Shriek (Autor: Jeff VanderMeer; Ambra)
 
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Shriek von Jeff VanderMeer

Reihe: Ambra

 

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Duncan Shriek gilt als exzentrischer und spinnerter Historiker. Seine ehedem erfolgreichen Werke werden schon lange nicht mehr verlegt. Seine ehemalige Schülerin Mary Sabon stellt seine Thesen über die Grauhüte und die Stille als paranoid dar. Auf einer für den einflussreichen Künstler Martin See veranstalteten Party verliert Janice Shriek, Duncans Schwester, die Fassung und ohrfeigt Mary nach einer spöttischen Bemerkung. Janice zieht sich daraufhin zurück um eine Abrechnung mit ihrem Leben als Galeristin, Duncan und ihrer Beziehung zu ihm sowie ganz Ambra zu schreiben, der sie den etwas irreführenden Titel "Ein Nachwort zu Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra" gibt. Sie schildert ihren Aufstieg mit der "Neuen Kunst" und ihren Fall, Duncans Beziehung zu Mary und ihren Verrat, sie schildert den dramatisch-grotesken Tod ihres Vaters und das distanzierte Verhältnis zur Mutter. Sie berichtet vom Leben in Ambra, das mit dem Krieg der Häuser eine tiefgehende Wendung erfährt: Dessen Höhepunkt ist der Vorbote des Wandels, der alles verändern wird. Duncan hatte schon lange auf die rätselhaften und bedrohlichen Machenschaften der Grauhüte hingewiesen, während Mary sie immer noch ableugnet.

 

Das Geschehen findet nahezu vollständig in Ambra statt, sieht man von ein paar Ausflügen ins Umland oder dem nahe gelegenem Morrow ab. Ambra ist eine seltsame Stadt. Sie wurde vor langer Zeit von abtrünnigen Kapitänen, die in allerlei fragwürdigen Handelsgeschäften bis hin zur Piraterie verwickelt waren, gegründet. Ein Stück den Fluss Mott hinauf fanden sie Cinsorium, eine Stadt der Grauhüte. Die Einwohner wurden getötet und auf den Ruinen wurde Ambra gebaut. Viele Jahre später verschwanden alle Einwohner der Metropole, als die Flotte während eines Konflikts mit den Nachbarn ausgelaufen war. Dieses Ereignis wird die Stille genannt. War das die Rache der Grauhüte? Seither ist das Leben in Ambra ein Tanz auf dem Vulkan: Es gibt keine Regierung, nie kommt die Stadt zur Ruhe, weder verfällt sie, noch konsolidiert sie sich. Es gibt massive Spannungen, die sich im Kampf zwischen Anhängern und Feinden von Voss Bender, einem Komponisten, oder dem Fest des Süßwasserkalmars entladen.

Das Setting ist eine der Stärken des Buchs: Zwar finden sich Anspielungen auf das mittelalterliche Venedig oder das Berlin der Goldenen Zwanziger wieder, aber insgesamt ist es ein sehr originelles Setting voller bizarrer Idee; leider entwickelt VanderMeer es im Vergleich zu Stadt der Heiligen und Verrückten nur wenig.

Die phantastischen Elemente wirken eigentümlich. Duncans Forschungsgebiet sind die Grauhüte, menschenartige Schwarmwesen, die mysteriöse Ziele verfolgen. Sie verwenden in erster Linie Pilze: Mit ihnen können sie nicht nur vergiften und Krank machen, sie können bei Menschen einen grundlegenden Wandel auslösen – die Infizierten fallen durch grellgrüne Geißeln oder ähnlich bizarre Auswüchse auf – schaffen mörderische Pilz-Monstren, legen hochexplosive Pilz-Minen, und installieren Spionagevorrichtungen aus Pilzen. Tatsächlich sind die Pilze überall in Ambra, aber nur die wenigsten nehmen sie wahr – die Nativisten wie Sabon streiten den Einfluss sogar ab. Trotz einiger krasser und sehr befremdlicher Momente wirken die phantastischen Elemente daher nur beiläufig. Oftmals könnte es sich bei Shriek um realistische Literatur handeln.

 

Es gibt recht viele Figuren, die größten Teils schon in Stadt der Heiligen und Verrückten aufgetreten waren: Martin See ist Janices Aushängeschild, Manzikert, Voss Bender und Trillian werden erwähnt, Dr. V. spielt eine kleine Rolle, der schurkische Herausgeber Sirin und die treulose Historikerin Sabon eine größere. Es gibt auch neue Figuren wie den kleinkriminellen Sybel, einem Mitglied des Nimblytod-Stammes, der alles mögliche für Janice organisiert, oder den truffidischen Priester Bonmot, der einst ein Gegner Duncans war, später aber den Shriek-Geschwistern für eine gewisse Zeit halt geben konnte. Aufgrund der Erzählperspektive und des Erzählfokus' (Janice schreibt eine Abrechnung mit ihrem und Duncans Leben in Ambra) werden diese Figuren nicht sonderlich weit ausgeführt, sondern bleiben skizzenhafte Momentaufnahmen. Bisweilen greift VanderMeer auf archetypische Strukturen zurück ohne dabei ins Klischeehafte abzugleiten.

Zentral sind natürlich Janice und Duncan Shriek. Diese beiden Figuren werden sehr detailliert und vielschichtig entwickelt. Janice versucht sich zunächst als Malerin, scheitert und eröffnet dann eine Galerie, mit der sie für einige Zeit sehr erfolgreich ist. Ihrem Wesen wohnt allerdings eine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung, Halt und menschlicher Nähe inne, die ihr Künstlerumfeld nicht befriedigen kann. So kompensiert sie mit Drogen (natürlich Pilzen) und beginnt wieder einmal zu scheitern. Janice baut sich stets eine gewisse Karriere auf und scheitert dann wieder aus verschiedenen Gründen – aber nie wieder kann sie die Glanzzeiten ihrer Galerie auf dem Höhepunkt erreichen. Ihr Bruder Duncan hat ein ähnliches Schicksal – als Historiker feiert er früh große Erfolge, doch er scheitert aus anderen Gründen: Er ist eigensinnig, unangepasst und hartnäckig. In der Forschung wie im Privaten bricht er Tabus ohne auf das Urteil anderer zu achten. Nachdem Frankwrithe & Lewden ihn fallen lassen, geht er unter die Erde um die Grauhüte zu erforschen. Er kehrt mit Pilzen infiziert zurück und beginnt sich zu verändern.

Eine wichtige Motivation der beiden ist der groteske Tod ihres Vaters Jonathan: Der Historiker hatte gerade vom Kalifat die Erlaubnis erhalten, die Archive nutzen zu dürfen, und rannte fröhlich hinaus um die gute Nachricht weiterzugeben, brach aber kurz nach der Tür zusammen. Zunächst hatte die Familie vermutet, der ungeschickte Akademiker sei wieder einmal über eine Wurzel gestolpert, doch tatsächlich hatte er einen Herzschlag erlitten. Seither war das Leben der Shrieks viel ernster geworden. "BPS" – Bevor Papa Starb – bezeichnet für Janice und Duncan die gute Zeit, als die Welt noch heil war.

 

Der Plot ist schwer zu beschreiben, da er viele Elemente sehr verschiedener Geschichtstypen verwendet: Es gibt eine Reihe von Aufstieg-und-Fall-Episoden, einen Verwandlungsplot für Duncan, eine desillusionierende Entwicklungsgeschichte für Janice, Elemente von Rätsel- und Wundergeschichten in Bezug auf die Grauhüte und deren Pilze, eine Frühlings-Herbst-Romanze zwischen Duncan und Mary Sabon, Kriegsalltag, Horror-Thriller und einiges mehr. Aufgrund des wilden Wustes (was durch die 'ungeordnete' Erzählung noch verstärkt wird) können diese Elemente nur selten ihre Spannungsquellen zur Geltung bringen.

Eine wirksame Spannungsquelle sind dagegen die intertextuellen Verknüpfungen. Da sind zunächst natürlich einige Anspielungen auf die Geschichten in Stadt der Heiligen und Verrückten. Ebenso leicht sind Anspielungen auf J. L. Borges oder J. R. R. Tolkiens Herrn der Ringe zu entdecken. Doch es gibt auch obskurere: Es scheint mir, als sei der Historiker Edgar Rybern VanderMeers Version von Wilhelm Dilthey, und ob die "Neue Kunst" auf "New Weird" anspielt, mag der geneigte Leser selbst enträtseln.

Doch der größte Bezug dürfte der auf Vladimir Nabokovs Fahles Feuer sein: Dort hatte der Lyriker John Francis Shade ein Gedicht – eben "Fahles Feuer" gehießen – in vier Gesängen verfasst. Dieses wurde von dessen selbsternannten Freund Charles Kinbote veröffentlicht und mit einem 'kritischen Kommentar' versehen; während das eigentliche Gedicht nur 28 Seiten in Anspruch nimmt, füllt der Kommentar 170 Seiten, hinzukommen noch 24 Seiten Vorwort und Register. In eigenartig verschlungenen Pfaden erzählt Kinbote von Shade, der Freundschaft zwischen den beiden, seiner eigenen Biographie und der Revolution im Lande Zembla sowie den exilierten König. Assoziativ werden diese Momente mit Stellen des Gedichts verknüpft.

Ähnliches findet sich bei VanderMeer: Shriek ist im Großen und Ganzen Janice Shrieks "Nachwort zu Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra" – der Führer selbst findet sich in Stadt der Heiligen und Verrückten. Zwar arbeitet sie sich nicht am Führer ab, aber sie hält für einige Zeit die Fiktion ein Nachwort zu schreiben aufrecht und geht entsprechend immer wieder auf Duncans Karriere und Forschung, deren Frucht der Führer letztlich wird, ein. Doch zentral sind die Leben der beiden Shrieks und deren Beziehung zu einander. Während bei Nabokov die nicht chronologische und nicht thematische Ordnung mit der Anknüpfung ans Gedicht begründet war, ist die 'Unordnung' bei VanderMeer mit dem wirren Geisteszustand von Janice begründet, die in ihrem Bericht immer wieder zwischen Ereignissen und Themata springt. {Die Fußnoten Nabokovs werden bei VanderMeer durch die in geschweiften Klammern in Janices Text eingeschobenen Kommentare Duncans reflektiert.}

Es gibt noch einen weiteren postmodernen Kniff: Als Janice Sirin in ihre Erzählung einführt, behauptet sie, er könne alle Stile so perfekt nachahmen, dass es manchmal scheine, als habe er Ambra überhaupt erst geschaffen. Damit wird Sirin (der letztlich auch Janices Nachwort redigiert und herausgegeben hat) zum literarischen alter ego Jeff VanderMeers selbst.

 

Man sieht, VanderMeer sucht die Meriten im Bereich der Erzähltechnik zu erwerben. So verknüpft er eine Unzahl von Handlungs- und Erzählsträngen zu einem sehr komplexen und komplizierten Muster: Die oben erwähnte 'Unordnung' ist sorgfältig komponiert und lässt keinen Strang offen. Es gibt zunächst drei für erzählerische Komplexität sorgende Zeitebenen: Es gibt die Vergangenheit, in der Janice wild in Chronologie und Themata springend ihre Geschichte erzählt, die von der Kindheit BPS bis zur Ohrfeige reicht, es gibt die nahe Vergangenheit, in der Janice von ihrem Zustand beim Schreiben des Textes berichtet, und die Gegenwart, in der Sirin ein paar Bemerkungen zum Nachwort macht. Duncans Bemerkungen sind zwar vom Standpunkt der nahen Vergangenheit gemacht, fügen sich aber in Janices verworrener Chronologie ein. Diese Komplexität verstärken Duncans Kommentare und Tagebucheinträge – Janice hat Duncans Tagebuch gestohlen und fügt bisweilen Abschnitte ein um ihren Standpunkt zu illustrieren – zumal sie verdeutlichen, dass sowohl Janice wie auch Duncan unzuverlässige Erzähler sind.

Obwohl das Werk in vielerlei Hinsicht stilistisch ebenso variantenreich ist – Sirin schreibt sehr nüchtern, Duncan inszeniert sich im arroganten Tonfall mal als ganz gewöhnlichen Kerl, mal als komplizierten Geist, und Janice Schreibstil schwankt zwischen barockem und anekdotenreichem Pathos und knappen Rapport, je nach seelischem Zustand (Letztes aber erheblich seltener) – ist VanderMeer immer um einen authentischen Erzählduktus bemüht. Das geht so weit, dass er – zu meinem Leidwesen – weitgehend auf eine kausale Motivierung der Ereignisse verzichtet.

 

Fazit:

Nach Jahren des Auf-und-Abs verliert Janice Shriek die Beherrschung und ohrfeigt die spöttische Historikerin Mary Sabon. Janice schreibt anschließend eine Abrechnung mit ihrem Umfeld im Allgemeinen und ihrem Bruder Duncan und seiner ehemaligen Geliebten Mary im Besonderen.

Shriek ist nur schwer zu bewerten: Einerseits ist es erzähltechnisch ein herausragender und variantenreicher Roman, andererseits gibt es keine Longitudinalspannung und jenseits der Erzähltechnik nur wenig Transversalspannung. Eines aber ist sicher: Als Einstig in Jeff VanderMeers wunderbar bizarre Geschichtenwelt Ambra eignet sich dieses Buch keineswegs – auch wenn es keine Fortsetzung von Stadt der Heiligen und Verrückten im eigentlichen Sinne ist, verliert es doch erheblich, wenn primäre Bezugspunkte unbekannt sind.

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Buch:

Shriek

Reihe: Ambra

Original: Shriek: An Afterword, 2006

Autor: Jeff VanderMeer

Übersetzer: Hannes Riffel

Klett-Cotta, September 2008

Taschenbuch,489 Seiten

Titelbild: Jonathan Edwards

 

ISBN-10: 3608937781

ISBN-13: 978-3608937787

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 30.10.2008, zuletzt aktualisiert: 27.02.2024 15:55, 7640