Gentzen oder: Betrunken aufräumen (Autor: Dietmar Dath)
 
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Gentzen oder: Betrunken aufräumen von Dietmar Dath

Kalkülroman


Rezension von Ralf Steinberg

 

Erneut wandelt Dietmar Dath in seinem ganz speziellen Mathe-Kosmos, dessen Figuren und Themen ein kaum nachzuverfolgendes Netzwerk bilden.

Gentzen oder: Betrunken aufräumen gehört zu den komplexesten Werkes des Autors. Die Handlungsstränge werden nicht chronologisch erzählt, vielmehr mäandern sie durch ganz unterschiedliche Textsorten, Erzählweisen und bilden zum Teil erst ganz am Ende des dicken Buches Zusammenhänge – was aber vielleicht auch vom eigenen Lese- und Verständnisvermögen abhängt.

Dabei beginnt das Buch mit einer gnadenlosen Beschreibung des Hungertodes jenes Mathematikers, der Titel und Plot vorgab: Gerhard Gentzen. Als Dozent der Deutschen Universität in Prag ordnete er sich in alle NS-Strukturen ein und wurde deshalb mit Kriegsende auch verhaftet. Obwohl er vermutlich nur forschen wollte, zahlte er den Preis für die Verbrechen der Deutschen.

Diese erste Szene bietet alles, was Dietmar Daths Kunst der Charakterisierung auszeichnet. Berührend in der Sprache, intensiv, in eine Tiefe eindringend, die man in so wenigen Seiten bei Dath immer wieder findet. Ein kraftvoller und bedrückender Einstieg.

 

Doch dann zeigt sich schnell der wahre Aufbau des Buches, denn der Text wuchert in einer wilden Collage durch Zeit und Raum – fast hätte ich nach 160 Seiten abgebrochen. Aber irgendwie ist es eine Herausforderung, sich der Liebe Daths zum Denken zu stellen – und genau damit wird man immer wieder jenseits der Handlung konfrontiert.

Natürlich muss man in Gentzens Logik und Beweistheorie einsteigen. Dath gibt sich hier große Mühe. Immer und wieder erklärt er die Theorien und Entdeckungen, findet eingängige Vergleiche und oft genug konnte ich dem Ganzen auch folgen. Leider hielt sich das bei mir nicht lange, trotz Lady Gagas Hilfe. Sobald es zu Schlussfolgerungen, Ableitungen oder Anwendungen weiterging, stieg mein Hirn aus. Immerhin denke ich, dass ich die große Verknüpfung von Genzens Entdeckungen und dem SF-Plot des Romans erkannt habe, ohne sie tatsächlich exakt darlegen zu können. Vielleicht reicht es auch so: Durch Gentzens Art des Schließens konnte eine neue Biologie gedacht und so auch manifestiert werden.

So entsteht eine weltweite Katastrophe, denn das neue Leben verdrängt das alte – ja, auch »Gentzen oder: Betrunken aufräumen« ist ein Science-Fiction Roman!

 

Der Roman wird als großer Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts beworben und das hätte er vermutlich auch sein können, wenn nicht – und Dietmar Dath wird die Ironie vielleicht auch sehen – der Überfall Russlands auf die Ukraine das Jahrhundert komplett umgekrempelt hätte.

Nun ist »Gentzen« zu einem Vorkriegsroman geworden, der dennoch den großen zivilisatorischen Umbruch vordenkt. Dieser Umbruch führt in der jüngsten Zukunftsebene im Jahr 2035 zu einer Reise durch ein gezeichnetes Europa. Eine tödliche Natur in falschen Farben wurde mit Brand und Massenopferung der Bevölkerung in weiten Teilen ausgemerzt, was übrigblieb, kämpft ums nackte Überleben, nur Reste der staatlichen Strukturen existieren noch und suchen nach Lösungen. Eine davon sucht die Vierergruppe um die Kommandantin Rima Abadi. Ihr sind wir bereits in der Vergangenheit begegnet, wie auch ihren Begleitern und auch den Konstrukteur jener Maschine, die eine Rettung verspricht, kennen wir bereits, wenn uns der Autor das erste Mal in diese Zeit schickt.

Doch bevor wir erfahren, ob es diese Maschine gibt und ob sie etwas und was überhaupt, zu ändern vermag, haben wir noch diverse und weite Reisen im Kalkülroman vor uns.

 

Natürlich begegnen wir Gentzen wieder. Als Kind, Student, Dozent und als Gegenwartsmensch, der mit Lady Gaga umherzieht, mit ihr sinnsuchend abhängt und die mathematischen und logischen Themen seines Leben der Leserschaft erörtert. Wie gesagt, es ist hilfreich dabei Lady Gaga an der Seite zu haben und ein Spaß dazu. Denn ein wichtiger Aspekt des Romans dreht sich darum, dass Kunst Wissenschaft abbilden sollte, damit sie nicht durch Scheuklappen belastet und blind agiert.

Ein weiterer Handlungsstrang bringt uns den Autor wieder einmal als Figur zu Gesicht.

 

Zusammen mit dem Programmierer Jan Imhof (der betrunken denkt!) und der Biologin Laura Giarizzo sucht der als unfertige Idee vorgestellte Dietmar Dath nach dem plötzlich verschwundenen Freund der gemeinsamen Freundin Susan Akrifi (der vielleicht auch eine reale Person zugrunde liegt), die sich seltsamerweise kaum an mehr erinnert, als dass es ihn gab und wie er verschwand. Noch rätselhafter allerdings ist, dass sich ihre Freunde auch nicht an den Verschwundenen erinnern. Denn er war ein Bewohner ihrer Dreier-WG, die zwar immer noch aus Dreien besteht, aber den falschen, wie Susan meint.

Diese Suche ist spürbar der Drehpunkt des Romans, um den die anderen Stränge und Realitätsfetzen wirbeln. Hier gibt es eine Art kommunistischer Internationale um Bettina Willner mit eingestreuten Politdiskursen, philosophischen Pausen und jeder Menge Kapitalismuskritik.

 

Dath taucht darüber hinaus noch als Verfasser eingefügter Essays aus seinem journalistischen Schaffen auf. Es gibt autobiographische Kapitel über die Arbeit bei der faz unter Frank Schirrmacher, Erinnerungen an Vater und Mutter, einige kritische Texte über Dath und sein Wirken von anderen, sowie Meta-Texte Daths, in denen er sich auch zu früheren Büchern äußert. So ärgert er sich etwa, dass man in Leider bin ich tot nicht erkannte, um wessen Problem der Roman ging, obwohl Galen Strawson sogar als Figur auftauchte.

Das dürfte ihm auch mit diesem Roman passieren, denn nicht viele Menschen werden über Daths Denknetzwerk verfügen und gleichzeitig SF-Bücher wie dieses lesen.

In einem Kapitel beschwert sich Dath darüber, von Unbekannten geduzt zu werden. Aber natürlich sind all diese Texte, Bestandteil des Romans und haben nicht zwangsläufig tatsächlich etwas mit dem realen Autor Dietmar Dath zu tun. Die Metaebene ist hier ein weiterer Hinweis auf einer zersplitterte oder neu gedachte Realität oder gar Bündeln davon.

Ein weiteres Spiel mit der Meta-Ebene und Popreferenzen begegnet uns in Kapitel 46 zum ersten Mal. Das Kapitel »So ähnlich sah Shvaughn Erin mal aus« liefert uns lediglich eine Zeichnung. Ein Gesicht im Gesicht einer Frau. Der Name einer Comic-Figur aus der 70ern wird später im Roman eine Figur übernehmen und irgendwann laufen Spuren zu ihr und auch von ihr weg; quer durch den Roman und durch seine Zeit- und Handlungsebenen, bis hin zur halbwegs brauchbaren Idee namens Dietmar Dath und einer Medienkünstlerin.

Ganz verstanden habe ich diesen Part der Handlung nicht, aber er ist der Horror-Part und in seiner Rätselhaftigkeit und der Verknüpfung mit genauen Beschreibungen ungemein spannend.

 

In einer weiteren verteilten Handlungspartie verfolgen wir die Informatikerin Constance Griffith, die sich in den USA mit Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen muss und dabei in mehreren Episoden zur Inspirationsquelle für Andere wird, was in einer Art Programmierschule mündet, die sich den Fallstricken des Kapitalismus entgegenstemmt. In diesen Kapiteln geht es aber auch um Arbeitsorganisation und -gesundheit mit starken und realistischen Szenen, die erneut die immense Bandbreite an Dietmar Daths Interessen zeigen.

 

Dazu gehört vielleicht auch das Wetter, immerhin wird zu fast jedem Handlungszeitpunkt auch das Wetter beschrieben, vermutlich auch mit einem Muster, das sich wohl offenbart, wenn man sich die einzelnen Daten merkt.

Was man sich gemerkt haben könnte, wenn man schon ein paar Romane des Autors gelesen hat, ist der Name Cordula Späth. Sie taucht erneut auf und darf als komponierende Konstrukteurin mit der Göttin der Notwendigkeit, Ananke, picknicken.

 

Wie auch die altbekannte Figur Vera Uhlitz als Zitatespenderin fungiert: »Struktur ist Moral« etwa. Ihr weiteres Schicksal kennen wir ja bereits aus Neptunation oder Naturgesetze, Alter!.

 

Ein anderes Zitat hingegen verwundert dann doch. Stalin in einer Argumentationskette in einem aktuellen Werk vorzufinden, ist vielleicht typisch Dath, aber irgendwie auch obszön. Nicht alle Gedankenwege des Autors laden freundlich zum Folgen ein.

 

Daths Figuren aber ziehen weiter wie Elektrizitas Pulsipher und ihr vielgesichtiger Apparat.

»Sie haben noch Termine, in Daten, die kein Mensch je kennen wird.«

 

Fazit:

»Gentzen oder: Betrunken aufräumen« von Dietmar Dath ist ein bunter Denk-Marathon, der den SF-Roman erneut zu einer Basis macht, aus der sich Kunst, Wissenschaft und Popkultur in zum Teil schwindelerregende Höhen türmen. In den Schluchten dazwischen kann man sich verirren oder einfach trunken weiterlaufen und ans Aufräumen denken. Oder rechnen. Oder den Planeten retten …

 

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Buch:

Gentzen oder: Betrunken aufräumen

Kalkülroman

Autor: Dietmar Dath

gebundene Ausgabe, 604 Siten

Matthes & Seitz, 2021

Cover: Dirk Lebahn

 

ISBN-10: 3751800352

ISBN-13: 978-3751800358

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B09DLG8RC6

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 28.10.2022, zuletzt aktualisiert: 27.03.2024 18:28, 21233