Die Unvollkommenen von Theresa Hannig
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Bundesrepublik Europa, 2057: Es herrscht Frieden in der Optimalwohlökonomie, einem lückenlosen Überwachungssystem, in dem mithilfe von Kameras, Linsen und Chips alles erfasst und gespeichert wird. Menschen und hochentwickelte Roboter sollen Seite an Seite leben. Störenfriede werden weggesperrt.
So auch die Systemkritikerin Lila. Als sie im Gefängnis aus einem künstlichen Koma erwacht, stellt sie fest, dass ihr schlimmster Albtraum wahr geworden ist: Die BEU wird von einer KI regiert. Samson Freitag wird als Gottkönig verehrt und erpresst von den Bürgern optimalkonformes Verhalten. Für Lila steht fest, dass sie Samsons Herrschaft und die Entmündigung der Menschen beenden muss. Ihr gelingt die Flucht, doch Samson spürt sie auf und bietet ihr einen Deal an, den Lila nicht ausschlagen kann …
Rezension:
Mit ihrem Debüt Die Optimierer startete 2017 Theresa Hannig ihre Reise in die dystopische Zukunft der Bundesrepublik Europa und konnte dafür 2018 den Seraph aus Leipzig mit nach Hause nehmen.
Die Unvollkommenen setzt das Geschehen nun fort.
Paula Richter, genannt Lila, wurde wegen diverser Straftaten, darunter Hochverrat, zu lebenslanger Verwahrung verurteilt. Was das tatsächlich für sie bedeutet, findet sie erst allmählich heraus, als man sie in ein »Internat« bringt. Dabei handelt es sich um eine Art Luxusgefängnis in der Villa Baltic in Kühlungsborn, direkt an der Ostsee. Das Personal besteht aus Androiden und Drohnen, die Insassen sind überwiegend Kriminelle, die mit Diebstahl, Mord und Vergewaltigung gegen die Regeln der Optimalwohlökonomie verstießen. Und noch etwas bringt man Lila bei: Sie befand sich fünf Jahre in einer Art künstlichem Koma. Jeder Regelverstoß bringt sie dorthin zurück, raubt ihr weitere, bewusste Lebenszeit. Das Internat soll fortan und für immer ihr Zuhause sein.
Für Lila ist schnell klar, dass sie es in diese goldenen Käfig nicht ewig aushalten wird und ist daher froh, einen anderen politischen Gefangenen kennen zu lernen: Eoin Kophler. Der ein paar Jahre ältere Mann kann wegen einer Hirnverletzung nicht lange in der Verwahrung bleiben und so blickt er inzwischen auf einige Erfahrung im Umgang mit den Robotern und der allumfassenden Überwachung im Internat zurück. Obwohl Kophler ein grantliger Egomane ist, schöpft Lila Hoffnung. Doch als sie bei einem Spaziergang Samson Freitag zu sehen meint, der ihre Umsturzpläne einst verriet, und sie ihn niederschlägt, kommt sie erneut in die Verwahrung. Sechs Monate später erwacht sie wieder im Internat und plötzlich ist Samson Freitag zu einem Gott geworden …
Während im ersten Band der Widerstand gegen eine wachsende Diktatur im Mittelpunkt stand, muss sich Lila nun damit auseinandersetzen, einem unmenschlichen Strafvollzugsystem ausgeliefert zu sein, das sie zunächst lediglich umerziehen und kaltstellen will. Das geschieht durch Psychofolter, Richtung genannt, und der Unterbringung in einem Luxusressort, das Kophler mit dem Schlaraffenland vergleicht.
Erst später wird eine dritte Schiene bekannt, über die man sie gefügig macht.
Im Internatsteil entwickelt Theresa Hannig Ideen für den Strafvollzug der Zukunft. Dabei ist die komplette Überwachung nur der erste Schritt. Sobald man in der Lage ist, weite Teile des Körpers von außen zu steuern, erweitern sich die Möglichkeiten zur Kontrolle und Manipulation immens.
Doch »Die Unvollkommenen« geht noch weiter. Im zweiten Teil wendet sich Samson Freitag an die Protagonistin. Dabei handelt es sich aber nicht mehr um den Mann, den sie und wir im ersten Teil kennenlernten, sondern um einen Roboter, auf den man das Bewusstsein Samson Freitags übertrug. Seitdem sieht er sich als eine Art Gott und übernahm die Führung der Bundesrepublik Europa. Wenn es Lila nicht innerhalb dreier Tage gelingt, dass Freitags Mutter mit ihm spricht, kommt sie für immer in das künstliche Nichtleben der Verwahrung. Doch Anna Freitag ignoriert auch Lila.
Theresa Hannig gibt nur in wenigen Szenen und Infoschnipseln Auskunft über ihren Weltenbau, zudem sind diese Informationen innerhalb des Romans nicht sicher, da sie von den Figuren selbst stammen. Freitag ist in der Lage, alles und fast jeden in Echtzeit zu manipulieren, sodass auch seine Bilder einer durch den Klimawandel zerstörten Erde, mit der BEU als glückliche Ausnahme, manipuliert sein können mit dem Ziel, Lila zu demoralisieren, so vorstellbar das Szenario auch ist. Theresa Hannig stellt diese Weltordnung nicht in den Mittelpunkt, da sie das Lebensumfeld ihrer Protagonistin nicht direkt berühren. Betroffen ist sie aber von der Veränderungen der Gesellschaft.
Die massive Ausbreitung intelligenter Roboter gebiert die Notwendigkeit von Regeln zum Zusammenleben. Das Betrifft das soziale Umfeld, wie auch etwa rechtliche Themen, hier vertreten durch die Liga für Roboterrechte. Das führt Theresa Hannig nicht so deutlich aus wie Guido Seifert in seinen KI-Geschichten (Apatheia), aber mit gleicher Bedeutung für unsere Zukunft. Letztlich führt das zu der Frage, ob Roboter uns Menschen, die Unvollkommenen, für irgendetwas benötigen.
Interessanterweise spielt diese Fragestellung auch in Emma Braslavskys Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten eine Rolle. In beiden Romanen kämpfen die Protagonistinnen um ihr Leben, gibt es eine Frist, ihren Auftrag zu erfüllen. Und eine weitere faszinierende Parallele gibt es in beiden Romanen: Die Konfrontation der Immanation eines menschlichen Bewusstseins in einem Roboterkörper mit der leiblichen Mutter des verstorbenen Sohnes. Während Emma Braslavsky den Wunsch der Mutter nach neuem Kontakt zum verstoßenen Sohn beschreibt, bildet Theresa Hannig zunächst die Ablehnung der Mutter gegenüber der pervertierten Version ihres Kindes ab. Die Grenzen klassischer Emotionen werden durch die Übertragung in einen Roboterkörper herausgefordert und neu definiert.
Das betrifft auch Lila direkt. Mit der Möglichkeit, das eigene Glücksempfinden zu steuern, ergeben sich ganz neue Strategien, problematische Situationen überstehen. Am Beispiel von Kophlers Frau Leonie zeigt Theresa Hannig, wie diese beständige Änderung der Schwelle für Ärger und Unzufriedenheit nicht nur die Persönlichkeit aufzulösen beginnt, in eine Art Glückssucht führt, sie löst auch überhaupt keine Probleme – weder in einer Beziehung, noch in der Gesellschaft. So führt uns die Autorin in »Die Unvollkommenen« dann auch den Weg aller Diktaturen vor Augen und es ist nur gerecht, dass Lila hier am Ende doch noch die entscheidende Rolle zukommt.
Fazit:
»Die Unvollkommenen« führt die Handlung von »Die Optimierer« konsequent fort. Theresa Hannig spürt den Auswirkungen ihrer Optimalwohlökonomie nach und stellt sich möglichen Veränderungen unserer Gesellschaft durch Roboter und Künstlicher Intelligenz. Ein fesselnder SF-Roman, dystopisch und doch voller Hoffnung auf den Widerstand zur rechten Zeit.
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