Fremdes Licht von Michael Stavarič
Rezension von Matthias Hofmann
Dystopien sind seit vielen Jahren nicht nur Teil des Genres Science Fiction. Seit dem 19. Jahrhundert findet man fast in jeder Dekade belletristische Romane, die sich mit verschiedenen Formen des Endes der Menschheit auseinandersetzen. Gegen Ausgang des 20. Jahrhunderts gerieten dystopische Visionen zu einem regelrechten Hype, selbst in der Young-Adult- und Jugendliteratur.
Ein großer Teil davon sind Weltuntergangsszenarien. Und natürlich hat die Apokalypse viele Facetten. Aliens sind nie wirklich nötig gewesen, um die menschliche Zivilisation, mit oder ohne Planet Erde, auszulöschen. Das besorgen die Menschen sich schon selbst. Kenner der Science Fiction wissen, dass zum Beispiel bereits 1826 die britische Schriftstellerin Mary Shelley, rund acht Jahre nach Frankenstein, in ihrer Anti-Utopie Verney, der letzte Mensch von einer desaströsen Seuche fabulierte, welche in der Zukunft die Menschheit dahingerafft haben wird. Zu Shelleys Zeiten kannte man eher Pest und Cholera, anno 2020 sind es neuartige Viren. COVID-19 lässt grüßen.
In Fremdes Licht, dem neusten Roman des Wahl-Wieners Michael Stavarič, geht es eher traditionell zu. Ein Komet macht unserem blauen Planeten den Garaus. Außerdem waren die Menschen auf der Erde vor dieser planetaren Katastrophe auch nicht ganz untätig und dezimierten sich durch mehrere sogenannte »Lichtkriege« kräftig selbst.
»Fremdes Licht« erzählt im ersten Teil die Geschichte von Dr. Elaine Duval, die im 24. Jahrhundert als letzte Überlebende mit einem »Flugschiff« (nirgends im Roman ist die Rede von einem Raumschiff oder einer Rakete) auf einem unbekannten Planeten strandet. Dieser Exoplanet ist ein Eisplanet, was Duval, die als Kind bei ihrem Großvater in Grönland Minusgrade lieben gelernt hat, entgegenkommt. Von der Besatzung des Flugschiffs hat niemand außer ihr überlebt. Da sie in der Schweiz als Genforscherin gearbeitet und dort ebenfalls viele Jahre verbracht hat, nennt sie den Planeten Winterthur, nach einer Stadt im Norden der Schweiz, nahe der deutschen Grenze.
Duvals Kampf gegen die bitterkalte menschenfeindliche Natur nimmt die Hälfte des Buchs ein, während retrospektiv kontinuierlich kleinere Happen der Geschehnisse bis zum Crash auf dem fremden Planeten eingestreut werden. Ihr bester Freund hieß Dallas und war Kommandant. Man hatte die Besatzung eingefroren, und man hatte eine Menge Genmaterial an Bord, mit welchem Duval Tiere reproduziert. Und zwar genau diese Arten: Eisbär, Rentier, Lemming, Vielfraß, Eiderente, Ammer, Seeotter und Seebär. Das weiß man so genau, weil Stavarič in einem Anfall von Faktenhuberei jede dieser Tierarten auf nahezu zehn Seiten exakt beschreibt, als hätte er aus Brehms Tierleben oder einer anderen Enzyklopädie der Tiere abgeschrieben. Warum er das gemacht hat, bleibt ein Rätsel. Ebenso wie die Motivation von Duval, z. B. Eisbären und Robben gleichzeitig zu reproduzieren, wo die einen die anderen doch mangels Alternativen auffressen, falls sie nicht vorher selbst verhungern. Weiterhin rätselhaft bleibt die regelrechte Liebe und Hingabe der Protagonistin zur menschenfeindlichen Umgebung, selbst wenn man berücksichtigt, dass Duval als Kind regelmäßig in Winterlandschaften gelebt hat. Ein Eisplanet ist nichts für Menschen, und wer realistische Beschreibungen von polaren Extrembedingungen gelesen hat (wie z. B. im Roman Terror von Dan Simmons, welcher die Abenteuer der letzten Forschungsreise von Sir John Franklin beschreibt, der auf der Suche nach der Nordwestpassage in der Arktis strandete und umkam), weiß, dass man seine Haut an allen Stellen bedecken muss, um nicht sofort körperliche Schäden davonzutragen. Bei den Beschreibungen von Stavarič beschleicht den Leser dagegen mitunter das Gefühl, als wäre Duval eher im Winterurlaub in den Schweizer Bergen, wo es zwar garstig kalt werden kann, aber letztlich alles irgendwie schön ist, wenn man gerne einsam ist und das Wetter mitspielt.
Letztlich gerät der erste Teil zum stimmungsvollen, mal euphorischen, mal melancholischen, Plädoyer fürs Alleinsein im Nirgendwo. Immer wieder reminisziert Duval Erlebnisse, die sie mit ihrem Großvater in Grönland hatte. Dabei bleibt dieser namentlich ungenannt, ebenso wie ihr Vater, der nur nebenbei quasi als Erzeuger erwähnt wird. Ihrem Großvater, an den sie pausenlos denkt, verdankt sie jede Menge Erfahrungen und Erlebnisse, bis hin zum Jagen von wilden Tieren, sodass man sich fragt, dass sie in Grönland mindestens zwei Kindheiten verbracht haben und zusätzlich in eine Inuit-Lehre gegangen sein müsste, um sich all das Wissen und den Überlebenswillen dauerhaft aneignen zu können. Letztlich kann Stavarič nicht kaschieren, dass er löblicherweise viel über das Leben der Inuit recherchiert hat, dies aber mitunter zu schulbuchmäßig vermittelt.
Dabei macht er vor der Eskimosprache nicht halt. Das Inukitut besteht aus jeder Menge Dialekte und ist ursprünglich eine mündliche Sprache, die geschrieben eher eine Art Silbenschrift ist. So reichert der Autor seinen Text mit unzähligen Vokabeln an, die er gleichzeitig auch mit den entsprechenden fremdartigen Schriftzeichen abbildet. Diese kann sich kein Leser auch nur im Ansatz merken, weil die Worte eher arbiträr und meist nur einmal verwendet werden. Das wirkt zwar irgendwie authentisch, nervt aber latent bei der gesamten Lektüre, und es wäre sinnvoller gewesen, wichtige Vokabeln einfach mit Fußnoten zu versehen oder in einem Anhang zu versammeln.
Wem der erste Teil nicht zu langweilig war und wer es bis zur Mitte des Buchs geschafft hat, wird überrascht durch einen zweiten Part, in dem Stavarič eine Episode aufgreift, die auf der guten alten Erde im 19. Jahrhundert spielt. Eine Vorfahrin von Elaine Duval, eine Inuit namens Uki, trifft auf den norwegischen Zoologen und Polarforscher Fridtjof Nansen. Sie lernen sich kennen, tauschen sich aus und er nimmt sie mit in die USA zur Weltausstellung in Chicago 1893. Dort gerät sie gar in die Fänge des Serienmörders H. H. Holmes. Im zweiten Teil wechselt der Autor die Erzähl- und Sichtweisen, indem er die Geschehnisse anhand von Tagebucheinträgen von Nansen und Beschreibungen aus der Perspektive von der Inuit Uki schildert. Die Handlung lebt vom Aufeinanderprallen der westlichen und der Inuit-Welt sowie von der Einbettung in einen historisch verbrieften Kontext. Während im ersten Teil des Romans die Handlung gemächlich plätschert, nimmt sie im zweiten Teil gegen Ende richtig Fahrt auf und gerät fast zum Krimi.
Was bleibt, ist ein in jeder Hinsicht inkohärentes Werk, welches im Grunde aus zwei verschiedenen Büchern besteht, die lose miteinander verknüpft wurden. Teil 1 ist eher eine philosophische Abhandlung über die letzte Frau der Menschheit, die in ferner Zukunft auf einem unwirtlichen Planeten gestrandet ist und deren Handeln und Denken nicht immer nachvollziehbar ist. Der Plot gerät in Schieflage, weil zu viele Fakten verarbeitet und platziert wurden, die nichts wirklich zum Geschehen beitragen, aber deutlich zeigen, dass sich der Autor nicht entscheiden konnte, welche der Unmenge an Informationen, die er recherchiert hat, in den Roman einfließen lassen soll. Weniger, wäre in diesem Fall mehr gewesen. Teil 2 ist prächtige Unterhaltung, durchaus spannend und präsentiert interessante und sympathische Charaktere.
Am Ende der Lektüre von »Fremdes Licht« bleibt unterm Strich der zwiespältige Eindruck eines unbefriedigenden Gefühls. Was man da gelesen hat, ist weder Fisch, noch Fleisch. Nicht konsequent zu Ende gedacht, mit einigen interessanten Denkanstößen, jedoch an den eigenen Ansprüchen grandios gescheitert. Wer ein wirklich ein fesselndes und höchst authentisches Buch über die Inuit lesen will, dem sei Zwei alte Frauen von Velma Wallis empfohlen, in dem aufgrund einer Hungersnot ein Eskimostamm seine beiden ältesten Frauen als »unnütze Esser« in der frostklirrenden Wildnis zurücklässt.
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