Verwenden von cthuloider Meisterwerke
von Wolfgang Schiemichen
_"Call of Cthulhu" ist nicht nur ein Rollenspiel, das auf einer literarischen Vorlage aufbaut, es ist auch ein Spiel, dessen Stimmung auch auf den vielfältigen Handouts und nicht zuletzt auf den geheimnisvollen, uralten Büchern aufbaut, die während des Spielgeschehens aufzufinden sind und in Auszügen in jedem Szenarioband in reichlicher Auswahl abgedruckt werden.
Und da setzt schon ein häufig anzutreffendes Missverständnis ein. Denn dass sie so reichlich vorhanden sind, heißt noch lange nicht, dass sie auch alle unbedingt eingesetzt werden müssen. Denn die Buchauszüge wurden nicht nur als konkrete Spielhilfen konzipiert, sie wurden auch entworfen, um den Szenarien insgesamt etwas mehr mysteriösen Hintergrund zu verleihen und dem Spielleiter Hintergrundmaterial in die Hand zu geben, das er auch für sich selbst als Information verwenden kann. Was davon die Spieler wirklich in die Hand bekommen, hängt dann vom individuellen Spielgeschehen ab. Wenn in einem gekauften Szenario Hinweise gegeben werden, wo etwas zu finden ist, heißt das noch lange nicht, dass die Spieler es dort dann auch tatsächlich finden müssen. Der Autor dieses Artikels, der gleichzeitig für mehr als 90% der fiktiven Buchauszüge verantwortlich ist, hat in seinen eigenen Spielrunden bisher noch kaum wirklich alle Auszüge eingesetzt, die zu finden möglich gewesen wären.
Hinzu kommt, dass in länger bestehenden Gruppen die Charaktere schon das eine oder andere extrem seltene Buch besitzen, das dann in einem späteren Abenteuer schon wieder gefunden werden kann. Was hieße, dass äußerst rare und seltene Werke, die eigentlich meist nur nach mühseligem Recherchieren aufzufinden sind, plötzlich wie Kartoffeln im Sonderangebot überall herumliegen. Das ist natürlich nicht Sinn der Sache. Trifft derartiges ein, was z.B. in der Kampagne "In Nyarlathoteps Schatten" durchaus der Fall sein kann, sollte sich ein Charakter, der schon das betreffende Buch besitzt, auf Spielleiterwunsch hin "erinnern" können, die neuen Passagen gelesen zu haben, nicht aber erneut das gleiche Buch finden. Es wäre absurd, seltene Mythosbücher wie Sand am Meer in den Abenteuern herumliegen zu lassen.
Überhaupt ist es sehr entscheidend, wann Spieler einen Textauszug in die Hand bekommen. Steht da zum Beispiel: "... und der große Fitzlipuzzi wird den ersten Kreis der Hölle öffnen, wenn ein nichts ahnender Träumer ihn im Traum berührt und sich so der neblige Mond grün verfärbt ..." wird das jeder für verblasenes Geschwätz halten, wenn er nicht vielleicht selbst seltsame Träume gehabt hat, erleben musste, wie der Mond sich grün färbt und sich nun weitere mysteriöse Dinge ereignen. Die Buchauszüge selbst, gleich was sie auch darstellen vermögen, sind nie von sich aus unheimlich. So etwas ist nur schwer möglich, zumal sie ja von Menschen geschrieben sind.Unheimlich sind sie nur dann, wenn ihr Inhalt in der konkreten Situation die Befürchtungen der Spieler verstärkt Der umständlich geschriebene, komische Text ist auf einmal gar nicht mehr komisch, wenn man feststellt, dass man unbeabsichtigt genau das hervorgerufen hat, was darin beschrieben ist, oder wenn mysteriöse Ereignisse eine sehr dunkle, blutige Bedeutung erhalten.
Doch geht das Problem tiefer und weiter. Denn in Lovecrafts Geschichten ist in ihnen das nichtmenschliche Wissen der Mythoskreaturen festgelegt, ein Wissen, was nicht für den menschlichen Geist geschaffen und geeignet ist und aufgrund dessen jeden in den Wahnsinn treibt, der sich mit diesem Wissen beschäftigt. In einer nur lose zusammenhängenden, vagen literarischen Vorstellungswelt mag es angehen, ständig von unaussprechlichen, unbeschreibbaren Büchern zu reden, von in den Wahnsinn treibenden, nicht beschreibbaren Dingen.
Aber wie soll man sich das in einem Rollenspiel vorstellen, das vorgibt, eine Semi-Realität zu schaffen, und in dem viele Spieler nur zu gerne das tun, was die literarischen Gestalten in den Geschichten auch tun, nämlich Bücher zu lesen, die unsäglich unbeschreibbar sind? Ohnehin ist es besser, Lovecrafts Vorstellungen nicht allzu genau zu hinterfragen, denn sonst würde man darüber schnell stolpern, dass unbeschreibbares Wissen in Dutzenden Werken zu finden ist, und nicht zuletzt kreist um einen Stern namens Celaeno eine ganze Bibliothek mit Büchern außerirdischer Büchernarren.
Wie also sollte man sich diese Bücher wie das Ur- Necronomicon vorstellen? Nicht als Buch, jedenfalls. Der menschliche Geist versucht ständig, verständliche Begriffe für etwas zu finden, das eigentlich unverständlich ist. Wenn nun das nichtmenschliche Wissen für den menschlichen Geist nicht verständlich und damit auch nicht greifbar ist, wird er dennoch versuchen, dafür einen Begriff zu finden aber der Begriff ist falsch, denn die Sache, um die es geht, ist ja nicht greifbar. Also weiß ein Mensch in dem Moment, in dem er einen Begriff findet, schon, dass dieser Begriff nicht greift. Durchaus ein Grund, darüber wahnsinnig zu werden. Und warum erkennt jemand etwas als Buch, das gar kein Buch ist. Eine Erklärung dafür finde man bei Lyall Watson und dem Anthropologen Edmund Carpenter. Der schreibt, dass die Wahrnehmung des Menschen sich in dem Moment änderte, als er Lesen und Schreiben lernte: "bei dem Wechsel vom Sprechen zum Schreiben gab der Mensch ein Ohr für ein Auge auf und verlagerte sein Interesse vom Geistigen zum Räumlichen, von der Verehrung zum Nachschlagen, und alle inneren Zustände werden heute als äußere Wahrnehmung beschrieben. Die Vielfalt unserer Sinne wurde einem einzigen, dem Gesichtssinn , untergeordnet. Ihm allein trauen wir heute, und von jeder Wahrheit erwarten wir, dass sie dem entspricht, was wir sehen, und beobachten können."
Wenn aber Lesen wie selbstverständlich in die Welt moderner Menschen gehört und zum Symbol für Wissen und Bildung geworden ist, liegt es doch nahe, dass ihnen auch Unbegreifliches in Büchern niedergelegt zu sein scheint. Aber da es im Allgemeinen keine wirklichen Bücher sind, oder Bücher, die nicht übliches Wissen enthalten, wird hier vorgeschlagen, sehr darauf zu achten, wie Bücher im Spiel eingebracht werden.
Da wären etwa Dinge wie das Ur-Necronomicon, das Al-Azif, oder die Celaeno Fragmente, das Ghorl Nicral, angeblich geschrieben in einer nichtmenschlichen Sprache. Diese "Bücher" sollten von dem Spielleiter gar nicht mehr als Bücher beschrieben werden, sondern als etwas, was von dem Charakter zwar als Buch wahrgenommen wird, definitiv aber keines ist. Ein Buch, das sich in eine vielköpfige Hydra zu verwandeln scheint, oder ein Buch, dessen Seiten sich dunklen Nachtfaltern gleich aus der Bindung lösen und davon flattern. Oder eines, welches die Charaktere in sich einzusaugen scheint. Es gibt da viele Möglichkeiten, die dem Spielleiter auch überlassen sein sollten. In zukünftigen Szenarien aber werden Hinweise gegeben werden, wie der Spielleiter diese Bücher beschreiben kann, wenn sie in Erscheinung treten sollten.
Der überwiegende Anteil der im Regelwerk aufgeführten Mythosbücher und der in Auszügen Widergegebenen beruhen auf Werken, die von Menschen geschrieben wurden. Was heißt, dass sie sehr wohl verständlich und lesbar sein müssen. Alle dieser Bücher enthalten aber auch mehr oder weniger jenes Wissen, welches für Menschen nicht geeignet sein soll. Was heißt, dass der Spielleiter entsprechende Bände und Auszüge nicht so präsentieren darf, als würden die Spieler die Zeitung vom nächsten Tag in der Hand halten.
Haben die Bücher einen geringeren Anteil an Mythoswissen, sollte das immerhin noch ausreichen, die Spieler in eine depressive Stimmung zu drücken, die Welt nur in bestimmten Licht oder aus einer bestimmten Weltsicht heraus zu betrachten, Farben intensiver oder auch überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, und andere Dinge. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wie es war, als man selbst von einem Buch oder einem Film besonders beeindruckt war. Wie lange lebte man in dessen Stimmung? Vielleicht möchte der Charakter ja nach dem Lesen die ganze Welt umarmen, vielleicht sieht er in jedem Schatten die Ungeheuer lauern. Vor nicht allzu langer Zeit wurde in einem Film die Geschichte einer unglücklichen Liebe in Budapest und die des todtraurigen Liedes erzählt, das der Liebhaber, ein Komponist, daraufhin schrieb. Dieses Lied soll tatsächlich existiert haben, und es soll so traurig gewesen sein, dass es mehrere Menschen in den Tod getrieben hat. Warum sollte ein derartiger Effekt nicht auch von einem Buch ausgehen, in dem Mythoswissen enthalten ist?
Enthält ein Werk wie "Der König in Gelb" einen höheren Anteil an Mythoswissen, mögen die oben beschriebenen Effekte noch zu schwach wirken. Da könnte es dann etwas verstärkt zugehen, etwa:
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Wahrend der Betreffende das Buch liest, hört er ständig im Wind Stimmen flüstern, weiß aber genau, dass er nicht wahnsinnig ist und diese Stimmen, obwohl sie nicht existieren dürften, dennoch vorhanden sind.
Der Lesende nimmt selbst den Geruch des Buches an. Riecht dieses beispielsweise süßlich-schimmelig und nach Moder, ist es das spezielle Parfüm des Charakters, mit dem er sicherlich sehr viel Aufmerksamkeit erregt.
Der Lesende ist nur noch in der Lage, das Mythosbuch zu lesen. Alle anderen Texte versteht er nicht mehr, oder sie verwandeln sich vor seinen Augen in Auszüge aus dem Mythosbuch. Dies endet erst, wenn er die Lektüre des Mythosbuches beendet und dieses verstanden hat.
Das Buch verändert seine Lage und weicht nie aus dem Blickfeld seines Besitzers. Verbirgt er es unter anderen Büchern, muss er feststellen, dass der gewisse Band die anderen wie ein wildes Pferd abgeworfen hat, die dann verstreut im Raum liegen.. Steht es zwischen anderen Büchern, lenkt es automatisch alle Blicke auf sich.
Das Buch hat eine derart böse, tödliche Ausstrahlung, dass in seiner Nähe Hunde und Katzen, aber auch kleine Kinder sterben können.
Diese Ausstrahlung wirkt sich auch auf den Lesenden selbst aus, der ständig in schlechtem gesundheitlichen Zustand sein könnte, unter Pilzinfektionen leidet, aber auch mysteriösen Krankheiten, die nur sehr selten in Erscheinung treten.
Der Leser leidet unter Schlaflosigkeit und Alpträumen, was ihn gereizt werden lässt und unverhältnismäßig aggressiv reagieren.
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Was nun genau eintreffen könnte, sollte der Spielleiter nach eigenem Ermessen beurteilen. So wie alle diese erwähnten Unannehmlichkeiten nicht der von den Büchern hervorgerufene Wahnsinn sind, können sie ebenso wenig einen der Lesenden in den Wahnsinn treiben. Wahnsinnig könnte nur der werden, der das Buch vollständig gelesen und verstanden hat. Dann erst dann offenbart sich ihm auch der Gesamtzusammenhang des Buches.
Daher stellen die in den Szenarien abgedruckten Auszüge keineswegs vollständige Bücher da, sondern nur kurze Auszüge, auf die jemand beim Durchblättern aufmerksam wird. Diese allein können nicht in den Wahnsinn treiben, sie können allerhöchstens verunsichern und dunkle Ahnungen hervorrufen. Daher gilt hier, dass Charaktere erst dann in den Besitz des Mythoswissens kommen, wenn sie die Bücher vollständig gelesen haben. Auch dann erst verlieren sie möglicherweise all ihre geistige Stabilität. Wer ein Buch nur durchblättert und sichtlich nicht versteht, kann dadurch auch kaum an Stabilität verlieren (nach den Regeln verliert man ja für das Durchblättern eines Buches einen deutlich geringeren Betrag an geistiger Stabilität).
Nachbemerkung: Der Artikel entstand aus einer Diskussion heraus, die sehr angeregt im Cthulhu-Forum geführt wurde. Einige der erwähnten Vorschläge stammen aus dieser Diskussion, andere wurden dem "Unspeakable Oath" No.16/17 entnommen. Die Begründung für die Existenz "unaussprechlicher Bücher" stammt aus Lyall Watsons "Die Grenzbereiche des Lebens.
Quelle: Pegasus Spiele
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