Gast Tiger (Autor: P'u Sung-Ling; Bibliothek von Babel Bd. 21)
 
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Gast Tiger von P'u Sung-Ling

Reihe: Bibliothek von Babel Bd. 21

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

J. L. Borges wählte für den einundzwanzigsten Band der Bibliothek von Babel die Texte zweier chinesischer Schriftsteller aus. Vierzehn kurze Geschichten, von denen die kürzeste gerade mal eine halbe Seite und die längste vierzehn Seiten lang ist, stammen von P'u Sung-Ling. Sie sind alle im späten 17. Jh. entstanden; die Titel gebende Geschichte Gast Tiger gehört zu ihnen. Außerdem gibt es noch zwei sehr kurze Geschichten – beide um die zwei Seiten lang – aus dem Roman Der Traum der roten Kammer. Zwar ist der Verfasser unbekannt, doch die Geschichte wurde wohl im 18. Jh. verfasst. Alle Geschichten sind in einem märchenhaften Stil abgefasste Wundergeschichten.

 

Die Geschichten im Einzelnen:

Die Prüfung zum Schutzengel (4 S.): Der kranke Student Sung Tao wird von einem Boten zur Eile angehalten, obschon der Große Prüfer noch gar nicht eingetroffen ist. Den Prüfling erwarten zehn hochgestellte Persönlichkeiten, von denen er nur den Gott des Krieges wieder erkennt.

Diese Geschichte beschreibt, wie die überraschend flexiblen Götter die Verwaltung der Erde organisieren.

Der buddhistische Priester von Ch'ang-Ch'ing (4 S.): Ein alter und ehrwürdiger buddhistischer Priester stürzt und stirbt. Seine Seele fährt zufällig in den Körper eines frisch verstorbenen Adligen, was zu einiger Verwirrung führt.

Diese Seelenwanderung nimmt den Körpertausch vieler Hollywood-Komödien vorweg.

In der Unterwelt (8 S.): Hsi-Lien und sein Nachbar Yang lagen lange Zeit im Streit miteinander. Schließlich starb Yang und darauf Lien, der noch auf dem Sterbebett eine Freveltat Yangs beklagte: Der hätte die Teufel in der Hölle bestochen. Liens Sohn Fang-p'ing macht sich auf um die Seele seines Vater zu retten und findet im Totenreich ein völlig korruptes System vor.

Hier wird eine interessante Mischung geboten: Die reale Korruption chinesischer Beamter wird auf die Hölle übertragen und weit überzogen; dieses zusammen mit dem verhohlen pikaresken Tonfall führt zur Frage ob hier geduldige Rechtschaffenheit angepriesen oder der Glaube daran verspottet wird.

Der unsichtbare Priester (2 S.): Herr Han bewirtet den taoisten Tan, der sich unsichtbar machen kann. Da der Zauberer den Zauber nicht preisgeben will, denkt sich Han eine Gemeinheit aus.

Hier zeigt sich, dass die chinesische Moral von der christlich-abendländischen deutlich abweichen kann.

Der Zauberpfad (3 S.): Auf dem Heimweg stößt der Gelehrte Kuo auf eine fröhliche Runde. Die Fremden laden ihn ein mitzufeiern. Nachdem Kuo sie köstlich unterhalten hatte, revanchieren sie sich auf wunderbare Weise.

Eine fröhliche Wundergeschichte. (Und Kuo hat blöde Freunde!)

Der Mann, der in einen Brunnen geworfen wurde (8 S.): Dem argen Zecher Tai erscheint der Geist seines Vetters Chi und prophezeit ihm schreckliche Qualen, wenn er sich nicht sofort bessere. Unterdessen befindet der eifersüchtige Nachbar, dass Tai der falschen Ehefrau Aufmerksamkeit schenkt, und stößt den Armen in einen Brunnen, bevor der gute Taten vollbringen kann.

Eine Reihe farbenfroher Wunder machen die nüchterne Moral der Geschichte schmackhaft.

Der Strom des Geldes (0,5 S.): "Der Diener eines vornehmen Mannes war eines Tages im Garten seines Herren, als er einen zwei oder drei Fuß breiten und ebenso tiefen Geldstrom vorüberfließen sah." So beginnt dieses Geschichtlein; die Bemerkung eines Kommentators rückt sie aus dem Allegorischen oder Wunderbaren ins Alltägliche, was besonders komisch anmutet.

Eine übernatürliche Frau (4 S.): Als an den todkranken Herrn Chao eine geisterhafte Frau herantritt, brechen bessere Zeiten für den gutherzigen Mann an. Bei manchen Gästen reagiert sie allerdings ungehalten.

Auch hier scheint es, als solle das tugendhafte Leben befördert werden, doch am Ende bleibt der Leser so ratlos wie die Gäste Chaos zurück.

Gast Tiger (6 S.): Der junge Kung lädt bei einer Rast den Fremden Miao zu einem Becher Wein ein. Da er dessen rüpelhafte Art nicht mag, reist er bald zu seiner Prüfung weiter. Einige Zeit später beginnt Kungs Pferd zu lahmen; Miao kreuzt auf und trägt es zur nächsten Wirtschaft – Kung ist sicher: Miao ist ein übernatürliches Wesen.

Nach dem Rätsel, was Miao ist, folgt noch eine seltsame Moral.

Der Tiger von Chao-Cheng (4 S.): Nachdem der einzige Sohn einer alten Witwe von einem Tiger gefressen wurde, strengt sie einen Haftbefehl beim Richter an. Der sturzbetrunkene Li-Nêng nimmt den Auftrag an – und ernüchtert stellt er fest, dass die Aufgabe nicht leicht zu bewältigen ist.

Erneut wird konsequent Gerechtigkeit umgesetzt, die zum Vorteil aller sein wird.

Der Wolfstraum (7 S.): Da Pai Chia Richter in einer entfernten Provinz ist, hatte sein Vater lange Zeit nichts von ihm gehört. Als Vater Pai besuch von dem entfernten Verwandten Ting erhält, der gelegentlich für den Richter der Unterwelt arbeitet, erhält er einen prophetischen Traum, in dem Ting ihn zu seinem Sohn Chia mitnimmt, dieser von Wölfen bedient wird, die eine Leiche als Vorspeise kredenzen.

In dieser die Korruption von Beamten thematisierenden Geschichte wird deutlich, wie sehr der Alltag vom Mystischen durchdrungen ist: Der Mensch Ting arbeitet gelegentlich für das Totenreich.

Rache (3 S.): Aufgrund einer Liebesgeschichte lässt der reiche Chuang seinen Nebenbuhler Shêng von seinen Dienern totschlagen. Da der von Chuang bestochene Richter nichts unternimmt, will Shêngs Bruder Hsiang sich am Übeltäter selbst rächen.

Hier wird gezeigt, dass Gerechtigkeit eine Sache der Götter ist, und selbst korrupte Beamte sie nicht vollständig verhindern können.

Die bemalte Haut (8 S.): Wang nimmt ein hübsches, flüchtiges Mädchen auf, das er in seiner Bibliothek einquartiert. Später warnt ihn ein Priester, er sei verhext worden. Tatsächlich: Als Wang in seine Bibliothek späht, sieht er, dass das Mädchen in Wirklichkeit ein Teufel ist, der nur die Haut eines Mädchens trägt.

Diese Horror-Geschichte warnt davor auf dem äußeren Schein zu vertrauen.

Höllenrichter Lu (14 S.): Dschu ist ein mutiger, aber etwas einfältiger junger Mann. Nach einer Mutprobe, bei der er das Abbild des Höllenrichter Lus besorgen sollte, lädt er aus Übermut Lu ein. Am nächsten Tag kommt der furchterregende Herr der Hölle und – freundet sich mit Dschu an. Dschus Leben erfährt von da an eine positive Wendung.

Ein eigentlich typisches Motiv – die pikareske Aufstiegsgeschichte des mutigen Dummkopfs – im ungewohnten Gewand; besonders hübsch sind der hilfsbereite Höllenrichter und ein drastischer Fall von Schönheitschirurgie.

Pao Yüs Traum (3 S.): Pao Yü träumt, er erwache in seinem Haus, aber seine Dienerin Hsi-Yen erkenne ihn nicht. Im Haus trifft er auf Pao Yü, der erwacht und von einem seltsamen Traum berichtet.

Mit diesem poetischen Schachteltraum wird Alices Begegnung mit dem Roten König in Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln nicht nur vorweggenommen, sondern noch um einen Dreh erweitert.

Der Wind-und-Mond-Spiegel (2 S.): Kia Yui leidet unter unreinen Gedanken: Er verzehrt sich so sehr nach der unerreichbaren Frau Phönix, dass er tags abgelenkt ist und nachts nicht schlafen kann. Ein taoistischer Bettler weiß Rat – doch das Heilmittel ist nicht ohne Gefahr.

Borges bringt es auf den Punkt: "[Dieses] ist vielleicht die einzige Episode in der Literatur, die mit Melancholie und nicht ohne eine gewisse Würde von der Selbstbefriedigung handelt."

 

Wie europäische Märchen so sind auch die hier vorgestellten Geschichten eher schlicht: Die Schauplätze werden nur knapp beschrieben, bisweilen nur die jeweilige Provinz genannt, und die Figuren sind Archetypen oder bloße Handlungsträger. Auch stilistisch sind sie einfach gestrickt; allerdings schimmert bisweilen ein pikaresker Tonfall hindurch. Die beiden Geschichten aus Der Traum der roten Kammer sind wesentlich poetischer – hier auch ein großes Lob ob der hervorragenden Übersetzung.

Der Wert liegt in den vielen farbenfrohen Wundern: Man staunt ob des Zaubers der realen Welt, wenn Ting bemerkt, er arbeite gelegentlich für die Unterwelt, und ob der Banalität der irrealen Welt, wenn Fang-P'ing korrupte Höllenrichter noch in den höchsten Ebenen findet. Immer wieder wird man von plötzlichen Wandlung alltäglicher Dinge oder dem Gegenteil, der konsequenten Anwendung magischer Fähigkeiten bei belanglosen Problemen, überrascht.

Alle Geschichten P'u Sung-Lings sind Wundergeschichten, die sich in der einen oder anderen Art mit Moral und vor allem der Gerechtigkeit auseinandersetzen. Dabei können sie komisch, unheimlich oder abenteuerlich sein – sie unterhalten aber immer.

 

 

Fazit:

In sechzehn kleinen und kleinsten Wundergeschichten wird ein Ausschnitt der Märchen- und Sagenwelt Chinas präsentiert. Sie zeigen, wie sehr der Alltag und die Zauberreiche einander durchdringen und bieten dabei allerlei Anlass zu Lachen, Schaudern und vor allem zum Staunen. Diese Sammlung hat ihren Platz in der Bibliothek von Babel wahrhaftig verdient.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240426091316077d20d0
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Titel: Gast Tiger

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 21

Original: Ohne Angabe

Autor: P'u Sung-Ling

Übersetzer: Angelika Hildebrandt u. a.

Verlag: Edition Büchergilde

Seiten: 102-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-21-0

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 04.05.2008, zuletzt aktualisiert: 18.10.2023 18:41, 6415