Die unsichtbaren Stimmen (Autor: Carolina de Robertis)
 
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Die unsichtbaren Stimmen von Carolina de Robertis

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Bei der Geburt von Artigas' Schwester stirbt die Mutter, was den Vater in die Verzweiflung treibt. Trotz Tante Tita, die einzieht, um den Haushalt zu führen, mag der Vater das Neugeborene nicht im Haus haben und so verschwindet es bald. Tita sucht nach der Kleinen, um sie wenigstens ordentlich beerdigen zu können. Vergeblich: Das Mädchen bleibt unauffindbar. Nach einem Jahr, dem ersten Januar des Jahres 1900, dem ersten Tag des neuen Jahrhunderts, an dem Gott seit Menschengedenken ein Wunder werden lässt, da wird sie wiedergefunden – das kleine Mädchen sitzt hoch oben in einem Ceibo-Baum. Die Dorfbewohner diskutieren darüber, was das bedeuten mag, doch als Artigas seine Schwester wiedererkennt, setzt sich die Ansicht durch, dass es ein Wunder sei – das Wunder des ersten Tages des neuen Jahrhunderts. Von nun an wird die Kleine "Pajarita" genannt – "kleiner Vogel". Die Bedeutung der Geschichte geht Pajarita erst auf, als sie als hochbetagte Uruguaya auf dem Sterbebett einen letzten Moment der Klarheit hat und auf ihre Tochter Eva und Enkelin Salomé blickt.

 

Die unsichtbaren Stimmen verbindet die Familiengeschichte Pajaritas mit einem Sittengemälde Uruguays von 1900 bis 1990. Entsprechend erstreckt sich das Setting räumlich und vor allem zeitlich: Pajarita verbringt ihre Kindheit und Jugend in der Pampa in Río Negro und zieht mit dem Venezianer Ignazio Umberto, den sie heiratet, nach Montevideo. Ihr Bruder Artigas bereist Brasilien und später Cuba, ihre Tochter Eva lebt einige Zeit in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und ihr Enkel Robert wandert in die USA aus. Doch bei all der epischen Breite ist das Zentrum unbestreitbar Montevideo – dort baut Ignazio Pajarita ein Haus, dort verliebt sich Eva, dort geht Salomé zur Schule. Dort werden die Fortschritte Batlle y Ordoňez gefeiert, dort wird über den Zweiten Weltkrieg diskutiert, dort wird über die Revolution, die Tupamaros und des Präsidenten Pachecos Politik der festen Hand gestritten und dort wird die darauf folgende Militärdiktatur erlitten. Dort wird aus einem kleinen Vorort ohne feste Straßen und mit Blick auf das Meer ein Stadtteil mit festen Straßen und ohne Blick auf das Meer. Gegenüber von Pajaritas Haus wird schließlich ein Gefängnis gebaut, das seinen Schatten auf ihr Haus wirft, das sich im Laufe der Jahre immer mehr füllt – bis es schließlich durch ein Einkaufszentrum ersetzt wird.

Das Setting wird nur skizzenhaft ausgeführt, soweit es die generelle Stimmung in der Gesellschaft herausarbeitet, soweit es aber auf die Figuren einwirkt, wird es detaillierter beschrieben – so verknüpft die Autorin wunderbar stimmig die Figuren mit dem Setting zu einem Milieu.

Die Frage nach phantastischen Elementen lässt sich nicht leicht beantworten. Ist das Mädchen im Baum identisch mit der Tochter der toten Mutter? Wie ist es in den Baum gekommen – ist es das Wunder des neuen Jahrhunderts? Dann ist Pajarita eine überaus begabte Heilerin, die Methoden jenseits der Schulmedizin verwendet – doch wie sind ihre Pulver und Kräutertees zu bewerten? Ist sie eine Hexe (im lateinamerikanischen Sinne), die magische Rezepturen kennt, oder verknüpft sie Mittel der Naturmedizin brillant mit psychotherapeutischen Maßnahmen? Die Deutung der Figuren wandelt sich und verweist damit deutlich auf die Konstruiertheit jener Deutungen. In dieser Hinsicht ist der Roman als todorovsche Phantastik zu werten. Im ersten Abschnitt (Pajaritas Abschnitt) gibt es noch einige bestaunenswerte Momente – in den späteren Abschnitten (vor allem dem letzten, Salomés) werden daraus 'übertriebene' Geschichten; Salomé fällt es schwer, sie zu glauben.

Dazu gesellt sich noch das Motiv des Baumes – so wie Pajarita eine unmögliche Rettung durch den Baum erfuhr, so werden auch Eva und Salomé durch den Baum auf unmögliche Art gerettet. Doch in allen drei Fällen lässt die Autorin dem Leser die Möglichkeit, die phantastische Rettung symbolisch zu deuten. Überhaupt spielen Symbole eine große Rolle – Eva, Salomé und der Leben rettende Baum sind nur einige der offenkundigen Verweise auf biblische Mystik.

 

Es gibt drei zentrale Figuren: Pajarita, Eva und Salomé. Pajarita ist das zweite Kind einer Gaucho-Familie in Río Negro. Da ihre Mutter bei der Geburt stirbt, ist das Verhältnis zum Vater schwer gestört. Er versucht sogar, sie als Säugling zu töten. Sie wird von ihrer Tante Tita aufgezogen. Lesen und Schreiben lernt sie nicht, dafür wird sie eine kluge Heilerin. Als ein Zirkus ins Dorf kommt, durchschaut das gewitzte Mädchen die Taschenspielertricks des Aushilfszauberers Ignazio sofort – dafür verliebt er sich in die gutmütige und einfache Pajarita. Die beiden heiraten und ziehen nach Montevideo, wo sie in Zeiten der Krise ihre Tatkraft und Standfestigkeit unter Beweis stellen muss. Ihr jüngstes Kind ist Eva. Sie wird für einige Zeit nur von Pajarita aufgezogen. Eva ist als Kind sehr aufmerksam und lernbegierig. Sie entwickelt schnell eine besondere Beziehung zu Worten, doch ihr zurückgekehrter Vater überredet sie irgendwann dazu, die Schule abzubrechen und als Schuhverkäuferin zu arbeiten. Doch die Dinge entwickeln sich ungut, da der Ladenbesitzer von der Dreizehnjährigen mehr will. Irgendwann flüchtet Eva sich in das anrüchige Lokal "La Diablita", wo sie als Kellnerin arbeitet und die Bekanntschaft mit einem Kreis von im Hinterzimmer tagenden Dichtern macht. Später brennt sie nach Buenos Aires durch – lange Zeit flüchtet Eva bei Problemen. Erst in Argentinien lernt sie, sich den Schwierigkeiten zu stellen. Mit zwei Kindern – Roberto und Salomé – und einem angesehenen Mann kehrt sie zurück nach Montevideo. Wieder einmal läuft es nicht gut und sie erzieht die Kinder weitgehend nur mithilfe ihrer Eltern. Während Roberto naturwissenschaftlich interessiert ist und einen guten Kontakt zum Vater aufrechterhält, ist Salomé zwar genauso gelehrig, aber viel zurückhaltender. Zudem wendet sie sich früh der Politik zu; als Fünfzehnjährige schließt sie sich den Tupamaros an. Als die Maßnahmen der Regierung immer schärfer werden, gerät Salomé in eine lang anhaltende traumatisierende Situation, in der die Persönlichkeit der romantischen Idealistin auf die niedrigsten Grundlagen reduziert wird.

Man sieht, die Drei teilen wichtige Charakterzüge: Sie sind klug, einfühlsam und hilfsbereit. Doch je nach den Umständen entwickeln sie ganz unterschiedliche Persönlichkeiten; in dieser Hinsicht könnte man davon sprechen, dass die Figuren zwar rund sind, aber aufgrund der exemplarischen Anordnung gewisse Züge von Typen haben. Natürlich gibt es noch viel mehr Figuren: Da sind Pajaritas Vater und Tante, ihr Bruder Artigas, die Familie von dessen Frau und die gemeinsame Tochter Xhana, Ignazio und seine Familie, die vier Kinder, die Bekannten von Pajarita und Ignazio – alleine in Pajaritas Abschnitt gibt es etwa fünfzehn mehr oder minder stark ausgeführte relevante Figuren. Eva lernt sogar Ché kennen, als dieser noch ein Medizinstudent war. Bei den Figuren gibt es ein eigenwilliges Verhältnis: Während Pajaritas Abschnitt seitenmäßig der kürzeste ist und die meisten Figuren einführt, ist Salomés Abschnitt der längste und weist die wenigsten Figuren auf. Nichtsdestoweniger lernt der Leser im Laufe der Jahrzehnte über dreißig relevante Figuren kennen, die zwar zuweilen nur rasch skizziert werden und zur Illustration gewisser Grundmuster dienen, aber dennoch stets plausibel wirken.

 

Wie die Autorin schon Setting und Figuren aufeinander abstimmte, so sind auch Figuren und Plot aufeinander abgestimmt. Zwar verwendet der Roman eine Vielzahl von verschiedenen Plotelementen, doch die Charakterplots bleiben stets dominant. Im Kern geht es um die Schicksale der drei Frauen, die im Wesentlichen Zügen von Entwicklungs- bzw. Bildungsgeschichten aufgefangen werden: Bildung, das Reisen bzw. die Unmöglichkeit des Reisens und der Platz in der Gesellschaft spielen jeweils eine große Rolle. Während es bei Pajarita um die ökonomischen Aspekte des Frauenlebens in Uruguay geht, greift Evas Abschnitt die sexuelle Selbstbestimmung auf. Beide Abschnitte sind in dieser Hinsicht von Wesen her Frauengeschichten. Bei Salomé geht es um die politische Selbstbestimmung, um die Verknüpfung von Macht, Gewalt, Ressourcen und Bildung. Nichtsdestoweniger wird besonderes Augenmerk auf weibliches Dasein gelegt. Mit diesen Handlungen sind stets gewisse Aspekte des Sittengemäldes verknüpft – die generelle gesellschaftliche Grundstimmung wird vermittelt, wenn es enger mit den jeweiligen Aspekten zu schaffen hat, wird auch weitergehend darauf eingegangen – etwa auf die Bewertung der Tupamaros und der Revolution. Dann kommen noch weitere Plotelemente hinzu. Bei Eva etwa die der Romanze, bei Salomé die vom Polit-Thriller. Diese Themenfelder – Macht in der Beziehung zwischen Männern und Frauen, Widerstand gegen repressive Regime zwischen Befreiungskampf und Terrorismus – werden in der lateinamerikanischen Literatur häufig reflektiert: Salvador Plascencia behandelt ersteres in Menschen aus Papier, Santiago Roncagliolo letzteres in Roter April. Der Autorin gelingt eine interessante Perspektive: So ist der Blickwinkel von Frauen stets ein anderer, aber wichtiger noch ist der Umstand, dass die Autorin sich klar auf die Seite ihrer Protagonistinnen stellt, ohne deren fragwürdigen Handlungen zu glorifizieren, zu rechtfertigen oder herabzuspielen. Ungewöhnlich ist auch die Verknüpfung von Jugend und Revolution – Salomé und die meisten ihrer Mitstreiter sind eher Kinder mit romantischen Vorstellungen von der Revolution, die Robin Hood spielen. Bis die Polizei ihre Erfolge ernst nehmen muss. Zumindest für deutschsprachige Phantastik-Leser dürften auch die Tupamaros Neuland sein – mir ist kein weiter Roman bekannt, in dem sie eine Rolle spielen; nur in Jeff VanderMeers Sammlung Ein Herz für Lukretia wird in den Kurzgeschichten um den letzten Inkakönig Tupac Amaru vage darauf verwiesen.

Entsprechend der vielen Plotelemente wirken eine große Zahl unterschiedlichster Spannungsquellen – doch zentral bleiben immer die Charakterzeichnungen der drei Frauen und die Behandlung der Position der Frau in der Gesellschaft. Der Plotfluss ist eher gemäßigt, ganz wie es einer derartig breit angelegten Geschichte zukommt.

 

Erzähltechnisch ist der Roman eher konservativ. Es gibt drei Abschnitte (Pajarita, Eva, Salomé), die zwar jeweils einen eigenen Erzählstrang haben, die jedoch ineinander übergehen und verschiedene Aspekte derselben Themen behandeln. Erzählt werden sie streng genommen aus auktorialer Perspektive – so gibt es einige explizite Vorausdeutungen, die die jeweilige Perspektivfigur nicht machen könnte – doch das Geschehen ist so sehr auf die drei Hauptfiguren fixiert, dass die Perspektive weitgehend personal wirkt. Ähnlich ist es mit dem Handlungsaufbau: Der Roman beginnt damit, dass Pajarita auf dem Sterbebett liegt und das letzte Kapitel geht nur wenig darüber hinaus. Damit ist der Roman eigentlich regressiv, doch der Leser kam dieses leicht vergessen – der Roman wirkt wiederum progressiv. Weiterhin verwendet die Autorin eindrucksvolle Sprachbilder – das neu gebaute Gefängnis wirft seinen langen Schatten auf das Haus Pajaritas.

Der Satzbau ist sehr variantenreich – von Einwortsätzen über unauffälligen mittellangen Sätzen hin zu komplexen Schachtelsätzen ist alles dabei. Für moderne Leser etwas überraschend mag eine gewisse Vorliebe für Aufzählungen sein. Die Wortwahl ist ebenfalls sehr vielfältig und treffend; sie ist weitgehend neutral, weist aber einen klaren Hang zum Poetischen auf. Wohltuenderweise meidet die Autorin vulgäre Ausdrücke, wie sie gegenwärtig ermüdend beliebt sind.

 

Fazit:

Pajarita gerät in der Wirtschaftskrise in schweres Wasser und als ihr Mann sie und die Kinder verlässt, muss sie die Familie alleine über Wasser halten. Auf ihre Tochter Eva und deren Tochter Salomé kommen noch schwerere Zeiten zu, die sie jeweils an den Rand des endgültigen Zusammenbruchs bringen. Mit Die unsichtbaren Stimmen hat Carolina de Robertis ein beeindruckendes Debüt gegeben: Feinsinnig stimmt sie Setting, Figuren, Plot und Erzähltechnik aufeinander ab, elegant verknüpft sie den Bildungsroman mit Elementen aus Romanze oder Polit-Thriller und dabei bietet sie eine lesenswerte Perspektive auf die Themenfelder Dominanz in der Beziehung zwischen Mann und Frau und Position der Frau im Widerstand gegen repressive Regime. Es ist ein großer Roman und ein großartiges Debüt.

 

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Roman:

Titel: Die unsichtbaren Stimmen

Reihe: -

Original: The Invisible Mountain (2009)

Autor: Carolina de Robertis

Übersetzer: Adelheid Zöfel und Cornelia Holfelder von der Tann

Verlag: Krüger Verlag (Juli 2009)

Seiten: 462 - Gebunden

Titelbild: Illona Wellman

ISBN-13: 978-3-8105-0799-0

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 11.11.2009, zuletzt aktualisiert: 18.04.2024 09:19, 9508