Die Wissenden (Autor: Mircea Cărtărescu; Orbitor Bd. 1)
 
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Die Wissenden von Mircea Cărtărescu

Reihe: Orbitor Bd. 1

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Die Wissenden – das konnte jedermann sein, Nutten oder Lastträger im Hafen, High-School-Lehrer oder Lokomotivführer, daher war es durchaus möglich, dass da einer den fetten Hintern einer Prostituierten sodomisierte und nicht ahnte, welch schreckliches Sakrileg er gerade beging, oder dass man das Palavern eines glatzköpfigen kleinen Figaro über sich ergehen ließ, ohne zu wissen, welch fantastische Macht sich unter seiner rötlichen Schädeldecke konzentriert fand.

 

Die Wissenden ist der erste Teil der Orbitor-Trilogie. Das Buch ist höchst eigenartig. Das beginnt schon bei der Kapitelaufteilung: Es gibt drei Teile, der erste ist 142 Seiten, der zweite 167 Seiten und der dritte 212 Seiten lang; diese Teile sind zwar wiederum unterteilt in etwas, das ich Kapitel nennen will, doch diese Kapitel sind nicht nummeriert oder überschrieben. Die Absätze sind eher lang, bisweilen erstrecken sie sich sogar über mehrere Seiten. Der Text ist nicht nur episodisch bis fragmentarisch aufgebaut, er kommt obendrein auch noch ohne das aus, was man landläufig "Plot" nennt. In dieser Hinsicht ist es nach E. M. Foster sogar fragwürdig, ob Die Wissenden überhaupt ein Roman ist. Ich will diese Frage jedoch den Literaturwissenschaftlern überlassen und den Text der Einfachheit halber einen Roman nennen.

In einem Interview, das der Autor Cărtărescu der Zeit gab, sagt er: "Ich habe 14 Jahre und 1500 Seiten gebraucht, um herauszufinden, worum es in dem Roman geht. Jetzt kann ich es sagen, jedoch nicht in wenigen Worten, sondern in genauso vielen, wie ich im Buch verwendet habe. Leider werden Sie hier sicher nicht so viel Platz haben."

Ich will nicht versuchen, was der Autor für unmöglich hält. Stattdessen will ich versuchen, ein paar Eigenarten, die der geneigte Leser für Stärken oder Schwächen halten mag, anhand von Zitaten herauszuarbeiten.

 

Beginnen wir mit dem Erzähler:

Ich bin nicht ganz bei Verstand. In den Ohren das Rauschen der Einsamkeit, verzweifelt und beunruhigend zugleich, wie das einstmals vernommene Rauschen in den Eingeweiden, die den Uterus meiner Mutter umgaben. Das Gluckern wie aus einer Grotte mit dem unterirdisch entspringenden Quell ihrer Blase. Hin und wieder fährt die Straßenbahn vorbei, bellt ein streunender Hund oder jemand redet laut, und all diese Geräusche erinnern meine Haut (denn gewiss hörte ich damals mit der Haut wie die Spinnen, als wäre ich ganz und gar in mein eigenes Trommelfell eingewickelt gewesen) an das ferne Echo der Stimme meines Vaters in einem armseligen Zimmer, in dem es mich noch nicht gab.

Der Roman wird vom Icherzähler Mircea erzählt. Mircea ist anscheinend ein Jugendlicher oder junger Mann, der im Bukarest der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jh. aufwächst. Da die Episoden bzw. Fragmente stets ohne Distanz erzählt werden, wäre es treffender zu sagen, Mircea kann einen Augenblick fünf Jahre alt sein und im nächsten fünfzehn. Er ist ein höchst unzuverlässiger Erzähler, da er nicht nur unter Epilepsie leidet, sondern anscheinend auch noch unter Schizophrenie leidet, die ihn die Realität wie einen Drogenrausch erleben lässt, die es ihm schwer macht, zwischen Traum, Vision und empirisch Erlebten zu unterscheiden.

Einschränkend ist noch hinzuzufügen, dass besonders im zweiten Teil der Icherzähler so stark in den Hintergrund tritt, dass es so wirkt, als sei er aus der personalen Perspektive Marias, Mirceas Tante, erzählt.

 

Damit zum Schauplatz:

Anca wuchs in dem roten Backsteinturm auf, vormals Anbau einer Werkstatt aus der Zeit der Jahrhundertwende, die später dann abgerissen wurde. Hinter dem Turm breitete sich Brachland aus, auf dem zwischen Unkraut und Haushaltsmüll etliche schwarz verschmierte Maschinen herumstanden: Räder, Pleuelstangen, Stahlfedern, dazu das Gehäuse eines Straßenbahnwagens, fensterlos, die Farbe längst abgeblättert.

Das Geschehen trägt sich weitgehend in Bukarest zu. Zentral sind hier die siebziger und achtziger Jahre, wobei es auch eine Reihe von 'Rückblenden' in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die folgenden Jahre gibt. Einzelne Episoden spielen sogar deutlich früher oder in New Orleans und anderen Orten. Bei der Beschreibung von Figuren und Schauplätzen ist der Autor unglaublich detailliert – ein wichtiges Merkmal ist die hohe Situativität der Geschichte.

 

Nun zu einigen Themen:

Dass wir Larven eines Astralwesens sind, wird am verlängerten Mark unseres Hirnstammes deutlich. Sieht man das Rückenmark als Wurzel und die beiden Hemisphären in der Schädelhöhle als fleischige Keimblätter, so ist die Ähnlichkeit mit einem just entsprossenen Pflänzchen unverkennbar. Dabei ist das Fleisch die Erde, in die man es gesetzt hat und aus der es die Nährstoffe saugt, das Gehirn wird ebenfalls ausgeschöpft werden und wie der Kern einer tauben Walnuss verschrumpel, aus dem Mittelteil aber werden sich die beiden zarten und hellen Blättchen winden, Flügel der Seele, Flügel des Geistes, die das Mistbeet dieser Welt verlassen werden, um im Strahlenglanz eines Himmelskörpers in eine neue Erde, unter einen neuen Himmel verpflanzt zu werden.

Cărtărescu ist das Thema Transzendenz ein ernstes Anliegen. Dabei greift er gerne auf das Motiv des Schmetterlings zurück, der gewissermaßen ebenfalls transzendiert – aus der erdgebundenen Raupe wird der ätherische Schmetterling. Dieses wird häufig mit Vokabeln der Hirnforschung und der Esoterik beschrieben.

 

Hier beschreibt der Autor eine Vision Mirceas, in der die erzürnten Toten mit ihren seit Jahren verwesenden Körpern aus den Gräbern steigen, um sich an den Lebenden zu rächen:

Die Gespenster stürmten in die Dielen und von da in die Zimmer, sie zerrten vor den Augen der Mütter, die zu träumen wähnten, die Wickelkinder aus den Wiegen und bissen genüsslich ins zarte Fleisch, so dass dünnes Blut den Lehmboden besprühte. Dann machten sie sich an die Frauen, bestiegen sie und drangen mit ihren fischigen schwarzen Glied, das sich nach unendlich langer Zeit zum ersten Mal wieder geregt hatte, in sie ein.

Zerfall, Schäbigkeit, Tod und Sexualität drängen sich immer wieder in die Episoden. Es gibt kaum eine Episode, in der es nicht irgendwie um Sexualität geht, sehr häufig ist diese auf verstörende Weise mit Tabus verbunden. Etwas zahmer geht es im dritten Teil zu, als der jugendliche Mircea im Krankenhaus liegt und sich immer wieder erotischen Fantasien hingibt (die er freilich kaum von der Realität trennen kann).

 

Jetzt noch zum literarischen Kontext:

"Ein Proust aus dem Plattenbau, aber einer auf Speed."

Das, so lässt uns der Klappentext wissen, denkt Malte Herwig in Der Spiegel über den Roman. Mir will scheinen, dass Herwig sich nicht gut mit bewusstseinsverändernden Drogen auskennt; Thomas Mann auf LSD ist wesentlich treffender. Der Stil, die Sprachkraft, besonders die Situativität, erinnert zum Teil an Mervyn Peakes Gormenghast-Trilogie oder an die Kurzgeschichten von Bruno Schulz, die sich in der Sammlung Die Zimtläden finden. Auf eine schwer zu beschreibende Art erinnert mich Die Wissenden an einige Geschichten von Franz Kafka oder auch Jeff VanderMeers Shriek – es herrscht eine surreale Stimmung, nach der jederzeit etwas völlig Groteskes geschehen kann. Mit einer gewissen Lässigkeit könnte man sagen, Shrieksei von einem US-amerikanischen Cărtărescu, aber einem auf Speed geschrieben worden. Eine große Ähnlichkeit gibt es zu Doris Lessings Anweisung für einen Abstieg zur Hölle, was an den unzuverlässigen Erzähler, an der generellen Skepsis gegenüber dem normalen Verständnis von Identität liegt. Wollte man aber literarische Geschwister ausmachen, so sollte man sich bei den großen Werken von Thomas Pynchon umtun, die Cărtărescu selbst als wichtigsten Einfluss nennt.

 

Als Letztes möchte ich noch auf die hohe Intensität hinweisen, die aus der enormen Sprachkraft des Romans erwächst – die Schilderung der Verwüstung Bukarests nach einen Bombenangriff der US-Air-Force im Zweiten Weltkrieg:

Die Mädchen gingen nun losgelöst voneinander, die Augen voller Tränen, entlang der einstigen Fassade der Schneiderei »Verona« bis vor die Metzgerei. Die Rindshälfte, die da stets an den Stahlhaken hing, war jetzt mit würfelförmigen Pflastersteinen vermengt und ein zweites Mal verstümmelt. Die Augen blöder, blutverschmierter Lämmchenköpfe starrten genauso grauenerfüllt in den blauen Himmel wie die Menschenaugen des Onkel Titi. Cabanossi, Schwartenmagen, getrocknete Salami- und Güdemwürste in Hufeisenform lagen überall fliegenumschwirrt herum wie die Organe eines großen arcimboldischen Tieres. Eine zarte, wie von einem Renaissancekünstler gemalte, am Gelenk abgehauene Hand ruhte auf einem bindfadenumschnürten Stück Speck. An der Rissstelle traten die Venen- und Nervenstränge hervor. Am Finger stak ein Ring mit einem weiß leuchtenden Stein. Maria spürte ihr Herz aussetzen.

 

Fazit:

Die Wissenden ist ein sehr schwieriger, unzugänglicher Roman: Episodisch und fragmentarisch, assoziativ statt kausal vor und zurückspringend erzählt er von Ereignissen, die vor allem der Icherzähler Mircea und seine Tante Maria im Bukarest des fortgeschrittenen 20. Jh. erleben, wobei Fantasie, Traum und Vision mit Realität im Thema Transzendenz verschmelzen. Wen das nicht anspricht, dem empfehle ich wenigstens eine Episode (grob gesagt, ein Kapitel) zu lesen, um die packende Sprachkraft zu erfahren. Freunden der Fantasy rate ich hier zur Episode mit den zornigen Toten (S. S. 53-82), Grusel-Fans zur Voodoo-Episode in New Orleans (S. 245-275).

 

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Roman:

Titel: Die Wissenden

Reihe: Orbitor Bd.1

Original: Orbitor. Aripa stângă (1996)

Autor: Mircea Cărtărescu

Übersetzung aus dem Rumänischen: Gerhardt Csejka

Verlag: dtv (Oktober 2009)

Seiten: 527 - Broschiert

Titelbild: Georgeta Grabovschi

ISBN-13: 978-3-423-13810-9

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 12.01.2010, zuletzt aktualisiert: 18.04.2024 09:19, 9856