Artikel: Die Top Five der Freak-Vampire
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Artikel: Die Top Five der Freak-Vampire

von Oliver Kotowski

 

Der normale Vampir in der Literatur sieht aus wie ein schöner, feingliedriger, bleicher Mensch und ist vom Habitus her zumeist der gesellschaftlichen Elite zugehörig. Doch es gibt auch ganz andere Vampire und um einige davon soll es hier gehen. Will man die vielen ganz unterschiedlichen literarischen Vampire etwas taxonomisch behandeln, dann liegen vier wesentliche Gattungen nahe: Es gibt zunächst die (normalen) Vampire – entweder waren sie einst normale Menschen, die transformiert wurden – sei es durch einen Fluch, ein Ritual, eine Krankheit oder Ähnliches – und nun übermenschliche Fähigkeiten besitzen, oder Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten, die zwar keine Menschen sind, diesen aber zum Verwechseln ähnlich sehen. Dann gibt es die Pseudo-Vampire, also 'normale' Menschen, die von anderen explizit als "Vampir" bezeichnet werden, weil sie Blut trinken oder sich als Vampir inszenieren, aufgrund äußerst sadistischer Morde bzw. Nekrophilie usw. Dazu kommen Psycho-Vampire, also Vampire, die statt Blut direkt die Lebensenergie der Menschen saugen. Schließlich noch die Freak-Vampire: Bluttrinker oder explizit als "Vampir" bezeichnete Wesen, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügen, aber in keinem Fall von der Gestalt her mit einem Menschen zu verwechseln sind. Diese lassen sich noch einmal in sieben weitere Kategorien untergliedern: 1. Die menschenartigen Vampire; 2. die tierischen Vampire; 3. die pflanzlichen Vampire; 4. die Ding-Vampire; 5. die grotesken Vampire; 6. die gespenstischen Vampire und 7. die abstrakten Vampire. Auf die gespenstischen Vampire und die abstrakten Vampire will ich im Folgenden nicht weiter eingehen, da deren Gestalten generell ziemlich langweilig sind. So bleiben also fünf Kategorien, für die jeweils ein Top-Freak gekürt wird.

 

1. Die menschenartigen Vampire

Hier geht es um Vampire, die zwar vage der menschlichen Gestalt ähneln – also einen Kopf und Rumpf, zwei Arme und Beine haben – sich von dieser aber in mindestens einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Mit nur drei Kandidaten eine eher unbeliebte Kategorie. Gehen wir chronologisch vor.

Die allererste Geschichte ist Nikolai Gogols Der Wij, eine Novelle aus dem Jahr 1835. Dieser Vampir ist ein wahres Monstrum: Es ist ein untersetztes, plumpes Wesen, dessen Arme und Krummbeine dicken, knorrigen Wurzeln gleichen; die aus seinem eisernen Gesicht ragenden Augenlieder reichen fast bis auf den Boden – werden sie gehoben, so tötet sein Blick einen jeden, der hinsieht. Würde die russische Volkssage diesen Erdgeist nicht Vampir nennen, so käme man nicht auf die Idee, ihn zu den Vampiren zu zählen. Als Nächstes kommt M. R. James' Ein Vorfall aus der Domgeschichte, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1914. Der Vampir, eine Lamia, wird im Gegensatz zum Vorgänger kaum beschrieben – er ist ein Ding wie ein Mensch, schwarz, überall Haare und zwei große Augen, die wie Feuer glänzen. Seine Opfer erliegen anscheinend der Kombination aus heißem Sommer und Altersschwäche. Als Letztes in dieser Kategorie: Clark Ashton Smiths Ilalothas Tod, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1937. Der Vampir ist hier wieder eine Sie und zwar die Hexe Ilalotha, die sich nach ihrem Tod in eine Lamia verwandelt. Typisch für die Cthulhu-Mythos-affinen Geschichten wird das Scheusal nur vage und fragmentarisch beschrieben: Sie ist nicht mehr menschlich mit einem zahnbewehrten Loch, halb Maul, halb Schnabel, Zitzen und mit Krallen versehene, enorm in die Länge gezogene Gliedmaßen. Das Blut ihres Opfer schleckt sie aus dessen zerfetztem Brustkorb.

Hier fällt mir die Entscheidung recht schwer; die beiden Lamiae aus Ein Vorfall aus der Domgeschichte bzw. Ilalothas Tod entfalten ihre Wirkung im Kontext der jeweiligen Geschichte eben aufgrund der lückenhaften Beschreibung, doch der russischen Volksglauben ein Stück weit parodierende Wij scheint mir aufgrund seiner auch an biblische Schilderungen gemahnende Bizarrheit doch ein wenig interessanter.

Damit wird in der Kategorie menschenartige Vampire Der Wij zum Top-Freak gekürt!

 

Nach oben

2. Die tierischen Vampire

Hier geht es offenkundig um Vampire in der Gestalt von Tieren – wobei normale Vampire, die sich in Tiere verwandeln können nicht zählen, wohl aber vampirische Tiere, die sich in Menschen verwandeln können. Dies ist die beliebteste Kategorie mit acht Kandidaten.

Die erste Geschichte dieser Kategorie ist Marcel Schwobs Die Vampire, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1891. Die Vampire sind Vogelwesen aus der Unterwelt, die zwar am Tage in der Gestalt alter Weiber an Kreuzwegen auf arme Reisende lauern, doch in der Nacht hört man sie auf der Totenwache – sie singen mit einer klaren Mädchenstimme Klagelieger. Dann fliegen sie zu den Toten und bohren ihre langen Schnäbel in die Gesichter, um ihnen das Blut auszusaugen. Als Nächstes kommt Lafcadio Hearns Der Fall Chûgôrô, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1902. Hier ist der Vampir ein Frosch, der Menschengestalt annehmen kann. Er zehrt vom Leben seiner Opfer, indem er ihr Blut gegen Wasser austauscht. Hierauf folgt Horacio Quirogas Das Federkissen, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1917. Der Vampir ist eine unglaublich große Zecke, eine scheußliche, riesige aufgeblähte Kugel mit ledriger Haut und langen behaarten Beinen, die sich im Kopfkissen des Opfers verbirgt und Nacht für Nacht mit ihrem Rüssel das Opfer sticht, um sein Blut zu saugen. Die vierte Geschichte dieser Kategorie ist Edward Frederic Bensons "Und es singt kein Vogel", eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1926. Den Vampir sieht man lebend nicht, denn er hüllt sich in eine unnatürliche Dunkelheit. Nach seinem Tod sieht man das Grauen: Es ist ein monströses Ding, halb Schnecke, halb Wurm, von etwa anderthalb Meter Länge und der Dicke eines kräftigen Oberschenkels. Es hat keinen Kopf, sondern nur einer Art Rüssel. Aus der gummiartigen grauen Haut sprießen einige schwarze Borstenhaare; es fühlt kalt und glitschig an. Nach seinem Tod zerfällt das Wesen schnell zu einer stinkenden Schleimpfütze. Die folgende Geschichte ist ursprünglich eine alte japanische Sage, doch die verwendete Textfassung ist Michael Parrys Die Vampirkatze von Nabéshima, eine kunstmärchenhafte Kurzgeschichte von 1972. Der Vampir ist hier eine große Katze, die sich in Menschen verwandeln kann. Sie leckt das Blut ihres eingeschläferten fürstlichen Opfers aus einem Halsbiss. Nun zu Christian von Asters Im Nagerparadies, eine komische Kurzgeschichte aus dem Jahr 2003. Hier treten allerlei vampirisierte Haustiere auf, vom Hamster und Meerschweinchen hin zum Wellensittich. Die Tiere haben rotgeränderte Augen, spitze Zähne bzw. Schnäbel und sind ein wenig blasser als ihre lebenden Artgenossen. Die zweitletzte Geschichte dieser Kategorie ist Michael Siefeners Der Egelgott, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 2003. Der Vampir ist ein Blutegel, der in einer Reihe von Träumen das Blut seines Opfers saugt, bis eine Transformation abgeschlossen ist, nach der der Geist des Opfers in den Leib des Blutegels übertragen wurde und der Geist des Vampirs den Leib des Opfers übernimmt. Finale Geschichte in dieser Kategorie ist David Grants Die Fledermäuse, eine Kurzgeschichte, deren Erscheinungsdatum unbekannt ist. Die Vampire sind hier Fledermäuse – es ist unklar, ob sie sich per se unnatürlich verhalten, oder ob ihnen dieses Verhalten vom unartigen Sohn der Opfer antrainiert wird.

Viele Kandidaten scheinen mir nicht sonderlich interessant zu sein: Ob der Frosch aus Der Fall Chûgôrô, die Katze aus Die Vampirkatze von Nabéshima, die Haustiere aus Im Nagerparadies, die Blutegel aus Der Egelgott oder die Fledermäuse aus Die Fledermäuse – es sind von der Gestalt her im Wesentlichen normale Tiere; auch wenn die Geschichten trotzdem oder gerade deswegen funktionieren können, scheiden sie als gute Freaks aus. Die Vogelwesen aus Die Vampire sind aufgrund ihres beklemmenden Verhaltens schon spannender, aber von der Gestalt her wiederum nicht herausragend. Bleiben die Zecke aus Das Federkissen und der Schnecken-Wurm aus "Und es singt kein Vogel". Beide sind von der Gestalt her schön abstoßend, doch ich gebe der Zecke den Vorzug, weil mir der Schnecken-Wurm etwas zu pulpig ist.

Und somit ist die Zecke aus Das Federkissen der Top-Freak in der Kategorie tierische Vampire!

 

Nach oben

3. Die pflanzlichen Vampire

Hier geht es um Vampire in der Gestalt von Pflanzen; auch hier liegen drei Kandidaten vor.

Den Anfang macht H. G. Wells' Die seltsame Orchidee, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1894. Der Vampir ist eine unbekannte Orchidee, die schon als Knolle hässlich aussieht – wie eine Spinne, die sich totstellt. Als ausgewachsene Pflanze hat sie dicke Luftwurzeln, die an Fühler erinnern, und die herabhängenden grünen Triebe tragen drei große weiße Blüten mit goldorangefarbenen Streifen; auf der Blütenlippe ist ein bläulich-goldenes Muster. Sie verströmt einen schweren, unerträglichen Duft, der betäubend wirkt. Sie saugt das Blut ihrer betäubten Opfer mit ihren beweglichen Luftwurzeln. Es folgt Gustav Meyrinks Der Kardinal Napellus, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1915. Der Vampir ist die Pflanze Aconitum napellus, die auch Blauer Sturmhut genannt wird. Die Pflanze bringt ihre Opfer mittels numinoser Macht dazu, sie mit ihrem Blut zu wässern. Den Abschluss macht Robert E. Howards Der Garten der Furcht, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1934. Die Vampire sind etwa einen Meter hohe unheimliche Blumen: Ihre armdicken, beinahe durchsichtigen Stängel mit giftgrünen Blättern in Form von Speerspitzen an langen schlangengleichen Stielen tragen eine etwa kopfgroße Blüte mit fleischigen, blutroten Blättern. Sie verströmen einen Verwesungsgeruch. Wenn sie gefüttert werden, beißen sie ihr Opfer mit der Blüte und ihre Stängel färben sich dann rot und schwellen an.

So sehr mir Der Kardinal Napellus als Geschichte gefällt, so ungewöhnlich die numinose Macht ist, die der Blaue Sturmhut über sein Opfer Radspieller hat, so langweilig ist die Form des Vampirs leider auch – er unterscheidet sich nicht im geringsten vom normalen Sturmhut; eine Stärke der Geschichte wird zur Schwäche bei diesem Wettbewerb. Die Vampir-Blumen aus Der Garten der Furcht sind zwar viel fantastischer als die Vampir-Orchidee aus Die seltsame Orchidee, aber mir missfällt die überdeutliche Symbolik. Die Vampir-Orchidee dagegen hält eine sorgfältige Balance – sie ist bizarr genug, um bedrohlich zu wirken, bleibt aber banal genug, um natürlich zu wirken.

Damit steht fest – der Top-Freak in der Kategorie pflanzliche Vampire ist: Die Vampir-Orchidee aus Die seltsame Orchidee!

 

Nach oben

4. Die Ding-Vampire

Hier geht es um vampirische Artefakte und solche Gegenstände, die ihren Benutzer zum Vampir machen. Diese Kategorie mit wiederum nur drei Kandidaten ist ebenso unbeliebt wie die vorherige.

Den Beginn in der vorletzten Kategorie macht Robert Blochs Der Umhang, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1939. Der Vampir ist ein Hybrid: Ein Fluchgegenstand in Form eines alten Capes, das wie ein riesiges, schwarzes Leichentuch aussieht. Der Vampir der nächsten Geschichte, Richard Mathesons Das Kleid aus weißer Seide, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1951, ist wiederum ein Hybrid und weißt durchaus Ähnlichkeit mit dem vorherigen auf. Bei dem Fluchgegenstand handelt es sich um das besagte weiße Seidenkleid; während es für die Trägerin wie ein wunderschönes Kleidungsstück aussieht, erscheint es dem Opfer als fleckige, muffig riechende Lumpen. Josef Nesvadbas Vampir Ltd. (früher auch Vampir-GmbH), eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1962, ist der letzte Kandidat dieser Kategorie. Der Vampir ist ein luxuriöser Sportwagen – Zwölfzylinder, Scheibenbremsen, Fünfganggetriebe und Lederpolster. Dieser Wagen beherrscht die Straße: Ampeln springen rechtzeitig um, die anderen Autos warten, selbst die Polizei macht Platz und natürlich fährt kein anderer Wagen schneller. Außerdem findet sich schnell eine attraktive Anhalterin, die sich mitnehmen lässt. Unter der Motorhaube ist allerdings statt eines Vergasers eine undurchsichtige Kammer, zu der durchsichtige Leitungen führen, die sich blutrot färben – wenn der Fahrer Gas gibt, und das bleibt bei diesem Auto nicht aus, dann wird dem Fahrer durch das Gaspedal Blut abgesaugt.

Die beiden Fluchgegenstände überzeugen mich nicht, zwar haben die Geschichten Der Umhang und Das Kleid aus weißer Seide ihre Stärken, doch ein interessanter Fluchgegenstand gehört nicht dazu (wobei das Seidenkleid wesentlich spannender ist). Doch der Sportwagen aus Vampir Ltd. siegt nicht aufgrund seiner schwachen Konkurrenz, er ist für sich eine sehr gelungene Adaption des Vampir-Motivs, bei dem Horror und Komik mit dezenter Kapitalismuskritik verbunden werden.

Ganz zweifellos ist der Top-Freak der Kategorie Ding Vampire der blutsaugende Sportwagen aus Vampir Ltd.!

 

Nach oben

5. Die grotesken Vampire

Hier geht es nun um Vampire, die nur eines gemeinsam haben: Sie sind von der Gestalt her keiner anderen Kategorie zuzuordnen – sie sind eben grotesk. Mit sieben Kandidaten die zweitbeliebteste Kategorie.

Die erste Geschichte der letzen Kategorie ist Guy de Maupassants Der Horla, eine Novelle aus dem Jahr 1886. Die Gestalt des Vampirs, des Übermenschen im Sinne Nietzsches, ist nicht ganz klar, denn der Horla ist unsichtbar. Bisweilen wird angedeutet, er sei von menschenartiger Gestalt, doch als er die Sicht des Opfers auf sich selbst im Spiegel behindert, scheint er ein formloser Nebel zu sein. Wie der Vampir der Sage trinkt er kein Blut, wohl aber Milch; nichtsdestoweniger saugt er seinen Opfern die Lebenskraft ab. Es folgt Alfred Kubins Die Jagd auf den Vampir, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1925. Der Vampir ist die Manifestation der Ängste der Bewohner eines abgelegenen Dorfes. Er tritt auf als etwa hundegroßes Tier mit dunkelgrauem Fell, kurzen, deformierten Hautflügeln, einer platt gedrückten Hundeschnauze und großen, runden Ohren. Der plumpe Leib wird von zwei stämmigen Beinen getragen. Ob er zum Bluttrinken gekommen ist und wie er es anstellte, bleibt unklar. Nach seinem Tod löst sich der Körper wieder auf. Hierauf folgt zum zweiten Mal Robert Bloch, dieses Mal mit Der Schlächter von den Sternen, einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1935. Der Vampir ist ein unsichtbarer Dämon, der mittels eines unheiligen Rituals von den Sternen herabgerufen wird. Das unförmige Ding ist eine große, pulsierende, gallertartige Masse mit unzähligen, tentakelartigen Rüsseln, an deren Enden sich mit schauriger Lust Saugnäpfe öffnen und schließen, einem gefräßigen Rachen und gewaltigen Klauen – sichtbar wird es freilich nur, wenn es sich mit dem Blut seines Opfers vollgesogen hat. Dann verblasst es schon bald wieder zur Unsichtbarkeit und fliegt unter ghoulischen Geplapper zurück in den Himmel. Wie zuvor Bloch, so ist auch Ronald Chetwynd-Hayes zweimal vertreten. Zum ersten: Das Labyrinth, eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1974. Der Vampir ist ein Haus. Genau genommen liegt der gepfählte Vampir in seinem Grab und aus ihm heraus wächst ein Haus, aus seinem deformierten Oberkörper wachsen Knäuel schlauchartiger Wucherungen, die es mit lebenswichtiger Flüssigkeit versorgen. Dabei scheint es auf den ersten Blick bloß ein großes, unheimliches Anwesen zu sein, doch passiert man den Mund, eine spezielle Tür, dann gelangt man in einem labyrinthischen Bereich, in dem die Wände organisch grün und nachgiebig sind. Alleine durch den Aufenthalt in diesem Bereich entzieht der Vampir den Opfern die Lebensenergie. Ronald Chetwynd-Hayes zum zweiten: Der Aufhocker ist ebenfalls eine Kurzgeschichte aus dem Jahre 1974. Dieser Vampir ist wiederum ein Dämon, der durch ein Ritual herbeigerufen wird. Er sieht aus wie eine langgliedrige Mischung aus verwachsenem Affen und Spinne; es ist ein rosiges, verschrumpeltes Ding mit winzigen Augen, das blitzschnell seinem Opfer auf den Rücken springt, sich dort festklammert und verbeißt – es sieht dann aus, als hätte das Opfer einen Buckel. Nur ein spezielles Ritual kann das Biest vertreiben, ansonsten wird es ein Leben lang auf dem Rücken des Opfers hocken. Die vorletzte Geschichte ist Viktor Pelewins Das fünfte Imperium, ein Roman aus dem Jahr 2006. Vampire sind wieder einmal Hybridwesen. Dieses Mal wird einem Menschen die "Zunge" anstelle der Mandeln eingesetzt. Die Zunge ist der Rest einer fremden Art von Fledermäusen; sie ist das Großhirn. Sie lässt den Vampir mittels einer elektrischen Entladung die Haut des Opfers leicht ritzen und zieht ein Quäntchen Blut ein. Dieses Blut dient nicht der Ernährung, sondern der Informationsbeschaffung – alles, was das Opfer weiß, kann der Vampir dank der Zunge aus dem Blut lesen. Schließlich ist noch Svetoslav Minkoffs Der Vampir zu nennen, eine Kurzgeschichte, bei der wiederum das Erscheinungsdatum unbekannt ist. Der Vampir ist ein seltsamer Hybrid: Leib und Kopf sind der einer schwarzer Eule, aber ohne Schnabel, die Augen sind die eines Menschen und dazu hat er Fledermausflügel. Statt Menschenblut zu saugen, malträtiert er ganz wie der klassische Sagen-Vampir das Vieh der Bauern.

Der Horla offenbart zwar niemals seine wahre Gestalt, doch weder unsichtbarer Mensch, noch unsichtbarer Nebel scheinen mir besonders interessant – die Geschichte ist ob ihrer Deutungsoffenheit dennoch sehr lesenswert. Auch wenn Die Jagd auf den Vampir und Der Vampir aufgrund der ungewöhnlichen Verwendung des Vampir-Motivs durchaus lesenswerte Geschichten sind, so sind die Gestalten selbst doch nicht sonderlich anregend; Ähnliches gilt für Der Aufhocker auch wenn hier das bizarre Verhalten des Vampirs noch interessanter ist. Bei den verbleibenden drei Geschichten fällt mir die Entscheidung schwer, doch ich denke, die Zunge aus Das fünfte Imperium ist trotz der radikalen und spannenden Neuausdeutung des Motivs die schwächste von ihnen. Dann kommt der Der Schlächter von den Sternen – eine abstoßende Gestalt, einem Horror-Roman würdig und meines Erachtens die beste Verknüpfung des Vampir-Motivs mit dem Cthulhu-Mythos, aber mit der fundamentalen Bizarrheit des Haus-Vampirs aus Das Labyrinth kann er nicht mithalten.

So bleibt festzuhalten, dass der Top-Freak in der Kategorie groteske Vampire das vampirische Haus aus Das Labyrinth ist!

 

Nach oben

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen. Ich habe etwa hundertfünfzig Vampir-Geschichten verarbeitet. Davon sind vierundzwanzig mit Freak-Vampiren, also rund ein Sechstel. Ich denke, dass die Freak-Vampire damit klar vor den Psycho- und Pseudo-Vampiren liegen, aber weit hinter den (normalen) Vampiren, auch wenn ich bisher mehr Aufmerksamkeit auf die Freaks legte – Das Kristallei, eine Sammlung von H. G. Wells' Geschichten, habe ich mir z. B. nur gekauft, weil Die seltsame Orchidee enthalten ist. Außerdem scheint klar, dass der bevorzugte Typus für Freaks die Kurzgeschichte ist – nur ein Roman ist dabei. Wirft man einen Blick auf die Entstehungsdaten, so stellt man Überraschendes fest: Zwar ist die älteste Geschichte aus den Anfangsjahren (Der Wij, 1835) und die letzte ziemlich aktuell (Das fünfte Imperium, 2006), doch bei ihnen handelt es sich um statistische Ausreißer; aus einem Zeitraum von knapp zweihundert Jahren stammen vierundzwanzig Geschichten, doch von diesen vierundzwanzig Geschichten stammen wiederum siebzehn Geschichten aus den fünfundsiebzig Jahren von 1901 bis 1975 (die beiden undatierten Geschichten stammen ebenfalls aus diesem Zeitraum). Das alleine ist schon eine bemerkenswerte Häufung, doch viel seltsamer wird es, wenn man bedenkt, dass ab 1975 die Vampir-Welle einsetzte – Kings Brennen muß Salem und Sabernhagens Die Geständnisse des Grafen Dracula erschienen 1975, Rices Interview mit einem Vampir 1976 und danach ging es rasant weiter. Es scheint so, als hätten man fünfundsiebzig Jahre lang nach dem besonderen Etwas gesucht, welches dann im (normalen) Vampir entdeckt wurde. In dieser Hinsicht sind die Top-Freaks auch ein Tribut an den Questenritter, der in jedem Autor stecken sollte. Andererseits verwundert es nicht, dass es bei den Freak-Vampiren keinerlei Entwicklung gibt – es gibt nur ungerichtete Veränderung.

Gleichwie, es gibt noch viele von mir ungelesene Vampir-Geschichten – ich bin mir sicher, da draußen, in diesem Dunkel, da lauern noch zahllose weitere Freak-Vampire. Solltet ihr auf welche stoßen, besonders, wenn sie mit den Top Five konkurrieren können, dann meldet sie umgehend!

 

Nach oben

Platzhalter

Die Top Five:

(für die ganz Eiligen unter Euch)

 

In der Kategorie menschenartige Vampire:

Der Wij von Nikolai Gogol

Diese Novelle finde sich z. B. in der großartigen Sammlung Von denen Vampiren oder Menschensaugern, hrsg. v. Dieter Sturm und Klaus Völker.

Erhältlich bei: Amazon

 

In der Kategorie tierische Vampire:

Das Federkissen von Horacio Quiroga

Diese Kurzgeschichte findet sich z. B. in der feinen Sammlung Vampirric, hrsg. v. H. R. Giger.

Erhältlich bei: Amazon

 

In der Kategorie pflanzliche Vampire:

Die seltsame Orchidee von H. G. Wells

Diese Kurzgeschichte findet sich z. B. in der Sammlung Das Kristall-Ei, hrsg. v. H. G. Wells.

Erhältlich bei: Amazon

 

In der Kategorie Ding-Vampire:

Vampir Ltd. von Josef Nesvadba

Diese Kurzgeschichte findet sich z. B. in der Sammlung Vampir Ltd., hrsg. v. Josef Nesvadba.

Erhältlich bei: Amazon

 

In der Kategorie groteske Vampire:

Das Labyrinth von Ronald Chetwynd-Hayes

Diese Kurzgeschichte findet sich z. B. in Das Labyrinth des Schreckens (Pabel Vampir 54), hrsg. v. Ronald Chetwynd-Hayes.

Erhältlich bei: Keine Ahnung. Viel Spaß beim Durchstöbern der Antiquariate.

Weitere Infos:

Der Artikel: Vampire aller Kontexte vereinigt Euch! bietet einen kleinen Überblick über die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Wortes "Vampir".

 


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 25.09.2009, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 9252