Reihe: Chronik der Vampire Band 1
Rezension von Oliver Kotowski
Rezension:
Nach dem Tod seines geliebten Bruders erfüllt Louis großes Leid, denn er gibt sich die Schuld an dessen Treppensturz. Von Selbsthass getrieben treibt er sich in der Unterwelt New Orleans herum, bis der Vampir Lestat an ihn herantritt um aus ihn Seinesgleichen zu machen. Doch erscheint Louis das Dasein als Vampir zunächst wie eine rauschhafte Bewusstseinserweiterung, so entstehen zwischen den beiden unterschiedlichen Vampiren bald Spannungen: Lestat liebt den Luxus und die Verschwendung und dazu braucht er Louis, denn der aus niedrigen Verhältnissen stammende Lestat kann nicht mit Geld umgehen. Der kultivierte und feinfühlige Louis verabscheut den ungebildeten Sadisten, der hemmungslos seiner Großmannssucht nachgeht. Lestat hingegen verachtet die Zögerlichkeit und Weichheit Louis'. Als Louis ankündigt seinen Schöpfer verlassen zu wollen, macht Lestat das fünfjährige Mädchen Claudia ebenfalls zur Vampirin – da Louis sich zu der Kleinen hingezogen fühlt, hofft Lestat so Louis an sich binden zu können. Lange Zeit funktioniert diese Vampirfamilie auch, doch je reifer der Geist des Vampirkindes wird, desto weniger kann ein Spiel mit Puppen ihre Bedürfnisse erfüllen. So verlangt es ihr nach Wissen um das Dasein als Vampir und sie beginnt Fragen zu stellen, die Lestat weder beantworten kann, noch hören will. Anders als Louis ist Claudia allerdings keineswegs zimperlich in der Wahl ihrer Mittel.
Die Plantage Pointe du Lac liegt in der Nähe von New Orleans, einer Stadt, die zwischen der Wildheit der sie umgebenden feuchtwarmen Natur Louisianas und dem raffinierten, zur Dekadenz neigenden Luxus der französischen Auswanderer schwankt. Als Louis 1793 zum Vampir wird, wird dieser Luxus auf den Rücken schwarzer Sklaven erwirtschaftet – doch auch wenn Louis ein durchaus moralischer Mensch war, der ein großes Interesse an seinem Umfeld hegte, verfolgt er das Los der Menschen immer weniger, je länger er als Vampir lebt. Damit werden die Informationen über die Gesellschaft der Menschen immer spärlicher – am Ende werden Ereignisse nur noch gebraucht um die Entwicklung der 'Moden' der Schauplätze zu markieren. Da nun einer der Clous der Geschichte darin besteht, dass die Vampire in der Gesellschaft verhaftet bleiben, in der sie geboren wurden, bleibt das Setting dennoch ein Milieu, wenn auch auf eine dysfunktionale Art, da sie in einer Gesellschaft verwurzelt sind, die es nicht mehr gibt.
Es gibt eigentlich nur ein phantastisches Element: Vampire. Die hier entwickelten Vampire unterscheiden sich deutlich von denen in Bram Stokers Dracula. Zwar sind die Vampire in beiden Romanen untote Blutsauger mit übernatürlichen Kräften, doch während Dracula unzählige, z. T. recht eigenartige Kräfte hatte (so konnte er als Elementarstaub mit dem Mondlicht reisen) und ebenso bizarre Tabus beachten musste (wann genau kann er seine Gestalt wandeln?), sind die Vampire von Rice viel schlichter, man könnte sagen, materialistischer: Sie sind blitzschnell, fürchterlich stark und haben äußerst scharfe Sinne. Werden sie älter, kommen noch diffizilere Mächte hinzu. Auch die Tabus wurden verschlankt: Außer dem Sonnenlicht und massiver Gewalt müssen die Vampire eigentlich nichts fürchten. Vor allem in den Tabus spiegelt sich eine wichtige Differenz zwischen Stokers und Rices Werk: Wo bei Stoker vor allem der christliche Ritus (Kreuz, Oblaten) und wissenschaftlich verwerteter Aberglaube den abgrundtief bösen Vampir vernichten, ist es bei Rice ein moderner Materialismus, der den abgestuft bösen Vampir vernichtet; der Vampir ist nicht böse, weil er ein Vampir ist, sondern weil er Menschen mordet und er fürchtet nicht das Kreuz, sondern den Verlust der Fähigkeit sich anpassen zu können.
Die Figuren sind das wichtigste Element des Romans. Die Hauptfiguren sind allesamt Vampire. Man kann von ihnen mit Fug und Recht behaupten, sie seien vielschichtig, rund und detailliert entwickelt. Auszusetzen gibt es wenig, allenfalls, dass sie bisweilen etwas zu lehrbuchhaft konstruiert sind (was natürlich nur dann auffällt, wenn die Lehrbücher bekannt sind).
Zentrale Figur ist Louis. Mit fünfundzwanzig wurde der Edelmann zum Vampir, weil er eine Plantage besaß und mit Geld umgehen konnte – genau diese Eigenschaften bedurfte sein Schöpfer Lestat. Louis definiert sich in vielen Punkten durch sein Verhältnis zu seinem blonden Schöpfer. Louis verachtet Lestat für seine hemmungslos ausgelebte Großmannssucht, seinen Sadismus, seine Einfältigkeit. Nachdem der erste Rausch verflogen ist, befindet Louis, dass er verdammt wurde, verdammt zum ewigen Morden, verdammt durch den schönen Lestat. Damit wendet Rice (und mit ihr Louis) ein Stück weit Sigmund Freuds Formel »das Unheimliche am anderen ist das Heimliche an uns selbst« an: Louis verachtet sich selbst für sein grausames Verhalten seinem Bruder gegenüber. Lestats Weigerung Reue für seine Grausamkeit zu empfinden, ja Spaß daran zu haben, stellt nicht nur Louis' Haltung in Frage, es stellt auch sein Leiden in Frage – und damit wird die eigene Grausamkeit (zunächst) weitgehend vor sich selbst verheimlicht und am Schöpfer unheimlich.
Komplizierter ist das Verhältnis zu Claudia. Louis hatte sie in einer schwachen Stunde gebissen und Lestat hatte sie absichtsvoll zur Vampirin gemacht. Wo Louis von seiner Zerrissenheit und seinem Selbsthass beherrscht wird und Lestat von seinem Hass auf die Welt, ist Claudia von wechselhaften Sehnsüchten erfüllt: Nähe, Selbstständigkeit und Rache an Lestat; aus diesem Konglomerat erwächst großer Frust und ein blinder Zorn – in den wenigen Momenten, in denen sie überhaupt in der Lage zu Gefühlen ist. Louis fühlt sich für Claudia verantwortlich, er liebt sie auf seine Weise und fürchtet ihren Zorn und ihre Grausamkeit.
Neben diesen dreien ist noch der uralte Pariser Vampir Armand eine wichtige Figur; weniger wichtig, aber dennoch Plot relevant sind Louis Familie, Lestats Vater, Reisebekanntschaften, die Vampire von Paris und einige weitere Nebenfiguren.
Vom Plot her ist der Roman ein Bildungsroman: Louis wird in die Welt der Vampire eingeführt. Anfangs war das Vampirdasein wie ein faszinierender Rausch, doch bald stellen sich Probleme ein: Er stellt fest (bzw. Lestat sagt es ihm beständig), dass er dort nicht hinein passt – soll er sich anpassen? Je weiter er in der Welt herum kommt, desto mehr erfährt er über sich selbst – am Ende gelangt er wieder in New Orleans an. Der Leser erkennt schnell, dass diese Entwicklung eine desillusionierende ist – die Frage ist, wie weit seine Degeneration gehen wird. Wichtiger als die eigentliche Entwicklung ist allerdings die Charakterstudie Louis’.
Mit dieser Entwicklung verbunden ist die tragische Dreiecksbeziehung zwischen Louis, Lestat und Claudia, zu der später noch Armand hinzustößt, und Claudias und im geringeren Maße auch Louis’ Suche, die eigentlich die Antwort auf die klassischen Fragen der anthropologischen Philosophie – Woher kommen wir, wo stehen wir und wohin gehen wir? – zum Ziel hat.
Zwar gibt es auch einige Action-Szenen, deren Ausgang sogar Plot-relevant ist, doch diese Szenen selbst tragen nur wenig zur Spannung bei; diese wird, wenn auch in einem geringen Anteil, aus der direkten Bedrohung der Protagonisten gezogen. Weit wichtiger ist natürlich die Interessantheit der Charaktere und beinahe ebenso wichtig wie diese ist die transversale Spannung, die sich aus den philosophischen Fragen speist; verglichen mit Schwergewichten wie Viktor Pelewins Das fünfte Imperium ist das Interview mit einem Vampir nur ein Fliegengewicht, doch neben Trivialwerken wie Stephenie Meyers Biss zum Morgengrauen nimmt es sich wie der Marianengraben aus.
Der Plotfluss ist selbstverständlich gering – Charakterstudien sind per se situativ.
Interview mit einem Vampir gehört zu den Meilensteinen der Vampirliteratur, vor allem, weil es einen neuen Vampir-Typus populär machte: Die Vampire sind feinfühlige Melancholiker und amoralische Hedonisten; die eleganten Sadisten versprechen nicht mehr die ewige Verdammnis, sondern einen schönen Pyrrhussieg über den Tod. Zwar hat Rice die Geschichte einiger der Protagonisten weitergesponnen, doch das Interview ist eine in sich geschlossene Geschichte, die meines Erachtens sogar stärker ohne die Fortsetzungen ist: Das Ende der einzelnen Vampire wird zwar nicht immer explizit geschildert, doch die Richtung in die es geht wird klar angezeigt. Mit der Reihe schreibt die Autorin die Schicksale, Hintergründe und Charaktere der Figuren zum Teil um – damit wird nachträglich die schöne Ausgeglichenheit des Interviews zerstört.
Erzähltechnisch wird ein interessanter Kniff angewandt: Wie der Titel erahnen lässt, ist der Roman die objektive Schilderung eines Interviews zwischen Louis als Interviewten und einem namenlos bleibenden jungen Mann (der »Junge«) als Interviewer. Louis erzählt ihm von seinem Leben und der Junge stellt Zwischenfragen, anfangs häufiger, später immer seltener. Damit schwankt die Geschichte über weite Teile zwischen Ich-Erzählung und Dialog. Dem aufmerksamen Leser werden kleine Unstimmigkeiten auffallen – Louis ist als Erzähler auch nur begrenzt zuverlässig.
Konsequenterweise gibt es nur einen Erzählstrang. Dieser ist progressiv, auch wenn es einige regressive Erläuterungen gibt. Die Handlung ist dramatisch aufgebaut, wirkt bisweilen aber aufgrund der abrupten Ortswechsel episodisch.
Die Sätze sind recht unterschiedlich, neigen aber stets zur Länge, wobei die Struktur dem Duktus der Szene angepasst ist: In einer Szene direkter Bedrohung sind die Sätze gradlinig und etwas kürzer, in einer Szene philosophischen Dialogs sind sie verschachtelt und etwas länger. Die Wortwahl ist neutral, vielleicht ein wenig gehoben, wobei aber sowohl Modernismen wie auch altertümelnde Ausdrücke vermieden werden. Mitunter fällt auf, dass die Autorin gewisse Ausdrücke bevorzugt. Dieses kann man auf die Erzählperspektive zurückführen, stört aber dennoch – dass Claudia aussieht »wie von Botticelli gemalt« wird mindestens einmal zu häufig festgestellt.
Fazit:
Lestat macht den reichen, aber unter Weltschmerz leidenden Louis zum Vampir; schon bald beginnen die beiden Differenzen zu entwickeln und Lestats Schöpfung der Kind-Vampirin Claudia kann die Situation auch nicht unbegrenzt entschärfen. Mit Interview mit einem Vampir hat Anne Rice einen tragischen Bildungsroman geschaffen, der mit der detaillierten Schilderung eines neuen Vampir-Typus zum Meilenstein der Vampirliteratur avancierte; obwohl die Geschichte mittlerweile über dreißig Jahre alt ist, hat sie aufgrund ihrer Zeitlosigkeit nichts von ihrer Faszination verloren.