Interview mit Stefan Blankertz
Redakteur: Ralf Steinberg
Stefan Blankertz schreibt nicht nur Krimis, er ist auch Soziologe. Sein neuester Roman vereint Science Fiction und soziologische Gesellschaftsmodelle zu einem faszinierenden Gedankenexperiment.
Wir baten den inzwischen in Berlin lebenden Autor uns nähere Auskunft zu geben:
Fantasyguide: Herr Blankertz, Sie kennen den Literaturbetrieb als Verleger, wie als Autor. Wo sehen Sie sich innerhalb der deutschen Phantastik?
Stefan Blankertz: Ich liebe die kreativen Möglichkeiten der Phantastik, aber hasse die engen Genre-Grenzen, die der Kreativität wieder einen Maulkorb umbinden. In der Zeit gab es Ende letzten Jahres einen Essay, in welchem beklagt wurde, in der deutschen Literatur werde derzeit der Roman auf Story reduziert, als spiele die sprachliche Gestaltung nicht die Hauptrolle. Dem kann ich einiges abgewinnen.
Fantasyguide: Sprachschöpfung war bei Tolkien die zugrundeliegende Motivation seiner Geschichten, wie sieht es beim Lamo-Kodex aus?
Stefan Blankertz: Mir geht es um die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und dabei besonders um die Auseinandersetzung mit dem »Fremden«. Da spielen Sprachen eine wichtige Rolle. Ich habe zwei sehr verschiedene Sprachen entwickelt, in denen sich einerseits die Unterschiedlichkeit der beiden in der Innenwelt lebenden Völker und ihre Verständigungsschwierigkeiten spiegeln, die sich andererseits jedoch auch gegenseitig beeinflussen. Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass Sprache doch noch das befördert, wozu sie eigentlich da ist: Verständigung.
Fantasyguide: Werden die beiden Sprachen noch weiter Verwendung finden?
Stefan Blankertz: Um den Eindruck hinzubekommen, dass es sich um wirkliche lebende Sprache handelt, musste ich die Entwicklung viel weiter treiben, als ich es dann im Roman darstellen und verwenden konnte. Zu jener Zeit habe ich sogar in »Hibala« geträumt. Eine Kollegin, der ich davon erzählte, meinte, jetzt müsse ich dringend eine Pause machen. Manchmal hätte ich schon Lust, eine Fortsetzung zu schreiben: Das Kind der Innenweltler, Dragledi, wächst in der Außenwelt heran und leitet als Erwachsene eine Expedition in die Innenwelt.
Mehr als diese Idee habe ich zu diesem Projekt noch nicht.
Fantasyguide: Die Figur des Professor Brause ist eine ungemein lebendige Skurrilität – da > steckt doch bestimmt ein reales Vorbild dahinter?
Stefan Blankertz: Danke für das Lob, das in »lebendiger Skurrilität« steckt. Ein Schlüsselroman ist »Der Lamo-Kodex« nicht. In Professor Brause steckt jedoch viel von meinem verehrten akademischen Lehrer Christian Sigrist und auch von meinem Vater. Und in jeder Figur steckt die Autor auch selbst. Der wertschätzende Umgang mit Skurrilität gehört zu der Auseinandersetzung mit dem "Fremden".
Fantasyguide: Medienkritik, Basisdemokratie, Selbsthilfe - im »Lamo-Kodex« werden einige bundesdeutsche Probleme angezählt, aber auch Lösungen aufgezeigt. Brauchen wir mehr Mut zur Eigeninitiative?
Stefan Blankertz: Eigeninitiative und Eigenverantwortung gehören zusammen: Wenn wir eine perfekt organisierte Welt wollen, dürfen wir keine Fehler mehr machen und können dann nichts mehr lernen und selbst entscheiden. Mut zur Eigeninitiative heißt immer auch, sich dem Fremden und Unbekannten zu stellen. Der Außenweltsucher Lamo in der Innen- und Professor Brause in der Außenwelt stehen für die Möglichkeit der Toleranz: Beide sind irgendwie skurril und unvollkommen, aber sie stellen sich der Problematik.
Fantasyguide: Liegt eine politische Meinungsäußerung zu weit ab vom Mainstream, um Leser zu finden?
Stefan Blankertz: In den letzten Jahrzehnten hat sich eine gewisse Gleichförmigkeit der akzeptablen politischen Haltungen herausgebildet, die auf die zentrale Regelung von allem und jedem hinausläuft; gestritten wird meist nur noch um die Inhalte dessen, was auf welche Weise geregelt wird. In den Begriffen der Innenwelt ist die politische Haltung immer »paiseiischer« geworden. Ich sehe mich mit meinem Eintreten für Toleranz, Eigeninitiative und Eigenverantwortung tatsächlich abseits des Mainstream, aber nicht auf verlorenem Posten. Irgendwann haben es die Leute satt, herumgestoßen und bevormundet zu werden.
Fantasyguide: Was steckt in der ethnologischen Theorie von Christian Sigrist?
Stefan Blankertz: Sigrist hat zum einen das ethnologische Modell entwickelt, wie in Stämmen eine herrschaftsfreie Struktur aufrecht erhalten wird, und zum anderen, wie diese herrschaftsfreie Struktur durch das Zusammentreffen mit »Fremden« zusammenbricht.
Fantasyguide: Das System der herrschaftsfreien Struktur ist mir nicht ganz klar geworden, es klingt irgendwie nach Kommunismus, jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten, etwa wenn sich Lamo seinem Schlaf je nach dem Ruf des Körpers hingibt. Ist das nicht eine kommunistische Idee?
Stefan Blankertz: Wenn man Zwang und Terror abzieht, die die reale Umsetzung der kommunistischen Idee ja leider kennzeichnen. Der Fehler, den die neuzeitlichen Kommunisten gemacht haben, besteht in Folgendem: Sie leugnen die Wichtigkeit von Eigentum für die Möglichkeit des Menschen, sich frei zu entscheiden und eine Privatsphäre zu wahren. Diesen Fehler haben die Uranarchisten der Stämme nicht begangen, weder in der Innen- noch in der Außenwelt.
Fantasyguide: Rassenkonflikte in Verbindung mit religiösen Gegensätzlichkeiten, unterschiedliche Geschlechterrollen - ist die Hibala/Paisei-Gesellschaft ein rein soziologisches Experiment?
Stefan Blankertz: Mein Ausgangspunkt war, das Modell von Sigrist mit Leben zu füllen und dort zu ergänzen, wo die Vorstellungskraft das wissenschaftliche Bild vervollständigen muss, um es lebendig und anschaulich zu machen. Doch Literatur geht über Wissenschaft auch in dem Punkt hinaus, dass sie die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit darstellen kann. Sobald ich mir lebendige Personen vorgestellt habe, passte nicht mehr alles in das Modell.
Es gibt mehr Zwischentöne und Uneindeutigkeiten. Die Guten sind nicht mehr immer gut und die Bösen nicht mehr nur böse.
Fantasyguide: Sie erschaffen auch eine etwas andere technische Grundlage für die Hohlweltgesellschaft, wie phantastisch kann man da werden, ohne dass man auch gleich neue soziale Regeln erfinden muss?
Stefan Blankertz: Auch hier gilt, was ich eben zur literarischen Umsetzung der Theorie von Sigrist gesagt habe: Die Wirklichkeit ist nicht vollständig in einem Modell aufgehoben. Die technische und sozialen Entwicklung greift vielfach ineinander. Aber es gibt auch Zufälle, die nichts mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben, und dennoch eine starke Rückwirkung auf die Lebensform haben. In der Innenwelt wird z.B. das Rad nicht erfunden; dafür haben sie dort viel früher Fluggeräte.
Fantasyguide: Wie geht man als Soziologe mit Zufällen um? Es gibt ja, wie gerade in Nordafrika immer wieder Entwicklungen, die alle zu überraschen scheinen.
Stefan Blankertz: Man sollte sich frühzeitig von der Illusion verabschieden, alles vorhersagen und planen zu können. Der deutsche Soziologe Theodor W. Adorno hat das sprichwörtliche »erwarte das Unerwartete« auf wissenschaftliches Niveau gehoben: »Die Theorie weiß nicht, wann sie praktisch wird.«
Fantasyguide: Die physikalischen Grundlagen werden entweder nur angerissen oder ganz ausgeblendet - keine Angst vor den Fans der Hard-SF und ihren Taschenrechnern?
Stefan Blankertz: In der Tat bemängelt ein Rezensent, dass nirgendwo erklärt sei, warum man in der Außenwelt von der Innenwelt nichts mitbekommen habe. Meine Reaktion, als ich das gelesen hatte, schwankte zwischen: »Wenn etwas nicht da ist, kann man es auch nicht bemerken« und »Lies doch bitte mal in den entsprechenden Foren bei den Leuten nach, die die Innenwelttheorie ernsthaft vertreten.«
Über die physikalischen Grundlagen nachzudenken, hat mir viel Spaß gemacht.
Und ich habe das Gedankenspiel so weit getrieben, wie es für die Geschichte, die ich erzählen wollte, notwendig war.
Fantasyguide: Zum Thema Innenwelttheorie - haben Sie sich mit den literarischen Vorgängern beschäftigt, ich denke da Reise zum Mittelpunkt der Erde von Jules Verne oder Das Geschlecht der Zukunft von Edward Bulwer-Lytton.
Stefan Blankertz: Jules Verne habe ich gelesen; »Das Geschlecht der Zukunft« kenne ich (leider) noch nicht. Ich habe mich mehr mit Ursula LeGuin beschäftigt: Der Magier von Erdsee als vorbildlich ökonomischer Weltenbau, Die Enteigneten und Die Erzähler als differenzierter literarischer Umgang mit Utopien. Für den literarischen Umgang mit dem Fremdenartigen und Fremdsprachigen war für mich auch sehr wichtig der Roman Der Geschichtenerzähler von Mario Vargas Llosa.
Fantasyguide: Nach jahrelanger Zusammenarbeit mit dem Kölner Emons-Verlag und Selbstverlag nun ein Buch in der Edition Phantasia - wie kam es dazu?
Stefan Blankertz: Als meine Zusammenarbeit mit dem Kölner Emons-Verlag zuende ging, weil meine Geschichten zu phantastisch wurden, habe ich ein Manuskript an alle Verlage geschickt, die ich herausfinden konnte. Jeder Autor weiß, wie frustrierend das ist. Fast zwei Jahre danach hat Joachim Körber von der Edition Phantasia Kontakt mit mir aufgenommen. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Das Manuskript, das ich ihm geschickt hatte, stand nicht mehr zur Verfügung.
Aber ich hatte den »Lamo-Kodex« in der Mache. Joachim Körber ist ein toller Verleger und ich freue mich sehr, dass wir jetzt zusammenarbeiten.
Fantasyguide: Was steht literarisch als nächstes auf dem Plan?
Stefan Blankertz: Im Frühjahr erscheint in der kuk-Reihe der Edition Phantasia ein historischer Roman über den Apostel Paulus, der Dein Name sei Menschenfischer heißt. Im Augenblick schreibe ich wieder an einem Dark-Fiction-Roman, der in meiner neuen Heimat spielt: Berlin.
Fantasyguide: Vielen Dank für das Interview!
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