Vathek von William Beckford
Reihe: Die Bibliothek von Babel, Band 3
Rezension von Oliver Kotowski
Vathek ist der Kalif, der mächtige Herr aller Gläubigen. An Glanz und Pracht übertrifft seine Herrschaft die aller Vorgänger bei weitem; so dünkte ihn der Palast seines Vaters zu klein und er ließ ihn um fünf Flügel, jeder groß und stattlich wie ein eigener Palast, erweitern: Den fünf Palästen der fünf Sinne, die jeweils die Gelüste eines Sinnes vollends befriedigen sollen. Doch seine Sensationsgier bleibt unbefriedigt. Als eines Tages ein abscheulicher Fremder ankommt, bringen die Wächter ihn nur mit großem Widerwillen zu ihrem Herren. Trotz der vielen wundersamen Geschenke, die der Fremde überbrachte, erzürnt sein unhöfliches Verhalten bald den mächtigen Fürsten. Kurzerhand wird der hässliche Kerl herausgeschmissen. Jedoch hinterließ er Säbel mit seltsamen Schriftzeichen, welche die Neugier Vatheks entfachen. Dieses Geschenk zieht den hochmütigen Herren unaufhaltsam in einen Strudel der Freveltaten, an dessen Ende gewaltige Macht mit totaler Verderbtheit einhergeht.
Vathek ist eigentlich der 9. Abassiden Kalif Al-Wathiq, der von 842 bis 847 Arabien und den Mittleren Osten von Bagdad aus beherrschte. Doch historische Akkuratheit ist von dieser Geschichte nicht zu erwarten. Es werden immer wieder überbordende Details der näheren Umgebung geschildert; dieses dient jedoch weniger einer generellen Beschreibung des Hintergrundes, als vielmehr der Charakterisierung der Situation. Das Setting ist damit eine Art atmosphärischer Untermalung.
Die Wunder sind zweierlei Art: Zum einen werden eigentlich gewöhnlicher Dinge bis ins Groteske übertrieben, wie die fünf Paläste der Sinne – im Palast "Das ewige Festmahl" werden die Tafeln jederzeit mit erlesenen Leckerbissen gedeckt, so dass sie Tag und Nacht mundgerecht bereitstehen; zusätzlich fließen Weine und Liköre der kostbarsten Arten aus hundert unversiegelten Springbrunnen. Diese Wunder erinnern zum Teil an "Anglerlatein" oder "Seemannsgarn" – es sind "tall tales", deren Übertriebenheit jedoch eher zum Staunen als zum Schmunzeln anregen soll, wie dieses bei den Lügengeschichten um den Baron von Münchhausen der Fall ist; der manchmal durchschimmernde ironische Tonfall lässt jedoch erahnen, dass man davon auch nie weit entfernt ist.
Zum anderen sind die Wunder fest in dem arabisch-persischen Kulturkreis eingebunden: Astrologie und Alchemie sind die Künste, mit denen Vatheks Mutter, die Griechin Karathis, ihn unterstützt. Dschinne und Afrits streiten im Dienste Mahomets, respektive Eblis', um die Seele Vatheks. Die Gule (besser bekannt mit zusätzlichem "H": Ghule) lassen auf den Friedhöfen ihr Gezwitscher ertönen und dem Vogel Simurg kommt eine kleine Rolle zu. Bei diesen Wundern gibt es viele Anknüpfpunkte zu den Geschichten aus Tausendundeine Nacht. Es ist damit eine Arabian Fantasy.
Die Figuren sind im Rahmen der Geschichte gelungen. Wie es für ein Kunstmärchen zu erwarten ist, sind die Figuren nur schwach beschrieben, typenhaft und exzentrisch; zudem kommen sie mit einer minimalen Psychologie aus. Zusätzlich verleiht Beckford ihnen jedoch eine unerwartete Seite. Vathek ist ein typischer Luxus liebender Adliger; er ist launisch und sensationslüstern, aber auch zu echter Liebe fähig. Seine Mutter Karathis ist eine typische Hexe; sie ist herzlos und sadistisch, von einer verdrehten Ruhmessucht besessen, allerdings auch stolz und konsequent. Die anderen Figuren werden noch weniger charakterisiert; da gibt es den teuflischen fremden Händler und Bababaluk, den etwas trotteligen Oberharemswächter; den rechtschaffenen Emir Fahreddin und seine schöne und kecke Tochter Nuronihar, die seinem Neffen Gulchenruz versprochen ist, den Vathek als Mädchen in Jungengestalt bezeichnet.
Der Plot enthält viele Elemente einer Queste: Vathek will seine Neugierde und anderen Begierden befriedigen. Der fremde Händler ködert ihn mit den wunderbaren Säbeln und Versprechen auf viel Großartigeres; Vathek muss verschiedene Hürden überwinden um seine Belohnungen zu erhalten. Diese Hürden sind aber eher spiritueller oder psychischer Natur, denn physischer: Es gilt zwar eine Wüste zu durchqueren, doch die Herausforderungen sind nicht Hitze und Wassermangel, sondern Langeweile und ein eklatanter Mangel an Bequemlichkeit.
Hinzu kommen einige Momente, welche die Geschichte zu einer Gruselgeschichte machen. Vathek und Karathis sind zu extremen Gräueltaten bereit, doch diese werden sehr lakonisch und knapp geschildert, so dass sie eher komisch wirken – bis man sich die Zeit nimmt, darüber nachzudenken. Andere Episoden sind unglaublich grotesk und regen daher zum Schmunzeln an – wiederum nur so lange, wie man sich als Betrachter und nicht als Teilnehmer denkt.
Vathek gilt als eine der einflussreichsten Schauergeschichten; die Encyclopedia of Fantasy von J. Clute und J. Grant nennt sie als potentiell älteste Dark Fantasy Geschichte und Helmut Peschs literaturwissenschaftliche Arbeit Fantasy. Theorie und Geschichte sieht gar in ihr eine der ältesten Fantasy Geschichten überhaupt. H. P. Lovecraft lobt sie in seiner Literatur der Angst als eine der Geschichten, die seinen Stil am nachhaltigsten prägten. Es findet sich eine motivische Ähnlichkeit zu Goethes Faust in der Prüfung der Seele des Protagonisten durch einen teuflischen Versucher und der rettenden Kraft der Liebe, doch sowohl die Figuren als auch das Setting unterscheiden sich wesentlich. (Nebenbei: Während Goethe über 30 Jahre benötigte um die 1770 an der Urfassung begonnenen Arbeiten abzuschließen, schrieb Beckford seine Geschichte in 3 Tagen und 2 Nächten.)
Erzähltechnisch fallen die Abschweifungen auf, die heutzutage eher negativ bewertet werden, im Kontext der Geschichte aber nicht sonderlich stören, sondern eher eine 'orientalische' Verschlungenheit verleihen. Der Handlungsaufbau ist von den Abschweifungen abgesehen dramatisch; es gibt einen progressiven zentralen Strang mit kleinen Verästelungen; um die Spannung nicht zu verderben, soll offen bleiben, ob der desillusionierenden Entwicklung Einhalt geboten werden kann. Die Erzählperspektive ist auktorial, wobei der Erzähler im Hintergrund bleibt; da die Geschichte über weite Teile zusammenfassend erzählt wird, wirkt sie allerdings vielfach objektiv.
Die Sätze neigen zur Länge und auch Verschachtelungen werden nicht gescheut. Wortwahl und Redewendungen neigen zur Blumigkeit in erzählenden Szenen und zur Lakonie in zusammenfassenden; den Hang zum Altertümlichen haben beide selbstverständlich immer.
Fazit:
Kalif Vathek und seine Mutter Karathis werden von den wundersamen Versprechungen eines abstoßenden fremden Händlers in Versuchung geführt. Dieses grausig-humorvolle Kunstmärchen ist zwar schon über 200 Jahre alt, aber immer noch für Freunde von Arabian Fantasies zu empfehlen; wer sich dazu noch für die Anfänge der Dark Fantasy, die Wurzeln der arabischen Elemente in H. P. Lovecrafts Geschichten oder einiger Vorstellungen der Afrits und Dschinnen von Jonathan Strouds Bartimäus interessiert, kann bei dem hier bedenkenlos zugreifen.