88 Namen (Autor: Matt Ruff)
 
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88 Namen von Matt Ruff

Rezension von Matthias Hofmann

 

Rezension:

Eins ist klar: Alle, die wissen, was ein MMORPG ist und an einem solchen schon einmal teilgenommen haben, werden das neuste Buch von Matt Ruff mit einigem Genuss lesen können. Den anderen werden möglicherweise gewisse Nuancen entgehen.

 

Für die, die noch nie von dieser Abkürzung gehört haben: MMORPG steht für »Massively Multiplayer Online Role-Playing Game«. Zu Deutsch: Online-Rollenspiel für eine große Anzahl von Spielern. Wir sprechen hier von einer großen Masse. Wie in: »einige Tausend«. Alles online im virtuellen Raum. Die Spieler schlüpfen mit Hilfe eines Avatars in eine Rolle und gehen völlig darin auf. Zu den bekanntesten Vertretern gehört World of Warcraft.

 

Laut eigenen Angaben war Ruff schon am Rollenspieltisch als das Pen-&-Paper-Rollenspiel Dungeons & Dragons Anfang der 1980er Jahre weltweit die Jugend zu begeistern begann. Irgendwie hat ihn die Vorstellung nie losgelassen, diese Thematik in einem Roman zu verarbeiten. Inzwischen liegt das Ergebnis auf Deutsch vor, in Form seines neusten SF-Romans mit dem Titel 88 Namen.

 

Worum geht es? Die Handlung spielt ca. 20 Jahre in der Zukunft. John Chu ist nicht nur ein typischer »Digital Native«, der mit dem Internet aufgewachsen ist. Wenn er nicht schläft, verbringt der die meiste Zeit in einer digitalen Welt, denn Onlinespiele haben sich vom herkömmlichen Computer- oder Konsolenspiel weiterentwickelt. Chu arbeitet als Sherpa in dem Spiel Call to Wizardry der Firma Tempest. Als versierter Kenner der Virtual-Reality-Welt führt der gegen Bezahlung Anfänger durch eben diese. Er verhilft ihnen zu interessanten Avataren, rüstet sie aus, hilft ihnen und besteht mit ihnen Abenteuer, sodass sie sehr viel Zeit sparen, ohne sich erst mühsam und aufwendig alles erarbeitet zu müssen. Richtige Spieler bewerten so etwas natürlich als »Cheat«, zu Deutsch, Betrug. Es ist auch illegal, weshalb Tempest solche Aktionen unterbindet.

 

Aber wenn man viel Geld, aber wenig Zeit hat, kann es einem egal sein. Einer der viel Kohle und wenig Muße zum Aufbau seines Charakters hat, ist ein ominöser Kunde namens »Mr. Jones«. Er meldet sich durch ein Avatar namens Smith. Zuerst vermutet Chu, dass es sich hierbei um seine Ex-Freundin Darla handelt, die sich mit ihm einen Scherz erlauben will, aber als die ersten 100.000 US-Dollar von weiteren gleichhohen wöchentlichen Zahlungen auf seinem Konto erscheinen, nimmt er die Sache dann doch ernst. Die Sache wird noch mysteriöser, als er von einer Chinesin kontaktiert wird, die ihm das Doppelte wie Smith zahlen will, wenn er Mr. Jones ausspioniert. Chu vermutet, dass es sich bei Jones um Kim Jong-un, den »Obersten Führer« der Demokratischen Volksrepublik Korea handeln könnte …

 

»88 Namen« ist gute Unterhaltung für Geeks und Nerds, die aber wahrscheinlich eher selten zu so einem Roman greifen, um sich wirklich unterhalten zu lassen. Ruff hat viel Insider-Klimbim in seinen Stoff verwoben, was sich an den satirischen und mitunter wirklich doppeldeutigen Intros für jedes Kapitel zeigt.

 

Mehrfach gibt es u. a. Begriffserklärungen aus dem Wörterbuch »The New Devil’s Dictionary«. So wird das Wort »Kulturschock« dort wie folgt beschrieben: »Das Gefühl gründlicher Desorientierung bei Kontakt mit fremden Ansichten oder einem fremden Lebensmodell. Einst waren hauptsächlich Immigranten, Soldaten und reiche Touristen davon betroffen, doch das Internet hat den Kulturschock demokratisiert, und jetzt steht er allen rund um die Uhr zur Verfügung. Ob die Zivilisation den dadurch entstehenden Stress überstehen wird, ist noch unklar.«

 

Oder: Ein komplettes Kapitel hat Ruff geschrieben wie ein altmodisches Textadventure, was die älteren Semester an Spiele wie The Hobbit erinnern dürfte, das Anfang der 1980er Jahre auf Heimcomputern wie dem ZX Spectrum von Sinclair oder dem C64 (Commodore 64) gespielt wurde. Diese hatten enorme Arbeitsspeicher zwischen 16 und 64 KB. Das ist nicht nur witzig zu lesen, da kommen längst vergessen geglaubte Erinnerungen auf, gerade wenn man damals Spiele wie Mystery House, The Hobbit, Maniac Mansion oder Leisure Suit Larry gespielt hat.

 

Wer sich noch nie mit Computerspielen beschäftigt hat, könnte die Lektüre von »88 Namen« eher verwirrend bis zäh empfinden. Wer sich auskennt und sich dafür interessiert, dürfte sich prächtig amüsieren.

 

Insgesamt betrachtet ist der neuste Roman von Matt Ruff aber nur nett. Kein Vergleich mit dem fulminanten Lovecraft Country, das mehr als nur eine Hommage an H. P. Lovecraft und Weird Fiction ist, sondern die ganze Wucht des Rassentrennung in den USA der 1950er Jahre deutlich macht, sowie sozial- und gesellschaftskritische Aspekte mit Spannungsliteratur, Fantastik und coolen Dialogen vermengt. Den Autor Matt Ruff muss man aufgrund seiner vorigen Werke trotzdem weiterhin im Auge behalten. Möglicherweise ist »88 Namen« nur ein Ausrutscher, eine Art Fingerübung, geschrieben, weil er Lust darauf hatte. Und weil er es konnte.

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Buch:

88 Namen

Original: 88 Names, 2020

Autor: Matt Ruff

Taschenbuch, 336 Seiten

Fischer TOR, 25. November 2020

Übersetzung: Alexandra Jordan

Titelillustration: Mark Owen

 

ISBN-10: 3596700930

ISBN-13: 978-3596700936

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B087FD5YD3

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 25.02.2021, zuletzt aktualisiert: 04.09.2023 15:36, 19478