Zwielicht 14 (Herausgeber: Achim Hildebrand und Michael Schmidt)
 
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Zwielicht 14 hrsg. von Achim Hildebrand und Michael Schmidt

Rezension von Yvonne Tunnat

 

Die Kurzgeschichten sind nahezu alle gut, alle sehr gut geschrieben und sehr lebendig und szenisch, auch die älteren Schinken. Ein paarmal war es gruselig. Ich grusle mich allerdings nicht sehr leicht. Spannend waren aber die meisten. Ich kann dieses Magazin sowohl für Lesende als auch für Schreibende empfehlen.

 

Die beiden englischsprachigen Kurzgeschichten am Ende der Anthologie von Harry Harrison Kroll und Jesse Franklin Bone wurden beide übersetzt von Matthias Kaether und sind erstmalig auf Deutsch erschienen.

 

Neben den neun Kurzgeschichten gibt es vier Artikel, siehe auch die Homepage des Magazins. Dort finden sich auch weitere Informationen und Interview der meisten hier abgedruckten Autor:innen.

 

Zwielicht hat eine eher glorreiche Vergangenheit, es gewann so zum Beispiel viermal den Vincent Preis für die beste Anthologie, sowie zweimal für die beste Grafik.

 

Kurzgeschichten:

Ina ElbrachtEscape Room

Die Autorin wird im Vorwort »Der neue Star im deutschsprachigen Horror« genannt. Ich muss sagen: Sie hat was drauf. Vor allem stilistisch. Die Ich-Erzählerin klingt total authentisch, das Szenario kann man sich super vorstellen, obwohl es ja eigentlich ein eher ungewöhnliches Setting ist. Die Dialoge sind klasse.

Die Story spitzt sich ganz klassisch zu und kommt dann noch mit einer unerwarteten Pointe daher. Was will man mehr?

 

Zwei YouTuberinnen unterwegs zu ungewöhnlichen Locations gemeinsam mit ihrem Kameramann. Diesmal ist es ein Jagdschloss im polnischen Wald. Selbstverständlich verlassen. Doch warum finden sich die beiden plötzlich darin eingeschlossen wieder? Ist das ein Streich ihres Kameramanns?

 

Ungewöhnlich und tolles (und für die Handlung wichtiges) Detail: Eine der YouTuberinnen hat sich den Geruchssinn entfernen lassen. Motiv: Abnehmen. Uff. Da wäre ich ja schon lieber pummelig.

 

Julia Annina JorgesPuppenspiele

Das war gruselig und auch ein wenig abgefahren. Einiges ging auch etwas über meinen Kopf. Es spricht eine Schaufensterpuppe – aber natürlich ist er nicht wirklich eine Puppe. Oder, besser gesagt, er war es nicht immer. Mehr über den Inhalt zu schreiben, würde sehr spoilern. Und ich bin nicht einmal sicher, ob ich alles begriffen habe.

 

Michael SiefenerDie Fabrik

Der Altmeister des deutschen Horrors! Sollte uns allen ein Begriff sein, heißt es im Vorwort. Nun ja, nicht, wenn man, wie ich, neu im deutschsprachigen Horror ist.

Die Story ist auch nicht sehr leicht zugänglich. Wenn ich schreibe, dass es um blaue Blumen und ein gruseliges Fabrikgebäude geht, gestehe ich damit vermutlich ein, dass ich die Geschichte nicht ganz gut verstanden habe. Insider räumen ein, dass das Ende hier in der Tat offen gewesen ist, das erklärt vielleicht meine Ratlosigkeit.

 

Sprachlich ist sie jedenfalls routiniert und es gibt sehr schöne Bilder. Mir gefällt außerdem, wie der Protagonist sich von kleinen Dingen wie einer hübschen blauen Blume, die einsam wächst, begeistern lässt.

 

Karin ReddemannWeh Mutterherz

Ein Interview mit der Autorin hier findet sich auf der Homepage des Herausgebers Michael Schmidt.

 

Diese Story gewinnt den Preis für den besten ersten Satz:

 

»Bengt-Jörn Schwenke war nach durchaus reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen, seine Mutter umzubringen.«

 

Wer nun glaubt, dass er eine Geschichte vor sich hat, die man nicht ganz bierernst nehmen muss, hat Recht. Sehr gut recherchiert sind alle die historischen Figuren von Nero bis Norman Bates, die je ihre Mutter getötet haben. Das liest sich wie die Trivia der Muttermordgeschichte. Macht Spaß.

 

Das Motiv leuchtet mir allerdings nicht hundertprozentig ein. Ganz so verzweifelt nötig erscheint mir der Muttermord hier nicht. Der Schluss hat zwar eine Pointe, aber so ganz mitgenommen hat mich diese nicht.

 

Christian WeisDante Infernalis

Der Autor ist leider kürzlich verstorben, diese Geschichte erscheint also posthum. Das ist ja schon mal ein wenig gruselig.

Musik machen und Drogen nehmen. So fängt es jedenfalls an. Vorstellungsgespräch für Elias, den Bassisten. Es dauert lange, lange, bis ich etwas ahne. Und ja: Das ist eine frische Art und Weise, mit diesem Thema umzugehen. Sehr, sehr gut. Das Beste, das ich zu diesem Thema gelesen habe, seit ich vor fünfzehn Jahren mal einen Film gesehen habe, dessen Pointe mich daran erinnert.

 

Thomas KodnarLover’s Limb

Bei dem Titel wird einem ja schon mulmig. Die Protagonistin (es ist doch eine Frau, oder?), deren Name mit »I« beginnt, ist mit ihrem Liebhaber Sebastien unterwegs. Vorher hatte sie allerdings einen Freund namens Stefano. Zwei Männer macht doch noch keine gefährliche serielle Monogamistin, oder? Jedenfalls wird es richtig gruselig, als Sebastien plötzlich verschwindet.

 

Harald A. WeissenWolf … wer?

Yeah! Hier möchte ich dann mal in einen meiner eher seltenen Begeisterungsstürme ausbrechen! Eine Journalistin ist verschwunden. Man findet Videomaterial von Interviews bei ihr, die Transkripte stellen die Geschichte dar. In den Interviews (die meisten sind eher Monologe ohne Zwischenfragen, bis auf die Transkripte einiger Telefonate am Ende) geht es um einen Werwolf: den Werwolf von Zürich.

Allerdings verhält es sich mit diesem Werwolf nicht ganz so wie wir es kennen. Er verwandelt sich bei Vollmond nicht in einen Wolf – er ist normalerweise ein (recht harmloser) Wolf und verwandelt sich bei Vollmond in einen reißerischen Menschen, der durchaus auch Menschen tötet. Ich frage mich, ob es diese Idee schon einmal gab und wenn ja, wo. Für mich ist sie neu.

 

Der Autor trifft absolut die unterschiedlichen Stimmen und auf 31 Seiten kommen locker zwei dutzend Personen zu Wort, unterschiedlichen Alters, Geschlechts, sozialer Herkunft. Der Ton ist sehr frisch, der Stil der eines talentierten Profis. Statt Scheiße »etwas warmes, braunes« zu schreiben – und es gibt noch viel mehr treffendes, frisches. Letztendlich wird die Herkunft des Werwolfs zumindest teilweise aufgedeckt und zum Schluss können wir uns doch sehr viel zusammenreimen.

 

Ich finde, das sollte demnächst mal jemand verfilmen. Die Idee und die Umsetzung sind absolut super und für mich ist die Story das Highlight dieser Ausgabe.

 

Während meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass der Autor seit immerhin fünfunddreißig Jahren schreibt. Inzwischen hat er auch eine Homepage. Dort finden sich auch coole Rezensionen, u. a. zum letzten Joker-Film. Er ist auch bei Zwielicht Wiederholungstäter.

 

Holger VosSkullcity

Vos und auch Thomas Kodnar (siehe oben) werden im Vorwort als unverbraucht bezeichnet, sind also eher neu. Das zeigt, dass auch noch recht unbekannte Autor:innen bei Zwielicht eine Veröffentlichungschance haben.

Ich habe zwar gebraucht, um hereinzukommen, wurde dann im mittleren Kapitel doch noch abgeholt. Es fängt quasi hinten an – und es gibt fünf Teile. Teil 5 ist der letzte, wird aber zuerst erzählt. Daher kam ich erst wohl auch nicht so gut klar. In Teil 1 ist dann am Ende das Netz weg – sehr schlecht, wenn auch die Wohnungstür dann nicht mehr bedient werden kann. Immerhin Wasser und Elektrizität sind vom Netz unabhängig noch manuell bedienbar. Mann und Frau sind in der Wohnung und der Mann soll die Frau töten – sonst würde er sterben.

 

Vincent VossDie dicksten Kartoffeln

Voss, Tillmann und Dinse veröffentlichen regelmäßig bei Zwielicht und gehören sozusagen zu den Stammautoren.

Das hat schon fast etwas von Stephen King. Jedenfalls die Idee. Kings Geschick, in einer halben Seite den Protagonisten schon zu meinem besten Freund zu machen, würde ich Voss jetzt noch nicht unterstellen. Dennoch: Die Idee ist extrem gut und ich habe den Plot sehr genossen. Der Titel passt total. Hier erbt ein Bauer das Düngemittel und Samen von einem anderen, Hein, der plötzlich verschwunden ist. Er benutzt es und siehe da - Raps, den man schon im Mai ernten kann. Ertragreiche Ernte. Er ist beschäftigt, fährt genügend Gewinn für einen neuen Mercedes ein - und beobachtet plötzlich Kröten groß wie Kürbisse und wird von Libellen angegriffen, die locker die Länge einer Colaflasche haben.

 

Sehr schöne Idee mit leicht beunruhigender Pointe.

 

Algernon BlackwoodSkeleton Lake (1906)

Danke, dass ihr diese Geschichte ausgewählt habt. Der Plot mag zwar nichts Besonderes sein, aber sie ist so wahnsinnig spannend erzählt und gut gemacht, dass es mir ein Genuss war, sie an einem trüben Samstagvormittag zu lesen.

 

Michael TillmannDark Tourism – Endstufe

Protagonistin Beth, eine Amerikanerin, ist stets auf der Suche nach »Mystic Tourism«, wie sie es nennt, was ihrer Auffassung nach eine Stufe über Dark Tourism liegt. Skelette anfassen, Gruselschlösser und Friedhöfe besichtigen. Möglichst geheime, einsame Orte. Einmal lässt sie sich dann doch auf eine geführte Dark Tourism Tour in England ein. Ausgerechnet da geschieht dann etwas Unerwartetes. Mit herrlichem Schluss. Schöne Story mit netten Momenten.

 

Sascha DinseMel

Der Autor ist entweder sehr jung oder schreibt sehr jung. Mich erwischt er einen Tick zu spät im Leben – Ende der Neunziger hätte ich total drauf gestanden. Kürzlich habe ich eine Geschichte zu einem sehr ähnlichen Thema von E. C. Tubb gelesen, da öffnen allerdings deutlich erwachsenere Herren ein Portal zur Hölle mit sehr anderem Fortgang.

Hier lernt der junge Musiker und Ich-Erzähler die rothaarige Mel kennen und auch bald lieben. Die beiden planen kurz darauf, das Portal zur Hölle zu öffnen. Ganz im Gegensatz zur Kurzgeschichte von Tubb kommt es hier aber nicht zur Reue, sondern zur Begeisterung – und das trotz einiger wahrhaftiger Splatter-Szenen. Die Story ist erfrischend geschrieben, bietet einige unerwartete Wendungen und im Nachwort wirbt der Autor um weitere Stories aus seiner Feder, teilweise mit den gleichen Figuren. Nicht übel. So kann jemand wie ich ganz gut an den Haken genommen werden. Auf dem Foto seiner Homepage wirkt er in der Tat nicht sehr alt. (Stellt sich später heraus, er ist genauso alt wie ich, von 1978.)

 

Harry Harrison KrollAltweibersommer / Fairy Gossamer (1924)

Wer Angst vor Spinnen hat, bleibt hier lieber draußen! Die Geschichte ist kurz, aber überzeugend. Sehr plastisch beschrieben. Die nächste Spinne, die ich sehe, trage ich hoffentlich trotzdem wieder behutsam und unängstlich nach draußen.

 

Jesse Franklin BoneEinfuhrverbot für Horgels (1957)

Thema Pandemie – so trotz des Alters der Geschichte sehr aktuell.

Oh ja, das Beste zum Schluss! Ein Bürokrat, der die Einfuhr von Horgels (super süße Tiere, die auf der Venus leben) verbietet. Warum? Er erzählt seine Geschichte, als er mit drei anderen zur Venus unterwegs war – gemeinsam mit einer Katze.

 

Der Autor kennt sich mit Katzen aus. Und mit Spannung. Bei keiner anderen Story in diesem Heft habe ich so an den Worten geklebt wie bei dieser. Dabei war das Niveau vorher schon verdammt hoch. Sehr guter Horror, nicht das, was man sonst in dem Genre so erwartet.

 

Sekundärteil

Erst geht es um Kannibalismus und eine ziemlich fiese Legende aus dem Schottland des Mittelalters über eine Familie, die angeblich tausend Menschen – oder waren es dreitausend? – gegessen haben sollen. Der Essay nimmt die Glaubwürdigkeit dieser Legende auf intelligente Art und Weise ein wenig unter die Lupe, allerdings erst, nachdem die Legende recht eindringlich nacherzählt wurde.

 

Dann wird John Franklin, der Seefahrer, erwähnt. Der angebliche Kannibalismus gegen Ende seines Lebens in einer Notsituation war mir aus Sten Nadolnys Die Erfindung der Einsamkeit schon bekannt.

 

Anschließend werde jede Menge Gruselfilme und Filme aus verwandten Genres beleuchtet, unter anderem Was geschah wirklich mit Baby Jane? und Einer flog über’s Kuckucksnest. Am Ende werden noch wichtige Preise aufgezählt und jemand wie ich könnte leicht in Versuchung kommen, noch ein paar dutzend andere Anthologien und einige hundert Romane zu kaufen.

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Magazin:

Zwielicht 14

Herausgeber: Achim Hildebrand und Michael Schmidt

Taschenbuch, 291 Seiten

Selbstverlag, ‎26. Juni 2020

Übersetzer: Matthias Kaether

Cover: Björn Ian Craig

 

ISBN-13: 979-8656035484

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B08BR72WKF

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition

Kurzgeschichten:

  • Ina Elbracht – Escape Room

  • Julia Annina Jorges – Puppenspiele

  • Michael Siefener – Die Fabrik

  • Karin Reddemann – Weh Mutterherz

  • Christian Weis – Dante Infernalis

  • Thomas Kodnar – Lover’s Limb

  • Harald A. Weissen – Wolf … wer?

  • Holger Vos – Skullcity

  • Vincent Voss – Die dicksten Kartoffeln

  • Algernon Blackwood – Skeleton Lake (1906)

  • Michael Tillmann – Dark Tourism – Endstufe

  • Sascha Dinse – Mel

  • Harry Harrison Kroll – Altweibersommer / Fairy Gossamer (1924)

  • Jesse Franklin Bone – Einfuhrverbot für Horgels (1957)

Artikel:

  • Achim Hildebrand – Legenden des Kannibalismus: Die Bean-Familie

  • Karin Reddemann – Baby Jane, der große Böse und ein Eispickel im Schädel

  • Vincent Preis 2019

  • Horror 2019


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Erstellt: 11.08.2021, zuletzt aktualisiert: 26.06.2022 20:36, 19982