Samstag (Autor: Daniel Mayer; Genre: Horror)
 
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Leseprobe: Samstag (aus: Disturbania)

Er ist an einem Samstag zu mir gekommen.

Ich weiß nicht, was ich getan habe um ihn anzulocken, ich weiß nicht, warum er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat. Ich weiß nur eines: jetzt ist er da und ergeht nicht mehr weg. Während ich über der Toilettenschüssel hänge und mich gurgelnd des Rums entledige, höre ich sein meckerndes Gelächter aus dem Wohnzimmer. Ja, er hat Spaß. Er ist ja auch nicht derjenige, der jeden Tag besoffen auf dem Tisch einschläft. Er ist es nicht, dessen zerstörte Stimmbänder den Dienst verweigern. Er ist es nicht, der gefeuert wird, wenn er heute Nacht nicht bei seinem Job auftaucht.

„Kommst Du auch mal wieder raus da, Jacky-Boy? Ich hab einen Riesendurst!“ Beim Klang der heiseren Stimme krampfen sich meine Eingeweide zusammen. Er lacht schon wieder, immer dieses unsagbare Lachen! Ich krieche zur Badewanne und ziehe mich daran hoch. Alles verschwimmt vor meinen Augen und ich muss mich festkrallen, um nicht wieder hinzufallen.

Ich traue mich nicht, in den Spiegel zu schauen.

Ein Klirren dringt durch die Badezimmertür.

„Jacky-Booooy! Wenn Du nicht sofort kommst, mache ich noch mehr kaputt!“

Galle steigt mir in den Mund als ich das Wohnzimmer betrete. Es stinkt gotterbärmlich nach kaltem Rauch, nach Erbrochenem, nach Schnaps. Die Fensterläden sind geschlossen. Trotzdem reicht das schwache Licht aus, um den mit Asche und zerbrochenen Flaschen bedeckten Teppich zu erahnen. Auf dem Tisch ist eine Lache meiner Kotze eingetrocknet. Er sitzt auf meinem Lieblingssessel wie auf einem Thron, lacht sein unerträgliches Lachen und starrt mich mit seinen toten Augen an. Und er hat meinen Fernseher kaputtgemacht.

Ich durchquere den Raum, die Glasscherben knirschen unter meinen nackten Fußsohlen, aber ich spüre nichts mehr. Schwer lasse ich mich auf mein Sofa fallen und bette das Gesicht in die Hände. Er soll einfach weggehen. Ich kann nicht mehr.

„War das nötig?“

Der krächzende Klang meiner Stimme erschreckt mich.

„Oh, Jacky-Boy, Du hast mich so lange warten lassen, und Du weißt wie ungeduldig ich werde wenn Du mich warten lässt.“

Das weiß ich allerdings. Ich blinzle zwischen den Fingern hindurch, sehe meine kaputte Spielkonsole, die zerfetzten Bücher, die zerrissenen Photos von Beth, meiner ehemaligen Verlobten. Ich spüre, wie ich die Kontrolle über meine Hände verliere. Wie Insekten zucken sie meine Brust hinab, wandern über meinen Oberschenkel und heben einen der schwarzen Stumpen auf. Gierig sauge ich und spüre, wie sich der Rauch in meine Atemwege frisst. Ich krümme mich vom Husten geschüttelt, Blut tropft aus meinem Mund.

„Ach Jacky-Boy. Benimm dich nicht wie ein Mädchen. Nimm lieber einen Schluck.“

Sein nackter Schädel grinst mich höhnisch an, während ich gegen meinen Willen die Rumflasche an die Lippen setze. Ich höre das Trommeln seiner Knochenfinger auf der Tischplatte dabei kann er sie doch gar nicht berühren. Da sitzt er, stolz und schrecklich, in seinem zerschlissenen Gehrock, den Zylinder schief auf dem blanken Knochen seines Schädels. Sitzt und lacht mich aus.

Er erlaubt mir, die Flasche abzusetzen und atmet erleichtert durch, als hätte er selbst getrunken. Ich sinke in mich zusammen, spüre die Hitze des Alkohols in meinem Körper, die Kühle der Tischplatte an meiner Wange. Meine Gedanken verlieren sich schnell noch weiter im Dunst.

„Geht es Dir nicht gut?“ Seine Stimme klingt fast mitfühlend, wäre da nicht dieser ätzende Unterton. „Mach doch das Fenster auf. Du bist blass.“

Ich stemme mich hoch so gut ich kann. Die Schmerzen in meiner Lunge, in meinem Hals, meinem Magen, fühlen sich an wie flüssiges Feuer. „Du musst mich heute gehen lassen“ krächze ich. „Wenn ich heute Abend nicht bei der Arbeit auftauche, dann bin ich meinen Job los.“ Eine verzweifelte Hoffnung regt sich in mir. „Wenn ich keinen Job mehr habe, dann kann ich Dir keinen Rum und keine Zigarren mehr kaufen!“

Er blickt mich an. Lange und in Gedanken verloren – haben ihn meine Worte überzeugt? Ich lasse mich in die Kissen sinken und beginne stumm zu beten. Wenn er mich gehen lässt, dann kann ich abhauen, dann kann ich ihn in der Wohnung verrotten lassen. Durch den Alkoholschleier sehe ich, wie er sich erhebt und auf mich zukommt. Seine Knochenfersen klacken auf dem schmutzverkrusteten Parkett.

„Weiß Du was, Jacky-Boy? Ich habe eine bessere Idee. Wir gehen heute Abend aus! Es ist doch schließlich Samstag!“

 

Überall wo der seltsame Mann auf den vollen nächtlichen Straßen auftaucht, wechseln die Menschen die Straßenseite. Verrückten geht man besser aus dem Weg. Er wankt, lallt und ist von einem Miasma aus Alkohol und Rauch umgeben. Sein zerschlissener, schwarzer Gehrock scheint irgendwann einmal teuer gewesen zu sein, ebenso die schwarze Sonnenbrille auf seiner Nase. Leider ist ein Glas herausgebrochen. Der Zylinder, neckisch schief auf den Kopf gesetzt, fällt seltsamerweise nicht herab, egal wie sehr der Mann taumelt. Der Wahnsinnige ist laut. Mit rauer Stimme singt er obszöne Lieder in krudem Französisch, während er immer wieder eine stinkende Zigarre oder den Flachmann an Lippen setzt. Eine rotbraune Blume aus verkrustetem Blut umrandet seine Lippen..

 

Er wendet sich einer flackernden Neonreklame zu, die ihn zu interessieren scheint. Er braucht einen Augenblick, um sein Schwanken unter Kontrolle zu kriegen, rudert mit den Armen. Dann hebt er sein blutunterlaufenen Auges den Blick. „Na, Jacky-Boy?“ schnarrt er. „Voodoo-Lounge. Das klingt doch nach einem Laden für uns zwei Hübschen.“

Nach nur einem Schritt hält ihn der Arm des Türstehers auf. „Ich denke, Du schläfst besser Deinen Rausch aus und gehst duschen, Kumpel. Du entsprichst nicht dem üblichen Klientel.“ Der Mann wankt, krallt sich in die Weste des Türstehers. „Danke für den Rat, Mister.“ Seine heisere Stimme gurrt wie eine verreckende Taube. „Aber ich will nicht nach Hause. Der Abend ist noch jung, weißt Du?“

Der Betrunkene zeigt dem Türsteher die Zähne. Ein Grinsen, in dem keine Freude liegt. Sein knochenweißes Gebiss blitzt und sein eines sichtbares Auge weitet sich. Der Türsteher, fast einen Kopf größer, macht einen Schritt zurück. Trotz des lauen Sommerabends beginnt er zu zittern, seine Nackenhaare stellen sich auf. Er weiß nicht warum, aber er hat keine Lust mehr, sich mit diesem Irren anzulegen. Jede Kraft ist aus seiner Stimme gewichen.

„Du machst keinen Ärger, okay?“ Es ist kein Befehl, mehr eine flehende Bitte. Das Grinsen des Verrückten wird noch ein Stückchen breiter. Er klopft dem großen Mann auf die Schulter und macht sich auf in Richtung Eingang. Keiner versucht, von ihm Eintrittsgeld zu kassieren.

Der Mann betritt den Club und lässt sich mit geschlossenen Augen von den hämmernden Beats begrüßen. Gierig saugt er die rauchgeschwängerte Luft ein. Ja, das ist es. Das hat ihm die ganze Zeit gefehlt.

Mit einer unfassbaren, fast schon einschüchternden Anmut betritt er die Tanzfläche und verbeugt sich spöttisch vor all jenen, die den seltsam gekleideten Neuankömmling argwöhnisch anstarren. Sacht wiegt er sich im Rhythmus der donnernden Musik.

Es dauert nicht lange und sie gehören ihm. Niemand außer ihm ist mehr auf der Tanzfläche, und doch haben sich alle um das weiß geflieste Rund gedrängt. Keiner will auch nur einen Tanzschritt, eine legere Geste des seltsamen Fremden verpassen, der in der Musik aufzugehen scheint, dessen Bewegungen Geschichten erzählen. Die Männer starren ihn bewundernd an, möchten sein wie er. Die Frauen (und auch manch ein Mann) wollen ihm auf ganz andere Art dienen. Vergessen scheinen seine leichenblasse Haut, der Gestank nach kaltem Rauch und billigem Rum, der ihn umgibt. Alles was die Menschen noch sehen ist die knöcherne Schönheit unter dem Fleisch, auch wenn sie nicht in der Lage sind, sie zu verstehen. Wer mag das sein? Ein Schauspieler, ein Rockstar? Er muss berühmt sein, auch wenn sie dem Gesicht gerade keinen Namen zuordnen können. Jemand wie er muss einfach berühmt sein.

Lächelnd verbeugt sich der Mann und mit einem einzigen anmutigen Schritt verlässt er die Tanzfläche. Die Menge stöhnt enttäuscht, geradezu verzweifelt auf. Er taucht ein in ein Meer aus bewundernden Gesichtern, greifenden Händen, lockenden Stimmen. Jedem schenkt er ein Lächeln, einen Händedruck, ein Klopfen auf die Schulter. Mit einem Schwanz aus neu gewonnen Anhängern bewegt er sich auf einen abgelegenen Tisch zu und lässt sich auf das Sofa fallen. Ein Fingerzeig gibt den drei hübschesten Frauen in der Menge zu verstehen, dass sie sich zu ihm setzen dürfen.

„Na, Jacky-Boy?“ kräht er. „Sieh es positiv. Mit so heißen Weibern umgibst Du Dich doch sonst nie.“ Er hebt das Glas Rum, das ihm eine der Frauen gebracht hat ohne dass sie wusste warum. „Ich trinke auf Dich, Jacky. Bist ein gutes Pferdchen.“

 

Der seltsame Mann ist nicht mehr Mittelpunkt des Geschehens, weil er es nicht mehr sein will. Natürlich, die drei jungen Frauen, die er zu sich gerufen hat, sind immer noch bei ihm, hängen an seinen Lippen, während er sie mit schmutzigen Anekdoten unterhält, die sie unter normalen Umständen angewidert das Weite suchen lassen würden. Doch der Rest der Menge hat ihn vergessen.

„Wisst ihr eigentlich, dass ich ein Baron bin, meine Damen?“ Sein leichter französischer Akzent jagt ihnen wohlige Schauer über den Rücken. Er legt die Arme um die zwei, die ihm am nächsten sitzen, was die dritte im Bunde mit einem enttäuschten Blick quittiert. Mit einer Geste und einem Lächeln gibt er ihr zu verstehen, dass sein Glas schon wieder leer ist. Sofort springt sie auf und rennt zur Theke. Bist ein gutes Mädchen. Der lobende Blick, als sie zurückkommt, trifft sie bis ins Mark und sie errötet, als seine Finger bei der Übergabe des Glases die ihren streifen.

Gerade will der „Baron“ das Glas an die Lippen setzen, da verliert er die Kontrolle über seine Hand. Sie krampft, das Glas entgleitet seinen Fingern und fällt zu Boden. Ungläubig blickt der Mann auf seine Hand, schüttelt die Finger, ballt eine Faust. Missmutig verzieht sich sein Gesicht.

„Lass das Jacky-Boy,“ murmelt er. „Benimm Dich, dann geb’ ich Dir Deinen Körper bald zurück. Mach nicht noch einmal so eine Scheiße.“

Mit einem überraschten Ächzen ballt der Baron die Faust und schlägt sich selbst mit voller Wucht ins Gesicht. Die Frauen blicken entsetzt auf seine zertrümmerte Nase, aus der dunkles Blut hervorschießt..

Der Mann betastet sein Gesicht und fletscht schmerzerfüllt die Zähne. Dann lacht er ein leises, hämisches Gelächter, das nicht besonders amüsiert, dafür umso entschlossener klingt. Unsicher und leicht ängstlich stimmen die Frauen ein, ohne zu wissen warum. Irgendwie ist der Mann plötzlich nicht mehr so anziehend. Langsam bekommen sie Angst vor ihm.

„Keine Sorge, Ladies. Mir geht es gut.“ Der Baron erhebt sich und streicht ergebnislos seinen zerknitterten Gehrock zurecht. Er lächelt freundlich, schlagartig fällt die Anspannung von den Frauen ab. „Aber so leid es mir tut, ich muss Euch jetzt verlassen. Seid nicht traurig. Ich werde immer an Euch denken.“ Er beugt sich hinab und küsst jede lange und leidenschaftlich, bis ihnen die Luft wegbleibt. „Vertraut mir, wir sehen uns früher wieder, als es Euch lieb sein wird.“ Dann wendet er sich ab.

Er hinterlässt einen Tisch voller Fragen. Wie bin ich denn hier gelandet? Wer sind denn diese beiden? Warum fühlt sich mein Mund an, als hätte ich einen Aschenbecher ausgeleckt? Und warum bin ich trotzdem so seltsam erregt? Schnell verschwinden sie auf die Tanzfläche. In wenigen Augenblicken ist das seltsame Ereignis vergessen.

Der Baron schwimmt durch die Menge, ohne dass ihn jemand bemerkt. Er bebt vor Wut und gibt sich keine Mühe, sein zur Zornesgrimasse erstarrtes Gesicht unter Kontrolle zuhalten. Immer wieder zuckt seine rechte Hand und immer wieder schlägt er sie gegen eine Wand, einen Türstock.

Dann findet er was er gesucht hat.

An einem Tisch in der Ecke sitzt ein unscheinbares Mädchen mit dunklen Haaren und traurigen Augen. Sie raucht eine Zigarette. Der Baron kennt ihr Gesicht von Jackys Photos, die er zu zerstören gezwungen war. Mit einiger Befriedigung stellt er fest, wie Jacky-Boy ganz tief in ihm drin zu schreien beginnt.

„Du wolltest nicht hören, Jacky. Jetzt trägst Du die Verantwortung für alles, was passiert.“

Urplötzlich verändert sich die Körperhaltung des Barons. Die federnde Eleganz verschwindet aus seinem Gang, die Schultern sacken herab, sein eben noch lächelndes Gesicht wird von einem Ausdruck tiefsten Schmerzes eingenommen. Das Mädchen bemerkt ihn, ihre Augen weiten sich. Mit einer Mischung aus Traurigkeit und Wut wendet sie den Blick ab.

„Hi, Beth. Darf ich mich zu Dir setzen?“

„Du hast ganz schön Nerven hier aufzutauchen, Jack.“ Beth sieht ihn immer noch nicht an. „Und Du stinkst. Was hast Du denn angestellt?“

„Tut mir leid, Beth. Ich kann Dir gar nicht sagen wie leid es mir tut.“ Der Baron hat sich auf dem freien Stuhl niedergelassen und versucht, Beths Blick einzufangen. „Ich wollte mich entschuldigen.“

Beth seufzt. Ihre Lippe zittert, und ihre Augen werden feucht. „Entschuldigen? Du hast meine beste Freundin gefickt! Hast Du überhaupt eine Ahnung wie weh das tut, Du dummes Arschloch?“

Mit einer sanften Berührung streift der Baron eine Träne, von Beths Wange „Ich weiß. Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe.“ Seine Stimme klingt so aufrichtig zerknirscht, dass Beth ihm in die Augen blickt. Auch er weint. „Hast Du vielleicht eine Zigarette für mich?“

„Du rauchst doch gar nicht.“Mit leicht zitternder Hand hält sie ihm die Schachtel hin. „Wie siehst Du überhaupt aus? Was hast Du für komische Sachen an?“

Der Baron blickt, wie überrascht, an sich herab. „Ich weiß auch nicht. Mein Leben geht den Bach runter, Beth. Ich hab’s total versaut. Ich hab’s mir mit Dir versaut. Das ist das Allerschlimmste.“

Beths Atmung wird kehlig und schwer, ihr Puls wird schneller. Mit zitternden Fingern greift sie nach einer weiteren Zigarette. Was ist nur mit ihr los?

„Du verdienst das hier gar nicht.“ Ruckartig wendet sie sich ab. „Ich sollte mich gar nicht mit Dir unterhalten.“

Der Baron beginnt zu sprechen. Beth versucht, sich auf seine Worte zu konzentrieren, will nicht den Faden verlieren. Irgendwie, so scheint es ihr, hat er wohl einen guten Grund gehabt. Klar, er hätte es nicht machen sollen, hätte sie nicht mir ihrer besten Freundin betrügen sollen, aber irgendwie… Was redet er bloß? Immer wieder schüttelt sie den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren, will zuhören. Doch das einzige, woran sie denken kann ist, wie verdammt sexy Jack in diesem seltsamen Gehrock aussieht.

Der Baron setzt sich neben Beth, legt seinen Arm um ihre Schulter. Erst will sie ihm entweichen, zuckt zurück, doch dann schmiegt sie ihr Gesicht an seinen Hals und saugt gierig seinen Geruch auf. Ihre Lippen suchen die seinen.

„Heißt das, Du verzeihst mir? Gibst Du mir noch eine Chance?“ Beth schaudert, als sie Jacks Atem an ihrem Ohr spürt. Sie will antworten, doch sie kann kaum sprechen. Stattdessen küsst sie ihn erneut, so leidenschaftlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Der Baron lächelt und erhebt sich, hilft der zitternden jungen Frau auf die Beine, und führt sie in Richtung der Toiletten. Jack, in seinem Gefängnis aus Fleisch, schreit und schreit, doch keiner kann ihn hören.

 

Ich schreie, doch meine heisere Stimme versagt augenblicklich.

Ich versuche, so weit wie möglich von dem Ding wegzukommen, das vor mir in der Toilettenkabine liegt. Ich spüre klebrige, feuchte Wärme unter meinem nackten Hintern, und als ich eine Hand vor die Augen hebe erkenne ich, dass sie bis zum Ellbogen rot gefärbt ist. Neben mir liegt ein Haufen seltsamer Kleider, die ich nicht kenne, die mir jedoch gehören müssen.

Ich ordne meine Gedanken. Ich kenne diesen Ort. Das hier ist die Toilette der Voodoo Lounge. Ich komme öfter mit Beth hierher. Aber das erklärt nicht, warum ich nackt bin und warum vor mir eine Leiche liegt.

Ich stehe auf oder versuche es zumindest. In meiner kaum unterdrückten Panik rutsche ich immer wieder in dem Blut aus. Mein Körper verweigert den Dienst. Mir ist so schwindelig, fast als wäre ich besoffen. Irgendwie schaffe ich es, mich aufzurappeln, halte mich am Toilettenpapierständer fest und werfe zum ersten Mal einen klaren Blick auf die Leiche.

So wie ich ist sie nackt, ein schmales, dunkelhaariges Mädchen. Sie liegt halb auf dem Bauch, ihr Gesicht wurde in die Schüssel gedrückt. Ich kann keine Verletzungen sehen, doch der ganze Boden ist rotverschmiert.

Ich presse die Zähne aufeinander und versuche, das Erbrochene wieder hinunterzuschlucken. Es kostet mich meine ganze Überwindung, das tote Mädchen an der Schulter zu berühren. Mit halb abgewandtem Blick versuche ich, sie herumzudrehen. Sie ist noch warm.

Wenn ich noch schreien könnte, würde ich es tun.

Ich blicke in die gebrochenen Augen von Beth, meiner Verlobten. Ihr Gesicht ist in einer schmerzverzerrten Grimasse erstarrt, ihre Haut ist kalkweiß. Ich stolpere zurück, falle wieder hin, krieche rückwärts, bis ich mit dem Rücken an die Tür stoße. Jemand hämmert gegen die Kabine und ich höre aufgeregte Stimmen, doch kann ich sie nicht verstehen. Immer wieder huscht mein Blick hektisch zwischen ihren anklagenden Augen und der blutigen Ruine, die einmal ihr Unterleib war, hin und her. Wer hat das getan? Wenn ich mich doch nur erinnern könnte wie ich hierher gekommen bin, dann…

Und es fällt mir wieder ein.

Durch die Wand der Toilettenkabine schiebt sich der Schädel des Barons. Sein Knochengrinsen wirkt noch breiter als sonst.

„Weißt Du, Jacky-Boy, ich habe keine Ahnung, was Du an ihr findest. Sie war ein jämmerlicher Fick.“

Er hat sich komplett durch die Wand gedrückt und vollführt pumpende Gesten mit seinem Unterleib. „Tut mir echt Leid, Jacky, aber sie hat den Ritt nicht überstanden.“

Er lacht und nach wenigen Augenblicken stimme ich in das Gelächter ein. Er hat mich zerstört. Jetzt hat er mir wirklich alles weggenommen.

Ich lache noch immer als die Tür hinter mir aufgebrochen wird.

 

Ich weiß nicht wie ich hierher gekommen bin.

Man hat mir gesagt, ich hätte Beth umgebracht. Hätte sie auf der Toilette der Voodoo Lounge vergewaltigt und ermordet, weil sie mit mir Schluss gemacht hat. Sie müssen lügen. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ich liebe Beth, liebe sie mehr als mein eigenes Leben. Ich könnte ihr niemals wehtun. Das weiß ich einfach.

Es muss eine Verschwörung sein. Ich wünschte, ich könnte einen klaren Gedanken fassen. Dann könnte ich bestimmt herausfinden, was hier passiert, aber die Beruhigungsmittel machen mich ganz dumpf. Ich bin mir sicher, ich werde jeden Moment aufwachen und feststellen, dass ich alles nur geträumt habe. Dass Beth noch lebt, und ich nicht in der Todeszelle sitze. Oder ist das hier eine perverse neue Gameshow?

Heute ist kein schlechter Tag. Ich kann halbwegs geradeaus denken. Diesen Vormittag hat mich meine Großmutter besucht. Die kleine alte Dame hat komisches Zeug geredet. Wenn sie aufgeregt ist, verfällt sie immer in ihr Französisch, und dann verstehe ich nur die Hälfte. Sie hat irgendwas davon gesagt, dass ich wie mein Großvater sei, dass auch er den Fluch in sich getragen habe. Sie hat irgendwas von „Cheval“ und einem seltsamen Baron gefaselt. Ich habe keine Ahnung wovon sie geredet hat. Wahrscheinlich macht es sie einfach verrückt, dass ihr Lieblingsenkel ein Mörder sein soll.

Man hat mir die Photos vom Tatort gezeigt. Es müssen Fälschungen gewesen sein. Niemand kann einem anderen Menschen so etwas antun. Ganz besonders nicht ich meiner Beth. Ich sei ganz von ihrem Blut bedeckt direkt vor ihrer Leiche aufgefunden worden. Ich hätte geschrien, hat man mir erzählt, dass ich es nicht war, dass er mich dazu gezwungen habe. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Verliere ich etwa meinen Verstand?

Die Träume wären ein Indiz dafür. Jede Nacht wache ich auf und schreie mir die Seele aus dem Leib. Ich weiß nicht genau, was ich träume, wie sollte es denn schlimmer sein als die Realität, in der ich mich befinde? Alles woran ich mich erinnern kann sind Knochen, blanke, fahle Knochen und ein Totenschädel ohne Fleisch, der mich auslacht. Manchmal höre ich dieses meckernde Gelächter sogar wenn ich wach bin. Was ist nur mit mir los?

Heute Morgen habe ich einen Brief gekriegt. Mein Hinrichtungstermin steht fest.

Warum nur habe ich schon vorher gewusst, dass es ein Samstag sein würde?

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Samstag von Daniel Mayer

in: Disturbania

Herausgeber: David Grashoff

Titelbild: Manfred Fischer

218 Seiten - Broschiert

ISBN: 978-3-936742-46-6

Verlag: Atlantis Verlag

erschienen Mai 2008

Erhältlich bei: Amazon

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


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Erstellt: 13.06.2008, zuletzt aktualisiert: 23.01.2015 17:18, 6696