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Lebendig begraben

Artikel von Karin Reddemann

 

Bei lebendigem Leib begraben zu werden muss per se grauenvoll sein. Um sich das vorstellen zu können, genügt den wirklich Phantasievollen unter uns eine geschlossene Liege im Solarium. Oder die Röhre im Krankenhaus. Augen zukneifen, Atem anhalten, jedes weltliche Geräusch ignorieren, die Arme eng an den Körper pressen, die Beine steif machen. Fest daran glauben, dass man allein ist. In einer Kiste liegt. Irgendwo unten. Dass die Luft eigenartig riecht, nach der man schnappt. Dass das irgendwann nicht mehr geht. Dass man da nie wieder rauskommt.

So geht das. Ansatzweise. Vielleicht.

 

Detailliert in ihrem ganzen Grauen kommt die Szene natürlich nicht rüber. Tatsächlich muss das auch nicht sein. Zu wissen, dass es passieren könnte, reicht aus, um ein definitiver Angstmacher zu sein. Es ist bei weitem nicht so wahrscheinlich, wie einem zu begegnen, der schlitzt, sägt, beißt, brennt, auseinanderreißt, zerstückelt, verbrüht, seziert, verdammt, verflucht oder sonst was Übles im Sinn hat. Aber es ist im Bereich des realistisch denkbaren Horrors, der nach uns packt. Schwarze Klauen in absoluter Finsternis. Man sieht sie nicht, man spürt sie nur. Es wird heiß. Und dann entsetzlich kalt.

Gnadenloses Aus

Für den Fall der Fälle sollte man trainieren. Die göttliche Beatrix Kiddo alias Paula Schultz lässt Quentin Tarantino in Kill Bill 2 (2004) von einem miesen Schurken lebendig begraben. Gefesselt liegt sie in ihrem hölzernen Sarg, hört, wie Erde auf ihn geschaufelt wird, sieht ihren Körper in der Dunkelheit eintauchen, aufgebahrt in lichtleerer enger Höhle, weiß, dass irgendwo da oben ihr Vollstrecker steht und den Mond, die Sterne, die Rache für sich allein beansprucht. Nie wieder … Es wäre so grausam unabwendbar, jetzt zu sterben.

Auf diese gnadenlose Art. Aber sie kommt davon.

 

Freilich eben auch auf jene ungewöhnliche Art, die leider herzlich wenig greifbare Hoffnung für uns zulässt. Wir haben nicht bei Pai Mei gelernt. Sie aber. Sie kämpft. Und wie sie kämpft in ihrem Sarg, nachdem sie sich mit einem im Stiefel versteckten Rasiermesser von den Fesseln befreit hat, ist einmalig und umso einmaliger, weil sie es mit Morricone-Musik macht. L'Arena aus Il Mercenario ist ihr Tempo, ihre Besessenheit, ihr Ziel. Ihre Faustschläge. Gezielt, kurz, schnell. Unter das Holz, in das Holz, durch das Holz. Wie schließlich Erde auf ihr Gesicht fällt, sich auf sie stürzt durch die zerberstende Kiste, wie es wieder unerträglich finster wird und sich der Arm wie eine Fackel aus dem Boden streckt … das ist so verdammt gut. Und verdammt selten.

 

Lebendig begraben zu werden heißt alltagstauglich, dass nichts mehr geht. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Uma Thurman, Tarantinos Superfrau, ist da klar kein repräsentatives Vorbild. Wobei es auch Ray Milland in der Rolle des exzentrischen und unter extremer Taphephobie (Angst vor Scheintod und den Konsequenzen) leidenden Guy Carrell in Lebendig begraben gelingt, aus seinem Grab zu entkommen. Und Rache zu üben an denen, die ihm aus Gier, an sein Vermögen zu kommen, das für ihn Grauenhafteste angetan haben: Ihn zu beerdigen, obgleich er noch lebte.

Schwarzer Humor der Angst

Der Film (1962, Regie: Roger Corman) basiert auf der mit schwarzem Humor gespickten Horror-Kurzgeschichte The Premature Burial (Das vorzeitige Begräbnis) von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1844, in der ein namenloser Ich-Erzähler sich die in viktorianischer Zeit weit verbreitete Panik davor, vorschnell unter die Erde gebracht zu werden, zum Thema macht.

 

Poe, der sein Leben lang mit kataleptischen Anfällen (totenähnliche Starre des Körpers) zu kämpfen hatte, verarbeitete die düstere Ur-Angst auch in weiteren Erzählungen wie The Fall of the House Usher (Der Untergang des Hauses Usher, 1839, 1960 verfilmt von Corman mit Vincent Price als Hauptdarsteller) und The Cask of Amontillado (Das Fass Amontillado, 1846).

 

Poe ist wahrlich nicht der Einzige mit großem Namen, der sich sorgte, dass man ihm versehentlich allzu hastig den Totenschein ausstellen könnte. Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) ordnete notarisch an, seinen Körper erst bei deutlich erkennbaren Anzeichen von Verwesung zu bestatten. Märchendichter Hans Christian Andersen (1805–1875) wollte, dass seine Pulsadern nach seinem Tod, – oder eben nicht –, aufgeschnitten werden, das war kein seltener Wunsch zu seiner Zeit. Andersen soll auch vor dem Schlafengehen Zettel auf seine Nachtkonsole gelegt haben mit dem Hinweis, er sei tatsächlich nur scheintot. Ähnlich ernsthafte Nachrichten deponierte der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821–1881) gewohnheitsmäßig neben seinem Bett. Mahnender Wortlaut:

 

»Sollte ich in lethargischen Schlaf fallen, begrabe man mich nicht vor … Tagen!«

 

Die Dramatiker Johann Nestroy (1801–1862) und Arthur Schnitzler (1862–1931) wünschten einen nachträglichen Stich ins Herz, um auf Nummer Sicher zu gehen. Der Dolchstoß und das Öffnen der Pulsadern durch einen anwesenden Arzt war vom 17. bis ins 19. Jahrhundert eine durchaus übliche Vereinbarung. Man war irritiert, mehr noch, zutiefst verschreckt von Berichten über Leichenausgrabungen, die keinen Zweifel daran ließen, dass die vermeintlich Verstorbenen noch gelebt hatten. Man sprach und schrieb von suspekten Positionen, in denen die Exhumierten vorgefunden wurden, von aufgerissenen Augen und Mündern, Kratzern am Holz und abgewinkelten Armen, die gegen den Sargdeckel drückten.

Leichenausgrabungen

Um einen qualvollen Erstickungstod zu vermeiden, gab es mit Gas gefüllte oder gänzlich offene Särge, diese bei Interesse auch mit Leitern ausgestattet, um bequem aus dem Grab klettern zu können. Kleine Glocken an den Fingern der Beerdigten oder Signalgeräte, die griffbereit neben ihnen lagen, sollten zudem das Risiko beim eventuellen Wachwerden verringern, dass niemand da oben das mitbekommen könnte.

 

Versehentlich lebendig begraben zu werden ist keine Angelegenheit, die zerknirscht entschuldigt werden kann. Zu ihrer bescheidenen Verteidigung sei angemerkt, dass unzählige überstürzte Bestattungen in der Vergangenheit aufgrund von Epidemien vorgenommen wurden. So viele entsetzlich Kranke und Sterbende, in jeder Ecke, jeder Pore die Gefahr, sich anzustecken, medizinische Grenzen, hastige Diagnosen … es war nicht die Zeit für pedantische Untersuchung und tagelange Totenwache.

 

Das alles ist gottlob seltener geworden, zumal man längst schon nicht mehr allein auf fehlende Pupillenreaktion, geringe Körperwärme, erschlaffte Muskulatur, Atem- und Herzstillstand und allzu blasse Haut vertraut. Totenflecken, Totenstarre, ansetzende Fäulnis sind allemal die sichersten Zeichen, während Spiegel vor dem Mund, Feder vor der Nase, Wassergläser auf dem Bauch und Salzlösungen in der Kehle zu den Methoden gehören, die auf die falsche Fährte führen können. Nicht empfehlenswert ergo.

Im alten Rom

Noch leichtgläubiger handhabte man es im alten Rom: So genannte Pollinctores wuschen die wohl höchstwahrscheinlich, eventuell aber auch noch nicht Verstorbenen mit warmem Wasser, drückten ihnen die Augen zu und riefen sie mehrmals namentlich. Wenn sie sich nicht rührten, wurden sie auf den Boden gelegt, mit einem Tuch bedeckt und galten offiziell als Leichen. So ganz korrekt war das oft nicht, es gibt unschöne Berichte von Zeitzeugen. Die erzählen denn freilich auch von Menschen, die durchweg beabsichtigt lebendig begraben worden sind. Ihre Begräbnisse bei lebendigem Leibe gehörten zu Opferzeremonien oder waren Hinrichtungen.

 

Zum bewusst erlebten Tod unter der Erde bestimmt zu werden war ehemals eine vielleicht nicht generell übliche, zweifellos aber in bestimmten Fällen verhängte Strafe, eine Grausamkeit, die dem Horrorfilm-Genre in all ihren düsteren Facetten immer wieder als Stoff dient.

 

In Dolan’s Cadillac, der Verfilmung einer King-Kurzgeschichte aus Alpträume (2009, Regie: Jeff Beesley) begräbt ein Mann als Vergeltung für seine gewaltsam umgekommene Frau den Gangsterboss Dolan mitsamt seinem Auto in der Wüste und lässt ihn ersticken. In Coffin (2011, Regie: Kipp Tribble und Derek Wingo) rächt sich ein gehörnter Ehemann, indem er seinen Erpresser lebendig unter die Erde bringt. Im Thriller Buried (2010, Regie: Rodrigo Cortés) erzielt die klaustrophobische Kerkerlage schaurige Hochspannung, und im thailändischen Coffin (gleicher Titel) aus dem Jahr 2008 (Regie: Ekachai Vekrongthan) wird zwei Menschen ein alter Brauch zum Verhängnis: Sie legen sich für eine gewisse Zeit in Särge, um sich vor Unglück und Tod zu schützen. So was kann nie gut ausgehen, es ist auch eine durchweg dumme Idee, sich aus freien Stücken lebendig begraben zu lassen. Schlimm genug, wenn es unfreiwillig passiert. Sagt der Meister:

Edgar Allan Poe

»Tatsächlich finden kaum je in einem Friedhof umfangreiche Umgrabungen statt, ohne daß Skelette aufgefunden werden, deren Haltung die fürchterlichsten Vermutungen rechtfertigt.«

»Fürchterlich die Vermutung, doch fürchterlicher noch das Schicksal selbst! Es ist nicht zu viel gesagt mit der Behauptung, daß kein Ereignis so grauenvoll geeignet ist, Leib und Seele aufs äußerste zu schrecken, wie das Lebendigbegrabensein. Der unerträgliche, atemraubende Druck – die erstickenden Dünste der feuchten Erde – das hemmende Leichengewand – die harte Enge des schmalen Hauses – das Dunkel vollkommener Nacht – die alles verschlingende Woge ewiger Stille – die unsichtbare, doch fühlbare Nähe des Eroberers Wurm – diese Dinge und der Gedanke, daß droben die Gräser im Winde wehn, und die Erinnerung an liebe Freunde, die, wenn sie nur unser Schicksal ahnten, zu unserer Rettung herbeieilen würden, und das Bewußtsein, daß sie dies Schicksal nie erfahren werden – daß wir ohne alle Hoffnung zu den wirklich Toten zählen – diese Betrachtungen, sage ich, tragen in das noch pulsende Herz ein so namenloses Grauen, wie selbst die stärkste Phantasie es nicht beschreiben kann.«

(Edgar Allan Poe)

 

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Erstellt: 27.03.2020, zuletzt aktualisiert: 31.05.2022 08:09, 18454