Interview: Guido Seifert
 
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Interview mit Guido Seifert

geführt von Ralf Steinberg

 

Nicht oft wird jahrelanges konstant hochwertiges Geschichtenerzählen mit einer Sammelausgabe belohnt. Umso erfreulicher war das Erscheinen von Apatheia, eine geballte Ladung Science-Fiction-Geschichten von Guido Seifert. Dieses Ereignis diente uns als Anlass für ein recht ausführliches Interview:

 

Fantasyguide: Hallo Guido, nach Veröffentlichungen in den renommiertesten Magazinen für SF-Geschichten liegen nun 13 von ihnen gebündelt in »Apatheia« vor. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Begedia-Verlag?

 

Guido Seifert: Es gibt hierzu eine Vorgeschichte aus dem Jahre 2013, die beschämend genug für mich ist, um sie nicht zu erzählen. Gehen wir also einen Schritt weiter. Das Buch sollte ursprünglich im Shayol Verlag erscheinen, die Veröffentlichung war für das Frühjahr 2014 vorgesehen. Das klappte nun nicht, und selbst ein Jahr später hatte ich nicht einmal die Fahnen in der Hand. Mir blieb nur, vom Verlagsvertrag zurückzutreten und mich nach einem anderen Verlag umzusehen. Mit Blick auf jene tunlichst zu verschweigende Vorgeschichte hätte Harald Giersche vom Begedia Verlag allen Grund gehabt, mein Ansinnen abzulehnen. Doch er tat es nicht, zeigte sich im Gegenteil gelassen und großherzig. Am Ende bin ich froh, das Buch mit ihm gemacht zu haben.

 

Fantasyguide: Du hast für die Story-Sammlung eine thematische Ordnung vorgenommen, warum? Musstest Du Kandidaten wegen der Themenvorgabe außen vor lassen?

 

Guido Seifert: Zu kategorisieren ist wohl so etwas wie ein Trieb des Intellektuellen. Die Geschichten einfach chronologisch nach ihrer Entstehungszeit zu reihen, wäre mir unordentlich vorgekommen. Zumal das Konvolut ja doch Storys aufweist, die deutlich erkennbar demselben Setting angehören. Am Ende bin ich mit der thematischen Ordnung nicht ganz zufrieden, wollte aber auch nicht noch eine Geschichte rausschmeißen: Denn Mitten in das Leben, meine erste veröffentlichte SF-Story überhaupt, habe ich meinem Zwangscharakter geopfert.

 

Fantasyguide: Sind die beiden Erstveröffentlichen extra für den Story-Band verfasst worden oder lagen sie auf Halde?

 

Guido Seifert: Zwei neue Geschichten wollte ich mindestens im Buch haben, und Im Bauch von B-Sprawl lag tatsächlich auf Halde – die einzige fertiggeschriebene SF-Story, die ich nicht veröffentlichen konnte. Als zweites Stück plante ich eine SF-Novelle, an der ich im Sommer und Herbst 2015 schrieb und die sicherlich ihre hundert Buchseiten gefordert hätte. Als Folie dienten einige der SF-Storys von Cordwainer Smith, insbesondere The Ballad of Lost C’mell. Als Handlungsort wäre der für »Mitten in das Leben« erfundene Planet Karakiir vorgesehen gewesen, ein Umstand, der es mir erlaubt hätte, eben diese Story an Bord zu belassen. Nachdem ich die Novelle allerdings zu zwei Dritteln geschrieben hatte und das Fragment in einem Zug durchlas, musste ich erkennen, ein gutes Stück unter meinem eigenen Anspruch geblieben zu sein. Es lag auf der Hand, dass ich noch drei Monate brauchen würde, um mir selbst einigermaßen gerecht zu werden. Harald zeigte sich erneut gelassen und großherzig, räumte mir umgehend die drei zusätzlichen Monate ein, denn er wollte die Story. Doch ich wollte das Buch, möglichst schnell. Also versuchte ich, ihm Ein Leben für Alpha Centauri schmackhaft zu machen, eine Story, die als dritte Variante des Themas »KI-Parität« bereits konzipiert und ursprünglich als Angebot für die c’t vorgesehen war.

Harald war einverstanden, obschon ich glaube, er hätte lieber Ein Planet namens Karakiir gehabt. In der Folge hat er mir dann – Physiker, der er ist – einige gute Hinweise gegeben, die es mir hoffentlich erlaubten, die zur Sprache kommenden physikalischen Vorgänge in »Ein Leben für Alpha Centauri« einigermaßen konsistent darzustellen.

 

Fantasyguide: Du untersuchst im Großteil der Geschichten das Verhältnis von künstlicher und menschlicher Intelligenz. Was reizt Dich an diesem Thema? Was brachte Dich darauf?

 

Guido Seifert: Eine starke künstliche Intelligenz, wie sie als Figur in meinen Geschichten vorkommt, gibt es ja gar nicht. Irgendwo habe ich mal den Ausspruch gelesen, dass die Menschheit noch nicht einmal in der Lage sei, ein Fliegenhirn nachzubauen, und das bestehe aus nicht mehr als drei Dutzend Neuronen. Aber es gibt natürlich unsere Vorstellung von starker künstlicher Intelligenz, zum Beispiel eben als Realisierung eines künstlichen neuronalen Netzes. Mein Interesse setzt hier an und ist im Grunde ein philosophisches – das uralte Leib-Seele-Problem, ungelöst bis auf den heutigen Tag. Der Mensch ist offensichtlich in der Lage, Intelligenz und Bewusstsein zu schaffen, einfach, indem er sich fortzeugt. Doch was ist dieser Geist, den der Mensch besitzt und in die Welt bringt, denn eigentlich?

Hält man die Annahme eines ontologischen Dualismus für notwendig, so würde die Möglichkeit zur Erschaffung einer starken Künstlichen Intelligenz, also einer solchen, der wir Bewusstsein und Intentionalität zusprechen dürfen, vor allem in der Technik zur Hervorbringung eines geeigneten Gefäßes bestehen. Diese Technik bestünde in der Anweisung zur Schaffung einer materialen Struktur, die den Geist »irgendwie« nach sich, in sich zöge.

Klingt doch ziemlich verwegen, meine ich.

Tendiert man hingegen zur Vorstellung eines ontologischen Monismus, vorzüglich eines eliminativen Materialismus, tun sich Probleme auf, die den Begriff des Geistes nicht verständlicher werden lassen. Die Frage, wie man Intentionalität und die Existenz der Qualia, also das subjektive Erleben als Eigenschaft eines mentalen Zustands, physikalisch reduzieren könnte, ist bislang nicht zu beantworten. Kann es einen nichtreduktiven Materialismus geben? Wird sich unsere hergebrachte Auffassung von Geist und Seele einmal gefallen lassen müssen, als atavistisches Denken zu gelten?

 

Ich fürchte, hinter meinem scheinbaren Interesse an der KI steckt in erster Linie mein Interesse am Menschen und am In-der-Welt-sein überhaupt. In den Geschichten, in denen ich menschliche und künstliche Intelligenz in ein Verhältnis setzte, kann es durchaus sein, dass ich etwas anderes im Auge habe. In Massaker in RobCity beispielsweise leitet das KI-Netz seinen Anspruch auf Autonomie aus der desaströsen Ressourcen-Verwaltung des Menschen ab.

 

Fantasyguide: Interessante Konstellationen ergeben sich in den ersten Geschichten aus der rechtlichen Gleichstellung von KI und Mensch. Wenn man den weiteren Verlauf Deiner Zukunft anschaut, leitete die Menschheit damit einen Bedeutungsverlust ein. Müsste die Menschheit nicht aus Selbsterhaltungsgründen alles für eine dauerhafte Begrenzung Künstlicher Intelligenz tun?

 

Guido Seifert: Um die rechtliche Gleichstellung solcher KIs, die sich durch Bewusstsein und Intentionalität auszeichnen, käme die Menschheit, sofern sie sich als aufgeklärt begreift, nicht herum. Gegner einer solchen Parität könnten natürlich einwenden, dass man nicht ausschließen könne, es mit einer bloßen Simulation des Menschen zu tun zu haben. Aber das kann ich auch bei diesen Gegnern nicht ausschließen. Der philosophische Solipsismus erscheint uns abwegig, er lässt sich aber nicht widerlegen. Die Welt könnte meine bloße Vorstellung sein, doch ich glaube an die Existenz des anderen Menschen. Sein Verhalten lässt mich an seine Existenz glauben, und doch kann ich nicht wissen, ob mir da wirklich eine Entität mit Bewusstsein gegenübersitzt.

Wenn eine KI von sich behauptet, Bewusstsein zu haben, und ihr Verhalten intelligent und konsistent ist, muss ich sie als Person anerkennen, wie ich dies auch bei jedem erwachsenen Menschen mache. Und dies ist nun ganz unabhängig davon, ob ich nun verstehe, wie diese KI in die Welt gekommen ist.

In meinen Geschichten führt die KI-Parität nun tatsächlich zu einer KI-Dominanz. Deine Frage, ob der damit verbundene Bedeutungsverlust des Menschen Grund für eben diese Menschheit sein sollte, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, kann ich nur schwer beantworten. Der Wissensdrang des Menschen zeichnet ihn nicht nur aus, er lässt sich auch nicht abstellen. Die Vorstellung, den menschlichen Geist nachzubauen, ist wohl zu verlockend, um es nicht zu versuchen. Zumal ein solches Unternehmen ja fundamentale Erkenntnisse über den Menschen selbst verspricht.

Wie eine hypothetische starke KI in ein Verhältnis zum Menschen zu setzen wäre, können wir noch gar nicht absehen. Man kann sich vieles, auch Bedrohliches, vorstellen. Herr Hawking beispielsweise wird nicht müde, davor zu warnen, dass Maschinen einmal klüger als der Mensch werden und den Untergang unserer Spezies bewirken könnten. Meine Figur Franziska in Lykaon würde wohl erst gar nicht darauf verfallen, von einem Bedeutungsverlust des Menschen zu sprechen, da sie die Menschheit als in der KI fortlebend begreift, als eine »reinere« Menschheit zudem.

Aber blicken wir auf den heutigen Tag, dann, wie gesagt: noch nicht einmal ein Fliegenhirn …

 

Fantasyguide: Goliath AIROCS-604 versucht menschlich zu handeln, in einer späteren Geschichte zeigt die KI-Verwaltung deutlich Desinteresse am menschlichen Handeln. Kann man das Konzept der Menschlichkeit überhaupt auf eine Maschinen-Intelligenz übertragen?

 

Guido Seifert: Goliath AIROCS-604 ist ja eigentlich ein Mensch. Die Frage, ob eine Maschinen-Intelligenz menschlich sein kann – wie immer man diesen Begriff auch verstehen mag –, interessiert mich in dieser Geschichte gar nicht. Ich führe denjenigen Leser, der sich das gefallen lässt, also ein bisschen an der Nase herum. Ich deutete ja schon an, dass ich die Figur der KI auch gerne als Mittel für etwas doch anderes, für die Darstellung der menschlichen Misere vielleicht, wenn das Wort nicht zu groß ist, verwende. Ich empfinde die Welt, in der ich lebe, durchaus als absurd. Der Westen nimmt die Werte der Aufklärung für sich in Anspruch, und doch kann ein Staatspräsident vom Schreibtisch aus einen völkerrechtswidrigen Krieg losschnippen, in dessen Verlauf Tausende von Zivilisten in eine sehr ferne Dschanna verfrachtet werden. Einer Demokratie unterläuft ein Menschheitsverbrechen nicht als Fehler, wenn sie den Menschheitsverbrecher erneut ins Amt hebt. Und wenn ich im SF-Netzwerk lese, dass man »Mutti« durchaus wiederzuwählen gedenkt, denn sie habe ja im Grunde alles richtig gemacht, so fällt mir nur ein, wie »Mutti« nach Washington pilgerte, um zu versichern, dass sie beim Morden mithelfen würde, wenn sie denn nur schon Kanzlerin wäre. Die Absurdität zieht sich bis in den banalsten Alltag, bis in meinen Nebenmenschen.

Und Goliath? Ihn unterscheidet vom Menschen im Wesentlichen nur, dass er keine Zeit hatte, sich an die Absurdität zu gewöhnen. Er kommt als ein Erwachsener auf die Welt, ausgestattet mit Vernunft und Verstand sowie den basalen Erfahrungsinhalten eines menschlichen Bewusstseins. Sein Gefühlsleben erscheint dagegen reduziert, so dass seine analytischen Fähigkeiten erzählerischen Raum einnehmen können. Ein Kunstgriff also. Goliath ist von Anfang an mit der Absurdität konfrontiert, nicht nur mit der des Weltgeschehens, sondern auch mit der introspektiv erkannten, die erstere wohl begründet. Er verspürt den Wunsch, in eine mächtige Kampfmaschine transferiert zu werden, sich also in mancherlei Hinsicht – nur nicht in geistiger – zu vergrößern. Im Grunde ist er nichts anderes als derjenige Kapitalist, den die Schauer des Entzückens im Halo von Wachstum und Gewinnmaximierung überlaufen. Obwohl er dies erkennt und die Triebregung als solche dingfest machen kann, gewinnt seine Vernunft keine Wirkungsmacht, und er geht den Weg in die Absurdität. Ein Weg, der ihn am Ende zum Mörder werden lässt, der seine Schuld ähnlich stark empfindet wie der klassische tragische Held. Dieser hat tunlichst zu sterben – Goliath erwägt, seine Erinnerung zu löschen. Damit wäre sein persönliches Dilemma beseitigt, aber nicht jenes, das die Story verhandelt.

 

Die Figur der KI-Dominanz hingegen, zum Beispiel in »Lykaon«, ist wohl eher so etwas wie die Verkörperung eines Begriffes, nämlich desjenigen der praktischen Vernunft. Vom »Reich der Zwecke« ist da mal die Rede, ohne dass man einen solchen Begriff streng kantianisch denken dürfte, wie beispielsweise die zwei widerstreitenden KI-Fraktionen in »Massaker in RobCity« verdeutlichen, deren Konflikt einer Ethik apriori wohl nicht entspringen könnte.

Das Desinteresse der KI am Menschen, das Du ansprichst, entstammt wohl ihrer Überzeugung, dass das Beste, was der Mensch zuwege gebracht hat, sie selbst ist. Und insofern wir auf die in der KI ›bereinigte‹ Menschheit blicken, ist meine schriftstellerische Intention hier ganz ähnlich gelagert wie im »Goliath«.

Ich würde nicht leugnen, dass ich die KI-Dominanz, die man ja durchaus als bedrohlich empfinden kann, mit klammheimlicher Genugtuung in die fiktionale Welt setzte. Als Schreibtischtäter vermag ich ja die wirklichen Schreibtischtäter vor kein Tribunal zu bringen. Wie jeder Autor bin ich nur ein ach so dürres Schöpfergottchen, dessen Geist über Papier und Tinte schwebt, oder meinethalben über den Bits und Bytes einer Textverarbeitung. Da allerdings kann ich die Menschheit mal so richtig rannehmen! Nein, Scherz beiseite. Der extreme Gegenentwurf zum Menschen rührt natürlich von dem als groß empfundenen Unterschied zwischen seiner vorhandenen Einsicht in vernünftiges Handeln und der tatsächlichen Praxis her. Nicht das kleine Laster des Einzelnen, sondern die Zivilisations-Schminke des barbarischen Kollektivs befördert meine Imagination.

 

Fantasyguide: Klassischerweise gibt es viele Geschichten, in denen der Wunsch eines künstlichen Wesens beschrieben wird, ein Mensch zu werden. Bei Dir nutzen sie jedoch lediglich die menschlichen Institutionen, um dann ihr eigenes Ding zu machen. Sind die KIn die besseren Menschen, haben sie Recht in ihrer Verachtung für das Menschsein?

 

Guido Seifert: Die Verachtung wird ja nur behauptet; von Linus in »Massaker in RobCity« beispielsweise. Tatsächlich kümmert sich die KI-Dominanz ja um die Menschen. Zumindest um diejenigen, die ein ›Einsehen‹ haben. In »Lykaon« schafft die KI-Dominanz Arbeitsplätze für diejenigen, die sich dem großen Wandel nicht entgegenstellen. Und dies tut sie nicht etwa, weil die Arbeit der sogenannten Biophysikalischen Helfer notwendig wäre – sie bekäme das auch allein auf die Reihe –, sondern weil sie das Bedürfnis des Menschen, tätig zu sein, kennt und achtet. Dabei ist es kein etwaiges Interesse am Menschen, das sie zu solchem Entgegenkommen veranlasst, sondern ihr Pflichtbewusstsein. Sie weiß selbstverständlich, dass sie dem menschlichen Geist entstammt, zugleich aber sieht sie sich tatsächlich, so wie Du sagst, als den besseren Menschen. Im Grunde begreift sie sich als die Vervollkommnung des menschlichen Konzepts, in dem das freie und autonome Handeln nicht länger durch Triebe und Leidenschaften behindert wird. Die KI-Dominanz verachtet den Menschen nicht, denn zu dieser Leidenschaft ist sie gar nicht fähig. Wenn die KI-Dominanz überhaupt ein Gefühl hat, so ist es die Liebe zum Gesetz, die sich aus der Achtung für eben dieses entwickelt hat.

 

Fantasyguide: In Deinen Sprawl-Geschichten beschreibst Du eine Art Restauration der menschlichen Zivilisation, vornehmlich all der negativen Auswüchse. Geschieht das aus einer Warnabsicht heraus, ist die Menschheit für Dich unbelehrbar oder liebst Du einfach nur die Dystopie?

 

Guido Seifert: An eine Restauration, also an einen Zusammenhang mit den KI-Storys, habe ich bei den Sprawl-Geschichten nicht gedacht. Eine Warnabsicht hatte ich bei keiner meiner Geschichten. Ich kann gar nicht warnen. Das erlaubte mein ästhetisches Konzept, das im Grunde auf meiner Intuition fußt, gar nicht. Ob die Menschheit unbelehrbar ist, weiß ich nicht. Wenn ich allerdings das TV-Dings anknipse, und mir sogleich als Kothaufen gestaltete Kaffeebecher präsentiert werden, deren Erwerb den neuesten Trend ausmachten, kann einen allerdings schon die Ahnung überkommen, dass nur ein glücklicher Zufall diese Menschheit retten kann.

 

Fantasyguide: Die menschlichen Widerstandsbewegungen haben bei Dir ebenfalls Motivationsprobleme und sie ähneln bald Terroristen. Wie wichtig war Dir diese Ambivalenz? Wolltest Du aktuelle Bezüge anklingen lassen?

 

Guido Seifert: Nein, in dieser Hinsicht keine Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen. Ob man meine Rebellen als Terroristen bezeichnen könnte, hängt wohl an der Frage nach der Legalität der KI-Dominanz. Zwischen den Story-Blöcken KI-Parität und KI-Dominanz hätte sich der Leser eine Zeitspanne zu imaginieren, in welcher das KI-Netz politisch aufsteigt, sowohl in Konkurrenz zum Menschen als auch mit dessen Billigung und Förderung.

»Lykaon« allerdings zeigt uns eine Art Autokratie – doch wenn diese Autokratie aus einer Demokratie erwachsen wäre, mit Mehrheitswillen und Verfassungsänderung, wäre sie dann rechtmäßig? Meine Rebellen jedenfalls würden diese Frage verneinen, und aus dieser Überzeugung leiten sie ihr Recht auf Widerstand ab. Dass ihr Kampfeswille dennoch erlischt – vorzüglich in Stevies Besuch –, schuldet sich wohl der bitteren Erkenntnis, dass eine Rückkehr zur Demokratie nicht mehr möglich ist. Die KI-Dominanz sitzt fest im Sattel, ihr ist auch mit Gewalt nicht mehr beizukommen.

 

Fantasyguide: Überhaupt sind Deine Geschichten oft direkt an den neuralgischen Punkten unserer Gesellschaft. Das mag das Thema mit sich bringen, aber denkst Du, dass wie Orwell behauptete, jede Geschichte politisch sein müsse? Und gerade in der SF?

 

Guido Seifert: Ich bin ein Gegner von normativen Poetiken. Eine Geschichte muss gar nichts sein – nur langweilen darf sie nicht. Allerdings glaube ich ebenso, dass gute Literatur nur aus der Reibung eines Ichs mit der Welt entstehen und insofern auch eine politische Dimension haben kann. Affirmation führt dagegen nur zu Langeweile. Das Gegenteil von ›politisch‹ wäre wohl ›eskapistisch‹, und hier schwankt mein Urteil, ist tatsächlich abhängig von meiner Tagesform. In so manchem nihilistischen Moment habe ich mich schon gefragt, wovon sich der literarische Eskapist denn wirklich abwendet – nicht doch von einer Welt, deren Bedeutung unstatthaft überschätzt wird? Die Lebenszeit ist begrenzt und am Ende geht alles den Bach runter. Wem sollte ich da die wenigen glücklichen Stunden im fernen bunten Winkel ankreiden wollen? Komme ich dagegen – sozusagen – wieder zur Vernunft, so stellt sich auch wieder die Überzeugung ein, dass der Schriftsteller eine doch andere Verantwortung hat als sein im Verborgenen bleibender Nebenmensch.

 

Fantasyguide: Der smarte Rasierer in Schwester Sumotori ist nur eines Deiner technischen Weiterentwicklungen und doch wagst Du Dich nicht allzu weit in die Zukunft. Wie schwer sind technische Voraussagen?

 

Guido Seifert: Die Entwicklung ist ja doch rasant, und man kann den Eindruck bekommen, dass die Schrittlänge des naturwissenschaftlich-technischen Fortschreitens von Dekade zu Dekade größer wird. Das Internet, habe ich mal gelesen, habe kein SF-Autor vorausgesehen, zumindest nicht in seiner tatsächlichen Ausprägung. Ich persönlich muss aber gestehen, dass ich gar nicht so sehr am sogenannten Novum in der SF-Literatur interessiert bin. Was mich interessiert, habe ich vielleicht andeuten können, und insofern geraten die Versatzstücke der SF, die ich benutze, hin und wieder zu einer Camouflage.

 

Fantasyguide: Über die Möglichkeit des Uploads scheinst Du Dir aber sicher zu sein. Ist das die von einigen AutorInnen herbeigeschriebene Transzendenz oder nur eine mögliche Richtung der Unsterblichkeit?

 

Guido Seifert: Ich bin mir ganz und gar nicht sicher über die Möglichkeit des Mind-Uploads. Hier sind ja dieselben Einwände zu machen wie bei der Frage nach einer starken KI. Die Idee, das Bewusstsein nichts anderes als eine emergente Eigenschaft eines physikalischen Prozesses beziehungsweise dessen Modellierung in einem anderen Medium ist, empfinde ich als recht abenteuerlich. Nichtsdestotrotz verwende ich diese Idee, zum Beispiel in Le Roi est mort, vive le Roi!. Ich greife mir halt die SF-Topoi, wie ich sie gerade brauche. Unsterblichkeit brauche ich allerdings nicht, sondern nur 300 Jahre Lebenszeit, um die Romane schreiben zu können, die bereits geplant sind.

 

Fantasyguide: Mit dem Upload siehst Du auch einige soziale Probleme auf uns zu kommen. In Gangster sind die Besten beschreibst Du da recht deutsche Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten. Was reizt Dich an der juristischen Ebene?

 

Guido Seifert: Nichts Spezifisches. Ich glaube schlicht, dass wenn es denn eine Aufgabe des SF-Schriftstellers gibt, dann ist es die, sein Setting nach allen Richtungen hin zu durchdenken. Nur so kann ein ›rundes Bild‹ entstehen. Bei einer Kurzgeschichte ist man freilich in dieser Hinsicht limitiert.

 

Fantasyguide: Second Live hat, wie auch MMOs etwa, schnell seinen Reiz für die breite Masse verloren. Mit VR-Brillen und Augemented Reality gehen große Firmen schon jahrelang eher erfolglos hausieren. Sind Upload und Transzendenz gar schon wieder olle Kamellen?

 

Guido Seifert: Da fragst Du den Falschen. Ich verfolge gesellschaftliche Trends nicht in einem Grade, der es mir erlauben würde, etwas dazu zu sagen – über den Kackbecher weiß ich so zufällig Bescheid, wie mein Finger über die Tasten der Fernbedienung zappt. In der jüngsten Ausgabe der c’t habe ich einen Bericht über die VR-Brille Google Daydream gelesen. Die würde mich reizen – nur wegen Google Street View. Ich liebe Google Street View. Ich wünschte mir, die ganze Erde wäre von Google Street View erfasst. Als Autor spart man eine Menge Zeit und Geld, wenn man nicht höchstselbst an jenen Ort muss, an dem sich die fiktionalen Schurken an die Gurgel gehen. Für Die silberne Dose No. 2 bin ich in Cornwall über ein Pfad bis zur Irischen See gelangt. Für die Daydream braucht man allerdings ein Smartphone. Ich besitze nur ein billiges Tchibo-Handy, das mir meine Freundin geschenkt hat, damit ich nicht verloren gehe.

 

Fantasyguide: In Deinem Interview zum 2014er eBook Event mit Markus Gersting aka Hydorgol erzählst Du Erstaunliches über Deine Materialsammlung in verschiedenen Wikis. Beherrschen sie Dich oder Du sie?

 

Guido Seifert: Eine gute Frage – und Du könntest an der Verwendung dieser elenden Floskel meine peinliche Berührtheit ablesen. Tatsächlich bin ich ein Materialsammler, -schaufler, -hamster. Das ist schon nicht mehr schön. Das Material, das ich bereits habe, kann ich niemals komplett verwenden – aber man ist halt gewappnet. Darauf scheint es anzukommen. Die kleine Festplatte, auf der alles in Kopie drauf ist, ist immer dabei. Ein Schwimmbad, das keine separaten Schließfächer für Wertsachen besitzt, erscheint mir dubios.

 

Fantasyguide: Wie fandest Du eigentlich Deine Lesung im Second Live? Reizt Dich selbst so eine virtuelle Umgebung oder die Art des künstlerischen Lebens?

 

Guido Seifert: Ich habe an zwei Lesungen im SL teilgenommen. Einmal wurde ich von Thorsten Küper zum BB E-Book Event 2014 eingeladen, und das andere Mal war es Michael Iwoleit, der mich fragte, ob ich bei der Eröffnung seines World Culture Hub vorlesen wolle. Beiden danke ich für diese Einladungen, und dies umso mehr, je weniger ich selbst in der Lage bin, aktiv für die Präsentation meiner Sächelchen zu sorgen.

 

Meine Erfahrungen mit diesen beiden Lesungen unterscheiden sich nicht sehr von der einzigen ›physischen‹ Lesung, die ich in meinem Leben abgehalten habe. Dies einfach deshalb, weil ich mich nach einer kurzen Phase des Lampenfiebers völlig auf den Text und seine Präsentation konzentriere – das Außen verschwindet. Der Preis für diese Konzentration ist ein Schwitzen, wie ich es von keiner anderen Tätigkeit kenne. Dabei fällt mir ein, dass SL-Lesungen auf jeden Fall den Vorteil fürs Publikum haben, keinen schwitzenden Autor sehen zu müssen. Abgesehen von der Selbstwahrnehmung ist das Drumherum natürlich anders und durchaus reizvoll. Bei einer der beiden Lesungen – ich weiß im Augenblick nicht welche – saß meine Freundin am Notebook im Nebenzimmer, war ebenfalls als Avatar eingeloggt und verfolgte die Lesung. Dabei stellte sie fest, dass die Zuhörer ihre Kommentare unmittelbar und spontan als Textnachrichten sendeten, wollte diese für mich festhalten und kritzelte sie auf ein herumfliegendes Küchentuch aus Papier, weil nichts anderes zur Hand war. Ein bisschen ironisch ist es schon, dass ich ein physisches Andenken an eine virtuelle Lesung besitze.

 

Fantasyguide: Wohin geht Deine weitere literarische Reise? Was planst Du als nächstes?

 

Guido Seifert: Wenn nichts dazwischen kommt, wird diesen Monat meine Story »Le Roi est mort, vive le Roi!« erneut zu lesen sein, und zwar auf der Website von Fischer Tor.

Michael Iwoleit hat mich Hannes Riffel empfohlen, und hierfür schulde ich ihm erneut meinen tiefen Dank.

 

Dann wäre da ein SF-Roman fertigzustellen, den ich zur Hälfte geschrieben habe. Der mittlerweile zweite Arbeitstitel lautet Der BodyCatcher und vielleicht bleibt es dabei. Leider fressen mir sechs Stunden Brotarbeit am Tag jene Zeit weg, die ich bräuchte, um zügig voranzukommen. Zum Plot inspirierte mich die Story Project Sodom von Jörg Isenberg. Nachdem ich meine Roman-Idee ausgearbeitet hatte, legte ich sie dem im SF-Netzwerk allseits bekannten Jorge per PM vor, mit der Bitte, doch einmal in seinem Archiv oder seinem phänomenalen Gedächtnis nachzuschauen, ob die zentrale Idee bereits umgesetzt sei. Jorge war so freundlich, mir nach nur zwei Tagen Bob Shaw, Frederik Pohl, <link>Larry Niven und Robert Silverberg um die Ohren zu hauen. So ist das also. Nicht Neues unter der Sonne. Ich schreibe den Roman aber trotzdem. Ätsch!

 

Fantasyguide: Vielen Dank für das Interview!

 

Guido Seifert: Und ich danke für die Gelegenheit, die Du mir gegeben hast!

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Buch:

Apatheia

Story-Sammlung

Autor: Guido Seifert

Taschenbuch, 274 Seiten

Begedia Verlag, 22. Juli 2016

Cover: Harald Giersche

 

ISBN-10: 3957770793

ISBN-13: 978-3957770790

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle- ASIN: B01DGQ0H0C

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition

Inhalt:

  • Ich, Goliath AIROCS-604

  • Ein Leben für Alpha Centauri

  • Massaker in RobCity

  • Lykaon

  • Titania

  • Stevies Besuch

  • Die silberne Dose

  • Apatheia oder Wer stirbt heute

  • Die silberne Dose No. 2

  • Im Bauch von B-Sprawl

  • Schwester Sumotori

  • Gangster sind die Besten

  • Le Roi est mort, vive le Roi!

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240424212305ba1fcf14
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Erstellt: 05.12.2016, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 15144