Unheimliche Geschichten (Autor: Iwan Sergejewitsch Turgenjew)
 
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Unheimliche Geschichten von Iwan Sergejewitsch Turgenjew

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Unheimliche Geschichten betitelt der dtv seine Sammlung phantastischer Erzählungen von Iwan Sergejewitsch Turgenjew.

Dabei steht weniger das Unheimliche im Zentrum der sechs Geschichten, als vielmehr die gegensätzliche Betrachtungsweise einer unerklärlichen Situation oder Begebenheit.

Wie wir in dem sehr informativen Nachwort von Jurij Muršaov erfahren, verstand sich Turgenjew meisterlich darin, durch verschiedene Erzähler beide Seiten so gegenüber zu stellen, dass sowohl die wissenschaftliche Erklärung möglich scheint, als auch eine phantastische, ohne dabei in Mystizismus abzugleiten. Dabei bleibt der Hintergrund stets der Realität verpflichtet. Diese Realität ist bei Turgenjew in zunehmendem Maße eine entblößende Sicht auf die Zustände im zaristischen Russland.

Neben der jungen Psychologie, deren Ziel es in erster Linie war, Geistesgestörtheiten als heilbare Krankheiten aus der dunklen Nische zu holen, in der Unwissenheit und Furcht sie über Jahrhunderte gestellt hatten, orientierte sich Turgenjew bei seinen wissenschaftlichen Erklärungen am Zeitgeist. Magnetismus oder Elektrizität, aber auch Hypnose als aktive Beeinflusses des Geistes führte Turgenjew vor.

Schon früh, Drei Begegnungen erschienen bereits 1852, zeigt sich Turgenjews Lust an der Beeinflussung des Lesers, indem er ihm Informationen vorenthält und andere so darstellt, dass nur eine phantastische Erklärung übrig bleibt. Wie auch in Die Geschichte des Leutnants Jergunow ist der Protagonist zu keiner Zeit wirklich Zeuge eines unerklärlichen Vorfalls. Vielmehr verwickeln sich beide (durch erotische Ablenkung) in das Imaginäre, das sie sehen wollen. Die unbekannte Schöne, deren Existenz von allen geleugnet wird, oder das feenartige Geschöpf in der geheimen Kammer - der Protagonist durchdringt die wahren Hintergründe erst spät und mit ihm auch der Leser.

Auch in Gespenster geht es wohl nebenher um Erotik. Zu betont verführerisch ist der weibliche Schemen, der den Helden durch die Lüfte trägt und ihm Orte zeigt, deren Faszination und Absonderlichkeiten Turgenjew benutzt, um eigene Erinnerungen und Impressionen, bis hin zu philosophischen Konzepten mit einer fast faustischen Reise zu verbinden. Dass es den Anschein hat, hier sei ein Vampir am Werke, bekräftigt eher den ablenkenden Rahmen.

In Eine seltsame Geschichte geht Turgenjew sehr einfühlsam auf die Geschichte eines Mädchens ein, die versucht, aus den geistigen Doktrin ihrer Erziehung Konsequenzen zu ziehen und dabei zum Medium eines Predigers wird, der offensichtlich geistig verwirrt ist. Zunächst lernen wir jenen Mann als Beherrscher der Hypnose kennen, die wohl auch Symptom an seiner späteren Krise ist. Im Zentrum steht aber das Mädchen, dessen Schicksal Turgenjew für viele ähnliche erzählt und sich damit weit entfernt vom literarischen Tenor seiner Zeit. Diese verlorenen Kinder fanden Erwähnung hinter den Fächern feiner Gesellschaften, aber als literarische Figuren fanden sie erst nach und nach ihre Bedeutung, in dem Maße, wie der Realismus in der Literatur Fuß fasste. Nicht umsonst hatte Turgenjew Zeit seines Lebens mit der Zensur zu tun.

Überaus tief erkundet Turgenjew den Charakter seines Offiziers Tegljow in Stuck … stuck … stuck. Auch hier bildet das Geflecht aus gesellschaftlicher Trennung der Klassen und den daraus folgenden Dünkeln, den Hintergrund für eine mysteriöse Geschichte, in die sich der Offizier verfängt, weil er gar nicht anders kann. Dabei steht durch den Erzähler für den Leser stets das reale Geschehen plastisch vor Augen. Das Drama entwickelt sich zwangsläufig und zugleich parallel zum Erzählrahmen.

Ähnlich erleben wir es in Vater Alexejs Erzählung. Der vom Leben gestrafte Pope gibt Auskunft darüber, warum sein Gesicht „so abgetötet“ erscheine. Mit seinen eigenen Worten und fern von jeglicher wissenschaftlichen Erklärung beschreibt er einen typischen Fall von Schizophrenie, der sein Sohn zum Opfer fiel. Ganz in seiner religiösen Ausbildung gefangen, geht es um Teufel und Sünde, bis zuletzt vermag er nicht das Krankhafte im Verhalten seines Sohnes zu erkennen. Neben den tiefen Einblicken in das Leben eines Dorfpopen, beeindruckt die Erzählung vor allem durch diese raffinierte Schachtelung der Erzählebenen, wie eigentlich in allen hier versammelten Geschichten.

 

Mit dem Nachwort und einer nützlichen Zeittafel versehen, rundet der dtv das ausgezeichnete Bändchen ab.

 

Fazit:

In Zeiten geradliniger Erzählstrukturen und der Verwendung immer gleicher Motive, kann eine Sammlung phantastischer Geschichte, wie diese hier von Turgenjew, den Blick öffnen, für erzählerische Meisterschaft, für filigrane Komposition und einem feinen Spiel mit den Erwartungen der Leser. Und ganz nebenbei lernt man eine ganze Menge über die Welt des 19. Jahrhunderts. Eine Sammlung erstklassiger Weltliteratur, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240425025031114b3ad4
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Buch:

Unheimliche Geschichten

Autor: Iwan Sergejewitsch Turgenjew

Übersetzerin: (u.a.) Ena von Baer

dtv, März 2008

Broschiert, 235 Seiten

Mit einem Nachwort von Jurij Murašov

 

ISBN-10: 3423136448

ISBN-13: 978-3423136440

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Inhalt:

Drei Begegnungen, 1852

Gespenster, 1864

Die Geschichte des Leutnants Jergunow, 1868

Eine seltsame Geschichte, 1870

Stuck … stuck … stuck, 1871

Vater Alexejs Erzählung, 1877

 


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Erstellt: 04.06.2008, zuletzt aktualisiert: 08.10.2023 14:31, 6629