der Bewertung menschlichen Handelns durch göttliche Wesenheiten auseinander. Die phantastischen Elemente lassen es dabei offen, ob all die Symbole für den Kampf Gut gegen Böse, Tauben, Ratten oder Schöpfung und Zerstörung reine Erfindungen des menschlichen Geistes sind, oder tatsächliche Bestandteile der Welt.
Magie und Technik vermischen sich, die geschundene Kreatur bleibt jedoch stets dahinter sichtbar. Aber auch eine andere Symbolik lässt sich herauslesen: Ausgangspunkt der Unterdrückung ist der Mann, Ausweg die Frau. So wird auch eine ganze Lebensweise auf den Richtplatz geführt und zerschlagen.
Woitkowski hält viele dieser Handlungsinterpretationen lange in der Schwebe. Die Figuren werden nie wirklich aus der Distanz entlassen, stets bleibt eine gewisse Unnahbarkeit übrig. Weder der Namenlose, noch Maria gehen je weit aus sich heraus. Übertüncht von einer Verzauberung oder durch die Situation zum Schweigen verdammt, treiben die Figuren immer am Rande der Bloßlegung entlang, ihre Motive hinter dem Schleier versteckt, den der Autor über sein Geflecht an Bedeutungen gelegt hat. Dadurch verhindert er etwa eine Romantisierung der Beziehung zwischen Maria und dem Namenlosen, sie bleibt in gewisser Hinsicht rein und unschuldig, unbefleckt. Selbst, als Maria sich öffnet, drängt die finale Handlung darüber hinweg.
Welten entstehen, werden geschaffen oder neu geboren, stets steht die Zerstörung des Alten am Anfang und am Ende eines Zeitalters.
Möge die nächste phantastische Welt des Felix Woitkowski bald über uns kommen!