Die Überschreitung der Gegenwart von Wolfgang Neuhaus
Science Fiction als evolutionäre Spekulation
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Evolutionäre Spekulation ist bis heute eines der Hauptthemen der Science Fiction. Wolfgang Neuhaus bietet mit seinen Essays, die über viele Jahre in DAS SCIENCE FICTION JAHR erschienen sind, einen Einblick in die unterschiedlichen Schreibweisen, die im Genre möglich sind: von der Space Opera bis zum Cyberpunk, von literarischen Gedankenexperimenten bis hin zu kosmischen Visionen. Ergänzend werden einige Beispiele der visuellen SF vorgestellt. Welche Aussichten hat die Menschheit durch die sich beschleunigenden Prozesse der Technik und der Wissenschaft? Es deuten sich vielfache Überschreitungen in den Verhältnissen der Menschen zu ihrem Körper, zur Umwelt und zu den Maschinen an, die erst in Umrissen zu erfassen sind. Auch wenn die SF als Literatur des Wandels sich immer wieder in Krisen befunden hat, was ihre Gestaltung und ihre Rezeption angeht, so war sie stets in der Lage, neue Formen des ästhetischen Ausdrucks für solche Vorgänge zu finden. Das Genre ist auf dem Weg, eine dem 21. Jahrhundert angemessene Symbolik zu entwickeln, der Neuhaus in seinen Essays nachspürt.
Rezension:
Seit 1991 verfasst Wolfgang Neuhaus Sachtexte für das Science Fiction Jahr, einem zunächst im Heyne Verlag und seit 2015 bei Golkonda erscheinendem Jahres-Band zur Science-Fiction.
Angeregt durch Hardy Kettlitz versammeln sich nun 18 dieser Texte aus den Jahren 1995 bis 2014 in Die Überschreitung der Gegenwart – Science Fiction als evolutionäre Spekulation.
Der Band unterteilt die Texte in die Blöcke Theorie, Bücher und Medien, wobei keine zeitliche sondern allein eine thematische Sortierung vorgenommen wurde. Zur Entstehungszeit und den Umständen der Arbeit an den Texten gibt das Vorwort des Autors Auskunft. So sind die meisten Texte nur einer orthographischen Überarbeitung unterzogen worden, sodass sich auch eine Entwicklung in der Herangehensweise an Themen und Aufbau der Artikel erkennen lässt. Leider fehlt die zeitliche Zuordnung an den Texten selbst, was hin und wieder irritiert, wenn relative zeitliche Bezüge auftauchen.
»Das Raumschiff zerstört die klassische Lebensform« widmet sich dem deutschen Philosophen Gotthard Günther, der sich mit Kommunikation und extraterrestrischer Intelligenz befasste. Als einer der ersten deutschen Denker, die der SF eine philosophische Basis gaben, spielte er eine bedeutende Rolle in der theoretischen Diskussion zum Genre. Neuhaus stellt wesentliche Eckpunkte daraus vor und vollbringt es gleichzeitig, diesen nicht ganz so bekannten Philosophen ins Licht zu stellen.
Im Anschluss befassen sich mehrere »Kommentare zur SF« und Essays zu grundlegenden Themen mit Posthumanismus, Singularität oder dem Zustand des Genres. Dabei ergänzen sich die Texte in ihren philosophischen Fragestellungen und ergeben ein immer breiter werdendes Bild der ungeheuren Bandbreite der Science-Fiction. Dabei werden einzelne Subgenres ebenso untersucht, wie die Entwicklung der Themen, die in den verschiedenen Epochen die SF beherrschten. Im Zentrum stehen dabei Sinnfragen und eine Einordnung der verschiedenen Bereiche in ihre Bedeutung für die Weiterentwicklung des Menschen und der Menschheit. Neben dem Posthumanismus geht Neuhaus dabei auch sehr intensiv auf den Cyberpunk ein, dem wir nicht nur einige der faszinierendsten SF-Romane verdanken, sondern auch neue gedankliche Perspektiven. Eine große intellektuelle Verlockung für den philosophisch interessierten Autor.
Insofern ist auch der den Theorie-Teil abschließende Beitrag Fantasieren auf der großen Skala die dichteste und spannendste Auseinandersetzung mit der SF. Hier widmet sich der Autor ausführlich Herbert G. Wells’ Klassiker Die Zeitmaschine. Die Vereinnahmung der Ewigkeit und auch das Bewusstsein für den unausweichlichen Untergang der Menschheit bilden innerhalb des Themen-Kanons der SF ganz besondere Innovationen.
Im zweiten Teil des Essay-Bandes stehen einzelne Bücher bzw. Autoren im Fokus. So wird der Cyberpunk anhand zweier wichtiger Vertreter näher beleuchtet, William Gibsons Neuromancer-Trilogie und Neal Stephensons Diamond Age. Dabei werden wesentliche Erkenntnisse zum Thema Posthumanismus erläutert und auch die Diskussion um die Werke mit einbezogen. Gerade das Thema Künstliche Intelligenz hat in der SF diverse Wandlungen vollzogen. Einige davon finden sich bei Wolfgang Neuhaus wieder.
Einen besonderen Stellenwert in den Betrachtungen zur SF hält bei Wolfgang Neuhaus bekanntermaßen Stanislaw Lem inne. Der polnische Philosoph, Futurologe und SF-Autor ist gleich in zwei Texten Thema. Zum einen wird der KI-Roman Also sprach Golem intensiv besprochen, zum anderen geht Wolfgang Neuhaus näher auf Lem-Kritiker ein und untersucht den Widerspruch zwischen den Ansprüchen an SF-Werke, die Lem erhob und seinen eigenen, damit nicht unbedingt Schritt haltenden Werken. Wobei nicht die literarische Qualität gemeint ist, sondern die Forderung nach wissenschaftlichen und empirischen Grundlagen der SF in Konkurrenz mit der künstlicheren Freiheit.
Spannend sind auch die Texte zu den Hyperion-Gesängen von Dan Simmons und die Wiederentdeckung der Werke von Walter Jon Williams. Während der Impact von »Hyperion« bis heute zu spüren ist, dürfte sich Walter Jon Williams weniger großer Bekanntheit erfreuen. Warum das falsch ist und sich unbedingt ändern sollte, vermittelt Ein Instrument der Sehnsucht eindrucksvoll.
Der Medien-Teil beginnt mit dem ältesten der hier versammelten Texte. Auf eine Überarbeitung wurde mit Absicht verzichtet und so vermittelt der enthusiastische , aber etwas ungeordnete Text Cyberface Max Headroom vor allem die wohl begründete Begeisterung des jungen Alter Egos von Wolfgang Neuhaus. An der grundlegenden Einschätzung über die Komplexität und unerreichten Schärfe seiner Medienkritik hat sich für den Autor bis heute nichts geändert und erklärt die Aufnahme in das Buch.
Auf der Suche nach einer »Meta-Dramaturgie« ist an einigen Stellen ein deutlich spürbares Kind seiner Entstehungszeit und die Betrachtungen zur Bedeutung der Einführung der DVD lesen sich heute wie eine Zeitreise in graue Vorzeiten der Technik. Die Überlegungen zur Bedeutung von technischen Neuerungen an sich, etwa von Virtueller Realität auf die Erzähltechniken von SF, sind jedoch auch heute noch aktuell.
Damit befassen sich auch ausführlich zwei weitere Essays. Darin spielen Bedeutungsveränderungen eine große Rolle. So erlebten Begriffe wie Cyberspace oder eben VR im Laufe der Zeit und Werke teilweise so massive Definitionsverschiebungen, dass eine gänzliche anders geartete Ausrichtung der SF zu beobachten ist. Von der symbolhaften Visualisierung in »Neuromancer« und Tron zur Gleichsetzung mit dem Internet und darin aufgelöster Künstlicher Intelligenz.
Abgerundet wird der Medienteil durch cineastische Exkursionen in die Matrix und einer Reaktion auf einen Artikel zur religiösen Aufladung von Kubricks 2001-Verfilmung.
Den Abschluss bildet mit Das Posthumane in der Popkultur eine schon fast schwärmerische Beschäftigung mit Paul Verhoevens RoboCop. Wolfgang Neuhaus untersucht hier erneut den Begriff des Posthumanismus anhand des Cyborgs in einer Gesellschaft, die selbst die Polizei privatisiert.
Hilfreich ist das gutgeordnete Personen- und Werkverzeichnis, mit dessen Hilfe sich die erwähnten und besprochenen Filme, Spiele, Bücher und AutorInnen leicht im Sammelband finden lassen.
Fazit:
»Die Überschreitung der Gegenwart« von Wolfgang Neuhaus bietet eine fundierte und philosophisch geprägte Auseinandersetzung mit der Science-Fiction, ihren Themen und Werken. Die Sammlung von Essays und Artikel aus zwei Jahrzehnten »Science Fiction Jahr« sind so lesenswert wie informativ und bietet sich sowohl zum Wiederlesen, Neuentdecken als auch zur Vertiefung an. Wolfgang Neuhaus hat der SF tief in die Augen geschaut und gibt uns jeden dieser magischen Augenblicke mit großer Weisheit weiter.
Nach oben