Die Residenz in den Highlands (HerausgeberInnen: Marianne Labisch und Gerd Scherm)
 
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Die Residenz in den Highlands herausgegeben von Marianne Labisch und Gerd Scherm

Ein Roman in Episoden

 

Rezension von Yvonne Tunnat

 

Was machen eigentlich phantastische Wesen, wenn sie nicht mehr alleine leben können oder wollen?

Wenn Demenz einsetzt oder körperlicher Verfall?

Die Idee der Residenz in Schottland hat mir außerordentlich gut gefallen. Die Geschichten sind allesamt sehr originell und die beschriebenen Wesen ebenfalls.

Mir persönlich hätte eine Handvoll Geschichten über naheliegendere Monster (Vampire, Frankensteins Monster als Hauptcharaktere statt nur in Nebenhandlungen) ebenfalls sehr gut gefallen.

 

Zu den Kurzgeschichten:

Marianne Labisch: Lady Banshee de Lily Ouvertüre

Herrlich! Einfach toll. Diese Anspielungen auf einen gewissen 24. Dezember vor sehr, sehr langer Zeit …

Die Ich-Erzählerin macht sehr klar, dass sie aus ihren damaligen Fehlern gelernt hat (zwangsläufig, sie wird ja gezwungen). Nun muss sie alle Wesen aufnehmen – auch aus anderen Dimensionen, auch Fabelwesen und auch, wenn es Schreckfiguren sind. Na, da bin ich ja mal gespannt, wer so in der Residenz auftauchen wird.

Der Ton dieser einleitenden Episode hat mir extrem gut gefallen.

Plus, guter Grad zwischen Witz und Ernst: Ihre Gedanken zur Unsterblichkeit und was das bedeutet (ständige Müdigkeit und Verlust).

 

Sascha Dinse: Acheron

Auch hier gibt es ein erzählendes Ich, wenn auch diesmal ein Gast, nicht die Gastgeberin. Hier handelt es sich außerdem um einen Arzt, der aber durchaus eigene Probleme hat, die sich nach und nach entblättern. Die Wahl und der Einsatz von Adjektiven ist bemerkenswert. Siehe »Die Limousine gleitet flüsterleise dahin.«

Als Auftakt eignet sich diese Story sehr gut, vor allem aufgrund des Schlusses, den man auch als einen Anfang lesen kann.

 

Ansgar Sadeghi: Der griesgrämige Herr Butzemann

Obwohl das Thema der Geschichte sehr ernst ist, hat der Ich-Erzähler viel Humor. Es liest sich wie ein sehr unterhaltsames Tagebuch. So gibt es einen Frankenstein, »Franky 4.2.1« (ja, es gibt mehrere Modelle) und diese hier hat Schweißdrüsen.

»Welcher bescheuerte Produktdesigner verpasst einem Monster Schweißdrüsen?«

Einige Sätze muss ich mir wirklich merken, Beispiel:

»Er war so freundlich wie ein Metzger, der ein Schwein willkommen heißt.«

In der Geschichte geht es um den Tod und macht trotz des sehr humoristischen Stils rasch klar, worum es in diesem Werk geht: Klar, es handelt sich um Monster. Aber es handelt sich eben auch um alte Wesen. Das ist ein Altersheim. Die meisten verlassen es nur im Sarg. Auch Monster werden alt. Ich kann die Idee für diese Anthologie nur bewundern.

 

Vincent Voss: Halber Mensch

Auch diese Episode thematisiert den Tod, aber auch die Liebe. Der Ton ist hier deutlich ernster und düsterer. Vincent war auch bei der Zwielicht 14 und vor allem der Zwielicht 15 (sehr gute, gruselige Story) dabei und ich spüre auch hier, dass er eher aus der Horror-Ecke kommt.

Die Hauptfigur (diesmal personale Perspektive) ist dreiundachtzig Jahre alt und verliebt in die »Königin in Gelb«, die sich Kassandra nennt und versucht, mit keinem der anderen Bewohner:innen der Residenz Kontakt zu haben.

Die Hauptfigur, ursprünglicher Name Argyle Findlay, sucht sich bei seiner Ankunft einen neuen Namen aus: Aristophanes. Einige Jahre verbringt er in der Residenz (und wie geschickt das trotz der Kürze der Geschichte erzählt wird). Er spricht selten, schreibt nur, obwohl er durchaus sprechen kann.

Das Geheimnis um Kassandra interessiert mich recht schnell. Vor allem der Schluss ist sehr gelungen. Tolle Geschichte.

Schön ist natürlich auch, dass es Gedanken zu Figuren aus den anderen Stories gibt, so ist ihm der Butzemann aus Ansgars Geschichte beispielsweise »nicht geheuer«.

 

Andreas Flögel: Pixy, Krähe, Mortadella

Der Protagonist ist der Kater einer Hexe. Mister A. Oder besser »Mystera«. Hier hat der Autor es in wenigen Seiten (die meisten Stories haben etwa zehn Seiten) geschafft, einen verwickelten Plot zu liefern, klar erzählt, plus nachvollziehbarem Ende mit Schlusspointe. Nicht übel. Ich mochte außerdem diesen Kater sehr. Vor allem, weil ihm Mortadella besser schmeckt als Mäuse.

 

Gerd Scherm: Der Bewerber

Das ist eine Art Interview, der »Bewerber« möchte in die Residenz einziehen. Drei Personen müssen entscheiden. Die Geschichte nimmt erst nach ein paar Seiten Fahrt auf, da ich recht schnell weiß, wer dieser Bewerber ist. In der zweiten Hälfte kriegt mich die Story dann doch noch, weil mir ein paar originelle Gedanken, gute Dialoge und ein sehr runder Schluss geboten werden.

 

Regina Schleheck: What shall we do with the drunken Fisher?

Eine Meerjungfrau! Diese werden mehrere hundert Jahre alt und verlieben sich nur ein einziges Mal im Leben. Da aber dank der Verschmutzung der Meere Wassermänner rar geworden sind, müssen auch manchmal Menschenmänner dran glauben. Aber darum geht es hier nur scheinbar – hinter dem vermeintlichen Stalking einer Meerjungfrau eines der ortsansässigen Fischer steckt etwas anderes.

 

Anja Bagus: Hunger

Der Ich-Erzähler ist nicht zu beneiden. Hat er doch so viel Hunger, dass er sich fast selbst angeknabbert hätte. Dabei ist er kein Vampir, kein Kannibale. Er hat einfach nur einen unstillbaren Hunger.

Das ist mal ein originelles Monster – plus, er ist ein Monster für seine Umwelt und er fühlt sich selbst auch alles andere als wohl. Ich fand vor allem den Schluss sehr originell. Das ist mal ein Monster der sehr anderen Art.

 

Thomas Heidemann: Art Brut

Für mich hat es etwas gedauert, bis ich reinkam, dann habe ich aber die neue Verwendung einer klassischen Plotwendung sehr genossen.

 

Enzo Asui: Das Original

Hier bleibt einiges meiner Vorstellungsgabe überlassen, was ich sehr schätze. Das erzählende Ich muss hier lernen, wo seine Grenzen sind und welche Wirkungen es auf die Bewohner:innen der Residenz hat.

Besonders gelungen fand ich die Beschreibungen davon, wie das erzählende Ich (das sonst den See bewohnt) normales Klarwasser empfindet. Das hat meine Sinne besonders schön angesprochen.

Dies ist eine der Geschichten, die nicht das Altwerden oder Sterben thematisieren, sondern eher eine (psychische) Störung.

 

Rainer Schorm: Der Schnee des Uranus

Der Raumfahrer Macrae ist nach seiner Reise zum Uranus nicht mehr wirklich im Koma, aber so richtig wach ist er (zunächst) auch nicht. Wiederholt erzählt er die gleiche Geschichte über den Uranus, ohne auf seine Umwelt zu reagieren.

Dann wird ein Pfleger, Lennox, von etwas unter Macraes Bett gebissen – das er zunächst für einen Haggis hält.

Doch es ist gar kein Haggis und die Zähne stellen sich auch als etwas völlig anderes heraus.

Besonders gelungen fand ich hier die Dialoge, insbesondere die wörtliche Rede jenes gebissenen Pflegers Lennox. Umgangssprache und Dialekt glaubhaft hinzubekommen gelingt nicht oft.

Bei den Anmerkungen erfahre ich dann, dass Haggis im schottischen doppeldeutig ist. Schön!

 

Gerd Scherm: Happy birthday!

Ungünstig: Ein Krake, der panische Angst vor Wasser hat.

Hier folgen wir einem Gespräch zwischen Dr. Lazarus und Mackay (der bald Geburtstag feiern wird) und der Arzt vertraut Mackay ein Geheimnis an. Das absolut und unter keinen Umständen verraten werden darf.

Wie war das noch mit Geheimnissen, die von zwei Leuten bewahrt werden können?

 

Christian Künne: Unter dem Donner hoher Meeresflut

Hier geht es ebenfalls um einen Kraken- aber definitiv um einen anderen mit sehr abweichenden Schwierigkeiten. Dieser Krake fühlt sich sehr wohl im Wasser (nebenbei bemerkt, die Flexibilität der artgerechten Unterbringung in der Residenz ist bemerkenswert), ist aber nicht mehr so groß wie einst, seit er von einer Seehexe geschrumpft wurde. Darunter leidet er sehr, wie sich gleich zu Anfang während eines Dialogs mit dem Hausmeister herausstellt.

Bald erfährt er, dass sich die Seehexe ebenfalls in der Residenz aufhält – wenn auch nur als Besucherin.

 

Verena Jung: Der letzte Tag

Ein ernstes Thema wird hier in den phantastischen Hintergrund verpackt:

Der Protagonist Dargo (bzw. Drago) ist ein Prinz mit Demenz, hält sich aber für einen Zwerg, der von einer bösen Hexe verflucht wurde. Selbstverständlich schenkt der der Diagnose von Dr. Lazarus keinen Glauben und versucht als Alternative durch eine andere Hexe (ebenfalls in der Residenz wohnhaft) den vermeintlichen Fluch aufzuheben.

 

Sehr schöne Idee für eine kurze Story!

 

Hans Jürgen Kugler: Neid heilt keine Wunden

Nach einer Seite bin ich geankert, denn:

1: erfahre ich mehr über Lady Banshee

2: ist sich der Ich-Erzähler sicher, wer die waren Monster sind: Kinder

Zweiteres ist nicht so ganz ernst gemeint, so trauert der Ich-Erzähler doch irgendwie schon Catalina hinterher, die gemeinsam mit ihm bereits als Kind in die Residenz kam und dort alt wurde. Und hier auch starb.

Falls noch Zweifel bestehen, was für eine Art Wesen der Ich-Erzähler ist, macht das Foto hinter der Geschichte dies deutlich. Gerade gestern erst hat unser Sohn so ein Wesen ebenfalls bekommen.

Man spürt bei dieser Geschichte eindeutig die Vergänglichkeit des Lebens.

 

Michael Schmidt: Über die Grenzen des Todes

Geisteraustreibung ist nicht immer schlecht für den Geist.

Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man nach zweihundert Jahren Dunkelheit wieder die Sonne auf der Haut spürt? Diese eindrucksvolle Szene hat mich ein bisschen zu eigenen Ideen inspiriert.

Außerdem macht diese Story Lady Banshee ein kleines bisschen … gruseliger.

 

Karin Reddemann: Der Weltretter

Zunächst hielt ich einiges für Zufall. »Nur noch kurz die Welt retten« und eine Figur namens Jagger – dann kam aber heraus, dass tatsächlich der Radiohit gemeint war und eine weitere Figur namens McCartney taucht auf.

Besonders positiv ist mir aufgefallen, wie gut die Autorin ihren Spannungsbogen im Griff hat. Hier wird anfangs ein Vampir vermisst und in der Residenz höflich bei Renato Lazarus nachgefragt. Während dieser erzählt, baut sich Spannung auf und kurz vor einer entscheidenden Information – passiert etwas völlig anderes, dringliches, das ihn zum Pausieren zwingt. Außerdem fehlt trotz aller Brutalität hier keineswegs der Humor. Gelungen.

 

Eska Anders: Abschied

Aeden und seine Motte, ähm, Fee Pit lösen Mordfälle. Unter den Resident:innen gibt es nämlich neuerdings viele Tote. Sieben gestern Nacht.

Auch hier fallen die Dialoge erneut sehr positiv auf, außerdem ist Pit ein cooler Charakter. Die Wendung am Ende habe ich so nicht kommen sehen.

 

Marianne Labisch: Lady Banshee de Lily: Finale

Hier werden dann noch ein paar Rätsel um Lady Banshee gelöst, was ich sehr begrüße. Das rundet die Anthologie für mich perfekt ab. Plus, tolles Bild am Ende! Überhaupt, die Illustrationen sind toll.

 

Fazit

Alle Geschichten sind gut geschrieben und haben einen angenehmen Stil. Der Plot entspricht nicht immer meinen Geschmack, was folgenden Grund hat: Ich mag auch bei Kurzgeschichten eine klare Story mit Anfang, Höhepunkt und Ende, bestenfalls noch eine Entwicklung, einen Gag oder einen kleinen Thriller, ein Rätsel und deren Auflösung.

Jene Kurzgeschichten/Erzählungen, die das leisten, sind in diesem Band meine Lieblinge.

Wobei ich auch die beiden Kapitel zu Lady Banshee sehr genossen habe, obwohl die das streng genommen nicht leisten, aufgrund des Tons und der Gags. Außerdem runden sie den Band zu Beginn und zum Ende sehr gut ab, sodass sie außer Konkurrenz stehen.

Ansonsten habe ich folgende Favoriten (Reihenfolge anhand der Platzierung im Band, kein Ranking):

  • »Der griesgrämige Herr Butzemann« (viel Humor)
  • »Halber Mensch« (bester Plot, bin jetzt Fan des Autors)
  • »Pixy, Krähe, Mortadella« (super Krimi, außerdem ein sehr cooler Ich-Erzähler …)
  • »Hunger« (tolle Grundidee, super Pointe!)

Am Ende gibt es noch die Vitae der beteiligten Autor:innen. Die von Vincent Voss ist selber ein kleines Stück Prosa.

Einige sagen mir ja auch inzwischen etwas, von einigen hatte ich vorher noch nie etwas gelesen. Ich freue mich, wenn ich Prosa von alten Bekannten wiederlesen darf oder Prosa von mir total neuen Menschen entdecken kann. Daher lese ich gern Anthologien.

 

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Buch:

Die Residenz in den Highlands

Die Residenz in den Highlands herausgegeben von Marianne Labisch und Gerd Scherm

ein Roman in Episoden

Herausgeber·innen: Marianne Labisch und Gerd Scherm

Gebundene Ausgabe, 168 Seiten

p.machinery, 15. September 2021

Cover und Illustrationen: Gerd Scherm

 

ISBN-10: 395765257X

ISBN-13: 78-3957652577

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B09FJT18TK

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition

Inhalt:

  • Marianne Labisch: Lady Banshee de Lily Ouvertüre

  • Sascha Dinse: Acheron

  • Ansgar Sadeghi: Der griesgrämige Herr Butzemann

  • Vincent Voss: Halber Mensch

  • Andreas Flögel: Pixy, Krähe, Mortadella

  • Gerd Scherm: Der Bewerber

  • Regina Schleheck: What shall we do with the drunken Fisher?

  • Anja Bagus: Hunger

  • Thomas Heidemann: Art Brut

  • Enzo Asui: Das Original

  • Rainer Schorm: Der Schnee des Uranus

  • Gerd Scherm: Happy birthday!

  • Christian Künne: Unter dem Donner hoher Meeresflut

  • Verena Jung: Der letzte Tag

  • Hans Jürgen Kugler: Neid heilt keine Wunden

  • Michael Schmidt: Über die Grenzen des Todes

  • Karin Reddemann: Der Weltretter

  • Eska Anders: Abschied

  • Marianne Labisch: Lady Banshee de Lily: Finale


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Erstellt: 16.10.2021, zuletzt aktualisiert: 17.04.2023 20:56, 20194