Strandgut (Herausgeberin: Marianne Labisch)
 
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Strandgut herausgegeben von Marianne Labisch

Rezension von Maximilian Wust

Vorwort

Oh, Flüchtlinge, mein Lieblingsthema. Es gibt vermutlich keines, das die Gemüter schneller erregt und scheidet, als die aktuelle Immigrationskrise. Eine ganze Partei wurde darum gegründet, an den Mittagstischen führt es immer wieder zu Streitigkeiten und die Familientreffen drohen stets interessant zu werden, wenn »dieser« Onkel oder »jene« Tante auftauchen, »um mal ein paar Dinge anzusprechen«. Ich vermisse die Zeiten, als sie von Heilkristallen und Sternzeichen gesprochen haben.

 

Im Internet, dem herrlichen Reich der Extreme, überbietet man sich entweder gegenseitig in Lobpreisung für die Geflohenen oder aber man spricht von einer stillen Eroberung, dem Kalgeri-Plan und immer verrückteren Verschwörungstheorien. Als hätten beide Seiten den Verstand verloren.

 

Eine gemäßigte Diskussion ist nur noch selten möglich. Deshalb meide ich das Thema eigentlich, wo ich nur kann. Umso mehr gefällt es mir aber, dass Marianne Labisch exakt das nicht tat und sich mit ihrer neuen Anthologie tief ins moderne Diskursgebiet wagt. Mehrere Autoren und -innen sind zudem alles andere als unbekannt und ich bin tatsächlich gespannt, was sie hierzu beigetragen haben … oder ob sie vielleicht ihren Meister fanden.

Cover und Einband

Ich glaube, kaum jemand wird sich an der Haptik und Griffigkeit eines Hardcovers stören. Die Bindung ist unauffällig und robust und das Einmerkerbändchen bei einem ordnungsliebenden Chaoten wie mir immer willkommen.

 

Das Cover selbst würde ich als gemischt-gut bezeichnen. Ich weiß noch nicht, welche Geschichten mich erwarten werden, doch die Cover-Grafik weiß auch subtile Art zu schocken. Ein Strand vor einer utopisch-futuristischen Skyline, im Wasser liegt ein Düsentriebwerk und ein Schild mit der Aufschrift »Keep Out« macht deutlich, dass man in der Techno-Opulenz (ich zitiere Alejandro Jodorowsky) keine Gäste wünscht. Erst nach einem Moment, nachdem das Z-Schema einmal gegriffen und mich über den Titel (Strandgut) geführt hat, wurde mir bewusst, dass das vermeintliche Stück Treibholz in Wirklichkeit Alan Kurdi ist, der syrische Junge, dessen angeschwemmter Leichnam 2015 für einen Aufschrei sorgte.

 

Und obwohl Kurdi seitdem als Inspiration für einige Covers und grauenvoll schlechte Kurzgeschichten diente, so sehe ich ihn hier als Herausforderung: Mir wird eine schonungslose Härte versprochen, von der ich jetzt hoffe, dass man sie liefert.

 

Das Design ansonsten ist gut und funktional, die Farbwahl aus ruhigem Komplementär schön gewählt, auch wenn die Elemente etwas sehr eingefügt wirken.

Layout

Überzeugt mich.

Das 2300er Format eignet sich nach wie vor hervorragend für Hardcovers – wie sich in »Strandgut« wieder einmal gut beobachten lässt. Die Schrift ist angenehm verspielt, aber dennoch lesbar, das Q wunderschön. Ich kann keine verstärkte Laufweite erkennen, was für eine ausgesprochene Natürlichkeit der Schrift spricht. Sehr gut gewählt, wirkt mir aber weniger wie die Arbeit eines reinen Textsetzers. Hier hat jemand mit Spieltrieb gelayoutet – und ja, das ist ein Lob.

 

Auf die leider auch eine kleine Kritik folgt: Um Hurentöchter und Schusterjungen vorzubeugen, wurde hie und da die Laufweite auf -20 und die Schriftbreite auf (ich schätze) bis zu 90% reduziert. Das stört nicht und fällt einem Nicht-Typografen auch nicht auf, erregt aber den Zorn der Kunstgöttin.

 

Die Seitenzahl in einem negativen Balken darzustellen ist eine gute Idee. Im Softcover würde ich zwar davon abraten, das Hardcover erhält dadurch spürbar Wertigkeit. Außerdem war ich schon immer mehr Fan des Ravensburger als des Random House-Designs, von daher …

Die Vorworte

Ein Alleinstellungsmerkmal der Anthologie sind Vorworte vor jeder Geschichte, die sich durch weiße Lettern auf signalbraunem Hintergrund hervorheben. Sie gehen auf die Thematik der bevorstehenden Geschichte ein, verlieren ein paar Worte zum jeweiligen Verfasser und dessen Philosophien, tragen aber nur wenig zum Leseerlebnis bei. Ich habe sie oft erst nach der Geschichte angesehen. Da sie allerdings immer parallel zur Autorenvita stehen, das auf demselben Farbpapier gedruckt wurde, stellen sie eine gute Nutzung der Spezialseiten dar.

 

Und dann gehe ich mal in die Geschichten! Ich bin enttäuscht, wenn ich nicht mindestens einmal enttäuscht werde.

Die Geschichten

Die Geschichte von zwei Reisen von Vincent Voss

Der Geschichtenerzähler José sammelt an der spanischen Küste Strandgut grausamster Stufe ein: also jene, die es nicht ins gelobte Land Europa geschafft haben. Aus ihren Überresten spinnt er sich ihre Geschichten zusammen, darunter auch die einer Waffe, die im zentralen Afrika Bürgerkriege, Unruhen und ethnische Konflikte erlebt – die beeindruckend nah und realistisch geschildert werden.

 

Und da ist sie auch schon, die Geschichte von dem ertrunkenen Jungen. Die inzwischen Dreißigste, die ich zu Alan Kurdi lese. Und während ich nun erwartet habe, wieder darüber belehrt zu werden, wie wir Europäer solche Grausamkeiten nur zulassen können, so als auserwählte Retter der ganzen Welt … wurde ich unglaublich positiv überrascht.

Feinfühlig und auf höchster Stufe flüssig erzählt Vincent Voss von Gräueltaten auf beiden Seiten des Mittelmeers, die zudem einen persönlichen Nerv treffen: Die Schilderungen stimmen tatsächlich stark mit denen überein, was mir Schwarzafrikaner erzählten, als ich zwei Jahre lang am Flughafen mit einigen zusammengearbeitet habe: Die Gleichgültigkeit einer Welt, die keine Ordnung finden kann und dass auch die Geflüchteten keine noble savages sind, wie man sie gerne verkauft, sondern Menschen mit Facetten, Traumata, dunklen Seiten und mehr. Vincent Voss hat seine Hausaufgaben gemacht.

 

Seine Geschichte ist ein mächtiger Start in die Sammlung.

 

Rote Nase von Arno Endler

Der Vater eines sterbenden Sohnes trifft im Kinderkrankenhaus auf einen Clown mit ähnlichen Erfahrungen. Mit Anleihen aus Black Mirror.

 

Obwohl ich seit den Romanen von John Green wirklich kein Fan der sterbenskranken Kinder mehr bin (Schriftsteller haben in dem letzten Jahrzehnt einfach zu viele davon über den Jordan geschickt) und den Tropus der Eltern, die ihr verstorbenes Kind als Android, Cyborg oder KI wiederauferstehen lassen, kaum noch ertragen kann, muss ich hier eine Ausnahme machen. Arno Endler hat einen netten, kurzen Texthappen erschaffen, der immer stets weitergeht, bevor er in Klischees verfällt und dann auch abgerundet endet. Nichts Neues vielleicht, nicht besonders tief leider, aber dennoch ein kurzweiliges Leseerlebnis.

 

Was wir im Traum einander antun von Aiki Mira

Eine nicht-binäre Afrikanyx erzählt von ihrem Leben in Deutschland, das von Fremdenfeindlichkeit, Widersprüchen und einem Augmentationsunfall geprägt wird.

 

Aiki Miras Schreibstil wurde bereits von anderen und tiefgehender analysiert, als ich hier könnte: Er ist wie gewohnt amerikanistisch, als das allerdings herausragend, unglaublich flüssig und funktioniert bizarr gut, irgendwie immer.

 

Die Geschichte ließ mich allerdings nicht ein. Zum einen lag das am umstrittenen Checkbox Writing, das hier ein wenig zu drastisch appliziert wurde: Das hat die gut geschriebene Geschichte gerade zur Mitte hin wie Fluff wirken lassen, der nur existiert, damit die besagten Elemente erwähnt werden können.

 

Zum anderen, und eigentlich mein Hauptkritikpunkt, ist der etwas respektlose Umgang mit der afrikanischen Kultur. Die LGBTQ-Charaktere stammen eher aus einem Traumbild des modernen Los Angeles als dem afrikanischen Subkontinent. Anderen Kulturen unsere Werte aufzudrücken, sie direkt nur mit ihnen ausgestattet zu schreiben, schmeckt für mich wie Arroganz – so als kennen nur wir die Wahrheit und die anderen, die sollten besser auch so sein wie wir, wenn sie sich weiterentwickeln wollen.

 

Mir gefiel dafür sehr, dass das Thema Flüchtlinge in einem futuristischen Blickwinkel beleuchtet wurde, wie auch das Ende: Dieser jugendliche Traum von einem Sieg durch Größe, auch so herrlich ins »Einmal dann« impliziert.

 

Rosinenpicken von Regina Schleheck

Die junge Amal kämpft sich mal allein, mal gemeinsam aus Afrika nach Europa und begegneten dabei Freunden und bestialischen Feinden.

 

Nach jetzt bald 40 Anthologien würde ich gerne ein weiteres Genre in die Liste der bekannten hinzufügen, nämlich das »Ich habe meinen letzten Italienurlaub hinein verarbeitet«-Subgenre. Das war nun gefühlt die Zehnte. Tatsächlich ist »Rosinenpicken« aber auch eine grausam-schöne Geschichte, die sich zumindest über Dreiviertel der Strecke gut liest.

 

Mich in Amal hineinzufühlen, fiel mir leicht. Ich kann nicht einmal genau beschreiben, wie das vor sich ging, aber mir gefiel der Charakter und seine bittere Reise … die teilweise sehr odysseeisch angelegt war. Immer wieder stolpert Amal in Ereignisse oder Begebenheiten, die wie aus anderen Geschichten entliehen scheinen. Sie erinnerten mich an Herz der Finsternis, überzeichnet, jedoch ohne die nachvollziehbare Symbolstärke. Ab etwa der Hälfte begannen diese Etappen ein unglaubwürdig zu wirken und auch eher im Phantastischen angelegt zu sein. Gerade der Höhepunkt, die Action, fühlte sich eingefügt an. Nichts deutete darauf hin, dass es dazu kommen würde. Es passierte einfach, damit etwas passiert.

 

Und obwohl ich jetzt etwas sehr ins Gericht gegangen bin, war es durchaus eine Geschichte, die mir sprachlich Spaß gemacht hat. Es hätte vielleicht geholfen, von Anfang an den Campy-Stil zu verfolgen, anstatt ihn erst gegen Mitte einzuführen.

 

Rebell aus Liebe von Friedhelm Schneidewind

In einer Fantasywelt, die von (einmal wieder) roten Drachen beherrscht wird, begegnen sich ein gejagter blauer Drache sowie ein Einhorn und teilen bald mehr als nur freundschaftliche Gefühle.

 

Hier muss ich nun ein wenig entwirren. Zuerst dachte ich, ein Märchen-artiges Gleichnis für den Nepalesischen Bürgerkrieg vorgesetzt zu bekommen, bevor dieses plötzlich mit Anachronismen um sich warf und das Einhorn von Migrationswellen und anderen Dingen sprach. Und während ich solche Stilmittel durchaus akzeptiere, sehe ich sie eher im Bereich des Slapsticks oder der Situationskomik.

 

Im Allgemeinen bricht die Geschichte mit vielen Gewohntem. Einhörner sind in der Fantasy eher hochherrliche Kreaturen und nur selten anzutreffen – hier drohen sie eine Immigrationsflut auszulösen. Das fühlte sich anfangs etwas ungewohnt an.

 

Desweiteren kam die Prämisse, die Schneidewind mit den roten Drachen verfolgt, bei mir nicht an: Diese zogen sich zurück, um durch eugenische Programme rassische Reinheit zu erreichen, was ihnen auch gelang. Die Holzhammer-Kritik ist klar. Dass sie aber danach sämtliche Kreaturen und sogar alle anderen Drachen unterwerfen konnten, zeigt aber doch eher, dass ihr Plan aufging.

 

Das ist auch das Gefühl, dass mich eigentlich durch die gesamte Geschichte hindurch verfolgte: »Was will mir der Autor sagen?« Auf der einen Seite spielt er mit Fantasy-Elementen und stellt die dort gewohnte Hierarchie auf den Kopf, auf der anderen hagelt es Anachronismen, wenig subtile Anspielungen auf die aktuelle Immigrationskrise und seltsame Gleichnisse zum Thema Rassismus – die dann wiederum manchmal etwas sehr in die Richtung spielen: »Rassismus ist nicht schlimm, solange er sich gegen die richtigen Rassen richtet.«

 

Die Geschichte ist gut geschrieben und flüssig zu lesen, die Handlung hält zu Dreiviertel ein angenehmes Tempo. Die Liebesbeziehung zwischen beiden fühlte sich jedoch unverdient an, ebenso wie der plötzliche Sieg am Ende.

 

Ausreißer von Heidrun Jänchen

Aynur ist ein arabischstämmiges Mädchen, das immer wieder mal aus ihrem Flüchtlingsheim ausbüchst. Als in diesem eine Epidemie ausbricht und die ersten Opfer fordert, wird sie bald schon dazu gezwungen, das noch einmal zu tun. Hinzu kommen auch noch zweifelhafte Prüfer vom Gesundheitsamt …

 

»Ausreißer« erzählt sich jedenfalls glatt und angenehm und geht dabei nie tief ins Detail. Das machte es mir auf der einen Seite schwer, um die Todesfälle zu trauern, da diese kaum Gelegenheit hatten, mir ans Herz zu wachsen, hat aber auch jegliche Langatmigkeit vermieden.

 

Das Ende erschien mir jedoch erzwungen positiv und dadurch anorganisch (hierbei muss ich vor Spoilern warnen): Auch wenn es nie direkt ausgesprochen wird, hat offensichtlich die Regierung eine Biowaffe entwickelt, die direkt eine Ethnie angreift. Das ist nicht nur der feuchte Traum aller Diktatoren, sondern noch dazu ein medizinisches Wunderwerk, das nebenher auch fast alle Arten von Krebs heilen könnte. Und dann lässt man die einzigen beiden Immunen nicht nur unbeobachtet, sondern laufen? Selbst wenn es kein Säuberungsprojekt gewesen ist, so könnten trotzdem die beiden Mädchen eine immense Gefahr darstellen und andere Araber (zum Beispiel: alle!) anstecken.

 

Das hier ist nicht Bullerbü von Yvonne Tunnat

Eine zweifache, bald dreifache Mutter zieht durch eine endzeitliche Trostlosigkeit, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie bleiben kann oder wenigstens einen Unterschlupf. Mehr und mehr wird jedoch deutlich, dass es noch schlimmer ist, als zuerst angenommen.

 

Während ein paar der vorherigen Geschichten nicht arg in die Tiefe gingen oder das Thema unter Eindimensionalität begruben, zeigt Yvonne gar keine Gnade. In ihrer post-apokalyptischen Zeichnung gibt es kein Gut oder Böse mehr, keine Moral, sondern einfach nur noch die Flucht und das eigene Selbst.

 

Grausam und gnadenlos geschrieben, mit entfernten Anleihen an Die Straße von McCarthy, gibt es niemanden, vor dem diese Geschichte Halt macht, nicht einmal vor einer schwangeren Mutter. Auch erwähnenswert ist, wie hier mit Implikationen gearbeitet wird. Immer wieder deuten Charaktere nur an, was sie getan haben oder tun würden … was dadurch die tatsächlichen Sünden umso schlimmer macht.

 

Ich lamentiere oft darüber, dass mir die aktuelle Literatur zu weich, zu vorsichtig und zu brav geworden ist – umso mehr freut es mich, dass Yvonne Tunnat da keine Reißleine zieht, sondern ihre Leser in inspirierend dunkle Abgründe führt.

 

»Das hier ist nicht Bullerbü« war für mich nicht nur eine außerordentlich gute Geschichte, die auf das initiale Thema des Flüchtlings eingeht, sondern auch eine echte Kampfansage an die moderne »Oh, Vorsicht, das könnte doch jemand triggern«-Angstkultur. Sie zeigte mir, was Autoren tatsächlich wieder etwas mehr werden sollten: Herausforderer und anstößig. Gerne wieder, bitte mehr davon!

 

Stürzender Stern von Achim Stößer

Zwei Astronauten transportieren einen außerirdischen Krebs, aus dessen Blut man Drogen herstellt. Als die Quelle entwischt und sich durch ein Bodengitter erleichtert, kommt es zum Kurzschluss und das Raumschiff stürzt auf einem fremden Planeten ab.

 

Die Sätze sind gerne lang und die Metaphern zahlreich – wer Achim Stößer lesen will, der braucht einen langen Atem … und wird im Regelfall dafür belohnt. Aber dazu muss ich ins Detail gehen: »Stürzender Stern« erinnert in mehreren Aspekten an die Geschichten von Buck Rogers, John Carter oder Flash Gordon und während ich anfangs noch versucht war, mich über die sehr zufälligen Wendungen oder die Eindimensionalität der (wie immer) bösen Menschen zu ärgern, wurde ich eigentlich durchgehend nur unterhalten. Die Charaktere sind mit Liebe skizziert worden, die Bösewichter machen Lust, die Guten sind interessant. Auch das Männer-Frauen-Verhältnis der Außerirdischen ist angenehm fremdartig entworfen.

 

Einziger Kritikpunkt: Als der Antagonist endlich auffährt und mir Laune auf mehr von ihm machte (seine Motive wurden plötzlich sogar zu einem Teil nachvollziehbar), war die Geschichte auch schon vorbei. Da hätte jetzt ruhig nochmal so viel nachfolgen dürfen.

 

Die Verstoßenen von Rudolf Arlanov

Nachdem die Erde schließlich unterging, zogen sich die Menschen auf u. a. den Mars zurück. Ein Minenarbeiterehepaar erinnert sich an seine Zeit auf der Heimat und sucht ein wenig Trost, wo sonst keiner zu finden ist.

 

Wieder geht es dabei um tote Kinder (bzw. eines), aber leider nicht so, dass ich daran Anteil nehmen konnte. Ich muss hierzu auch mal aussprechen: Wenn am oder vor dem Anfang der Handlung ein Elternteil, ein bester Freund, die kleine Schwester oder die Tochter sterben, dann muss das wirklich gut inszeniert werden … oder es trifft mich einfach gar nicht. Ich kannte diese Person nicht, ich habe nicht mein Leben mit ihr verbracht, sondern sie gerade erst kennengelernt. Ihr Tod ist also für mich nur einer von sehr, sehr vielen und in einer Zeit, in der ich fast täglich von Kriegstoten lese, eigentlich nur noch Statistik.

 

Das Ehepaar aus Ich-Erzähler und Loreen ist dafür besonders gegen Ende schön erzählt. Mir gefiel auch sehr, dass ihnen Arlanov durchaus auch Raum für Intimität und Verletzlichkeit ließ.

 

Aber weil ich gerne jammere: Selbst wenn das Ökosystem der Erde kollabiert und sich der Planet lunarisiert, ist das Überleben hier immer noch leichter als irgendwo sonst. Bunker- oder Zylinderstädte sind doch auch ein schönes Setting und Kuppelstädte auf dem Mars gab es schon genug.

 

Tiere vor dem Fenster von Veith Kanoder-Brunnel

Ein Wissenschaftler und Visionär erhält Nachrichten von Außerirdischen. Als die Kadenz dieser bald zunimmt und die Abstände zwischen den Antworten ab, stellt sich sein Gesprächspartner als Teil eines außerirdischen Flüchtlingszugs heraus – der jetzt Zuflucht sucht.

 

Die Geschichte wechselt dabei immer wieder zwischen szenisch und nicht-szenischer Erzählweise (die ich persönlich bevorzuge) und das auch gekonnt. Ich hatte keine Probleme, wenn zwischen den Geschwindigkeiten gewechselt wurde. Dagegen sehr schade ist der eigentlich schöne Twist am Ende: Ich weiß nicht, wie es anderen ging, aber ich habe ihn schon mehrere Seiten vor der finalen Offenbarung vorausgesehen. Ursula K. Le Guin verwendete zwar ähnliche Wenden, wusste aber, sie geschickt unter guten Red Herrings zu kaschieren. Das gelang in »Tiere vor dem Fenster« leider nicht – aber nicht, weil es schlecht geschrieben war, sondern einfach, weil man Geschichten dieser Art schon zu oft geschrieben hat. Und so fiel sie dem »Literacial Profiling« zum Opfer.

 

Wer noch vor oder Anfang der 90er geboren wurde und an dem MTV nicht ganz vorüberging, wird sich vermutlich an das Rap-Trio Die Firma erinnern, das sich lyrisch oft mit Phantastik, Science-Fiction und Verschwörungstheorien auseinandersetzte. In ihrem vorletzten Album Goldene Zeiten von 2007 erzählte der Track Die neue Welt von Astronauten, die die namensgebende neue Welt betraten. Und auch, wenn »Tiere vor dem Fenster« vermutlich nicht dadurch inspiriert wurde, leiht es sich doch viele Elemente aus dem Rap. Ganz besonders das Ende.

 

Ein paar Minuten noch von Karsten Lorenz

Als Außerirdische eine Hyperraum-Umgehungsstraße durch die Erde bauen wollen – äh, korrigiere: als sie aus der Sonne ein Kraftwerk machen, muss unser Heimatplanet weg. Da es sich bei den Sonneningenieuren aber nicht um Vogonen handelt, evakuieren sie wenigstens die Menschheit … bis auf eben ein paar Renitente, wie Daniel. Als ihn Sinah, seine Tochter, davon überzeugen will, mit ihr den Planeten zu verlassen, kommt es zu einem längeren Gespräch.

 

… das irgendwie nirgendwo hingeht. Daniel und Tochter marschieren über den Hof, diskutieren über dies und jenes, immer wieder werden auch interessante Ideen für Bauern- und Agrarkultur eröffnet, die zumindest mir (als Bewohner eines bayrischen Voralpendorfes) einigermaßen sinnig erscheinen, aber nie so wirklich in die Tiefe gehen. Dabei sind die Themen gar nicht mal schlecht gewählt: Heimatverbundenheit gegen Aufbruch ins Neue, wie Alt und Jung durchaus einander brauchen und dass wir am Ende alle dem Neuen Platz machen müssen. Kürzer hätte die Geschichte wahrscheinlich besser gezündet.

 

Das Ende war vorhersehbar, aber sympathisch. Bittersweet but wholesome, würde man wohl auf Reddit sagen.

 

Kneipenasyl von Monika Niehaus

In einer interstellaren Kneipe gerät ein Reptoid an ein paar Speziesisten (wie Achim Stößer nun sagen würde) – und erhält unerwartet Hilfe.

 

Diese Geschichte objektiv zu bewerten, wird mir nicht leicht fallen. Einer meiner ersten Romane war Per Anhalter durch die Galaxis, eines meiner ersten Computerspiele hieß Space Quest III und mein erster Science-fiction-Film war der erste Star Wars. Und auch heute kann ich einmal im Monat The Red Tangerine von Finlay Christie sehen, wenn mir der Sinn nach Pointing Out-Humor steht (denn nur damit fühle ich mich schlau!). Und vielleicht deshalb hege ich eine große Liebe zu Weltraum-Kneipen!

 

Vermutlich ist »Kneipenasyl« also nur eine mittelmäßige Kurzgeschichte, deren Humor tatsächlich aus Versehen entstand (und in Wirklichkeit gar keiner ist) und dessen Thema einfach nur die Abarbeitung der typischen Klischees darstellt – aber bei mir traf die recht pulpige Story einen Nerv und machte Spaß. Und ja, mir ist bewusst, dass die Auflösung des Konflikts schon wirklich bizarr leicht fiel; selbst im Rahmen eines Pulp-Sci-Fis.

 

Kleine Anmerkung: »Locutus« und »Alpha-Quadrant« sind prominente Begriffe aus dem Star-Trek-Universum. Hätte Niehaus da nicht ein paar Eigennamen erfinden können? Der »Sirius-Cluster« zum Beispiel. Alle besseren Sci-Fi-Pulp-Geschichten spielen doch im Sirius-Cluster!

 

Tiefes Wasser von Anke Höhl-Kayser

In den Ozeanen einer fremden Welt werden deren bewusstseinsfähige Bewohner von (scheinbar menschlichen) Drohnen aus ihrer Heimat verjagt. Doch ganz gleich, wie weit sie fliehen, die unbekannten Ausbeuter ihrer Welt folgen ihnen – aus gutem Grund, wie sich bald herausstellt.

 

Stille Wasser sind … gemischt, denn diese Geschichte war mein persönlicher Nicholas Cage. Zuerst dachte ich, einfach nur in einer Eigeninterpretation des zweiten Avatar-Films gelandet zu sein, wurde dann aber mit überraschend intelligentem World Building eines Besseren belehrt. Gleich darauf kamen eine Reihe an Klischees um die Ecke, die man aus wirklich jedem »Menschen beuten fremde Welten aus«-Werk kennt, wie zuletzt in In andere Welten, nur um mich daraufhin wieder scharfsinnig zu unterhalten. Diesem Auf-und-ab bleibt Höhl-Kayer wirklich bis zur letzten Zeile treu und lässt mich stutzen, ob ich die Geschichte als altbacken und klischiert abtun oder als eigentlich gute Unterhalten betrachten sollte. Auf einer Notenskala von 1 bis 6 erhält sie daher von mir ein Lila.

 

Das wahrscheinlich zentrale Problem von »Tiefes Wasser« ist, dass sie auf der einen Seite intelligent sein will (und dann auch wird), aber immer wieder ins Territorium des Pulp umschwenkt, wo sich Zufälle schon sehr zufällig aneinanderreihen und Aliens die menschliche Sprache sofort verstehen. Mit beidem komme ich gut zurecht, beides gelingt der Geschichte. Es ist einfach die Mischung, die sich riskant gestaltet.

 

Hashtag #back_to_normal von Janika Rehak

In einem bedrückend realistischen Zukunftsszenario leidet ein polyarmores Throuple an der Außenwahrnehmung, konservativer Politik und sich selbst.

 

Die ersten Zeilen drohen bereits mit einer amerikanisch links-liberalen Belehrung, wie man sie sonst nur von Reddit oder Twitter kennt: Von wegen, dass alle alten Beziehungsvorstellungen falsch gewesen und alle neue so viel besser sind – ja eigentlich, die einzige, sinnvolle Existenzform überhaupt. Von Janika Rehak hatte ich um Einiges mehr erwartet … und bekommen!

 

Statt in einfach nur ein Idyll, taucht Rehak in vielschichtige Charaktere ein, die sich lieben und doch immer wieder aneinander scheitern. Jen, die Frau in der Dreierbeziehung entpuppt sich rasch als Puella aeterna, die vor allem wichtig sein, an den Idealen ihrer Jugend festhalten, aber nicht in Verantwortung stehen will. Immer wieder verletzt und manipuliert sie ihre beiden Männer, die nicht nur daran, sondern auch unter der Vaterschaftsfrage ihrer gemeinsamen Tochter leiden. Alle drei können sich aus dem Netz zu befreien, in das sie sich gegenseitig eingesponnen haben.

 

Ich will nicht leugnen, dass ich selten einen so tiefgreifenden, so gut entwickelten Antagonisten wie Jen lesen durfte. Es fällt mir leicht, sie für ihre Selbstsucht und Spielchen zu verachten und doch verspürte auch Mitleid, wenn sie selbst wieder nicht aus ihrer Haut kommt und mit eigenen Verlustängsten zu kämpfen hat. Auch bei ihren Männern fragte ich mich oft, warum sie das mit sich machen lassen – und verstand es dann doch sehr gut.

 

Gleichzeitig, eher hintergründig, warnt Rehak vor der Kehrseite der Hegelschen Dialektik: Der Pendel ging in ihrer Geschichte nun wieder nach rechts, die Menschen gieren wütend nach einer Rückkehr zur Normalität, während die Ideale und Errungenschaften der Ultra-Linken abgestoßen werden. Zunehmend per Gesetz.

 

Vor der Kulisse einer Zukunft, die so ähnlich wirklich eintreten könnte, lobt aber auch kritisiert Janika Rehak die Bestrebungen und Ideale der Wokeismus-Bewegung. Und erzählt dabei eine beeindruckend gute Geschichte mit viel Menschlichkeit.

 

Ein Minuspunkt: Mit dem Flüchtlingsthema hat es wenig zu tun.

 

Manuels Worte und Imaras Geschichten von Ansgar Sadeghi

In einer fiktiven, an unsere angelehnte Welt sucht ein Autor nach Inspiration für eine Anthologie, die sehr an »Strandgut« erinnert. Die Meta-Ebene ist mehr Ebene als meta. Dabei lernt er eine sympathische Geflüchtete kennen, erfährt viel über ihr Leben auf der Flucht und entwickelt sogar Gefühle für sie.

 

»Manuels Worte und Imaras Geschichten« war leider die Geschichte, mit der ich im Negativen gerechnet hatte. An sich gut geschrieben erzählt sie von allen Klischees des Flüchtlingsdaseins, als wären sie dem Echo Chamber einer US-Studentenverbindung entnommen worden: Einstmals plünderten und zerstörten die Weißen alle umliegenden Reiche. Nun fliehen deren Bewohner (mit Frauen und Kindern zuerst) ins Land besagter Invasoren, wo sie nur Anfeindung erwartet. Und über die gesamte Geschichte fragte ich mich: Warum ziehen die Menschen durch Tod und Entbehrung in einen Fleischwolf, in dem sie gehasst, bekämpft und sogar angefahren am Straßenrand liegen gelassen werden?

 

»Manuels Worte und Imaras Geschichten« ist schön geschrieben und Imara ein sympathischer Charakter, von dem ich verstehen kann, dass man sie auf ein Date ausführen will. Aber über größere Strecken lesen sich ihre Erlebnisse eher eindimensional.

 

Und obwohl ich Kunst vom Künstler trenne: Ansgar Sadeghi scheint mir ein echt netter Kerl zu sein.

 

Livorno sehen und …? von Michael Tinnefeld

Der Golfstrom ist abgerissen, Europa tundraisiert und die Völker, die zuerst niemanden aus dem Süden aufnehmen wollten, sind nun selbst auf der Flucht dorthin. Die junge Jenny und ihre Familie warten im südlichen Italien auf eine Fähre in die zunehmend begrünte Sahara. Ungewissheit und Angst prägt dabei ihren Alltag.

 

Was wäre, wenn wir die Flüchtlinge wären, fragt sich Michael Tinnefeld und geht dabei vor allem auf den Akt der Flucht selbst ein: Wie wären die Entwurzelung, die riskante Fahrt über das Mittelmeer, aber auch das Leben ohne festen Boden …

 

Ich hätte dabei mir noch mehr Beleuchtung der muslimischen Staaten gewünscht und wie sie reagieren, wenn nun Kulturen in ihre vordringen, die nur schwer mit ihrer kompatibel sind (mit Frauenrechten, offen ausgelebter Homosexualität und Atheismus). Oder warum sich eine militärische Supermacht wie Europa nicht als Großes Heidenheer versucht und sich den Wohnraum einfach nimmt.

 

Ich wurde aber dennoch gut bedient. Die Geschichte erzählt sich rasch und bevor sie klischiert oder langweilig wird, ist sie auch schon vorbei. Ein netter, kurzweiliger Perspektivenwechsel.

 

Segmentfäule von Michael Schmidt

Vesika ist eine »Bloom« (oft übersetzt als »Flor«), also eine riesige, vermutlich pflanzliche Meereslebensform, in der Menschen leben. Diese leidet jedoch unter einer Art Fäulnis und trennt in Folge die betroffenen Bereiche ab, was wiederum deren Bewohner zur Flucht zwingt.

 

Michael Schmidt entwirft mit Vesika keine unbedingt neue Welt – bereits Autoren wie George Ziets versuchten sich an einer bewohnbaren Lebensform – aber dafür eine tiefgängig Interessante. Obwohl nur eine Kurzgeschichte, erhalte ich viele Einblicke in den Alltag, den Glauben, die Ängste und Albernheiten der Menschen, aber auch über ihre Schicksale und wie sie ihrer Welt ausgeliefert sind. Am Ende wollte ich mehr!

 

Vesika klingt für mich nach einer Romanwelt, die ich unbedingt erkunden würde. Welche Waffen verwenden seine Bewohner, wohl wissend, dass sie durchaus ihre Welt verletzen könnten? Was für Tiere gibt es dort? Woher gewinnt man Metalle? Gibt es Hochkulturen, Kriege? Wie sehen die Bestattungsrituale aus?

 

Vesika ernährt sich vermutlich u. a. von Sonnenlicht, dachte ich auf einmal, also müsste es regelrechte »Zuckerwälder« geben, in denen Nährstoffe abgelagert werden. Das wären Orte, die man Druiden-gleich aufrechterhalten müsste, aber gleichzeitig um sie kämpfen könnte. In jeder »Blase«, wie man die Biosphären Vesikas nennt, könnten sich zudem andere Ökosysteme gebildet haben, wie beispielsweise an der Wallace-Linie auf Erden. Andere könnten, irgendwelchen Umständen geschuldet, für Jahrtausende abgeschottet worden sein. Und so vieles mehr! Auf jeder Seite wurde meine Phantasie zu endlosen eigenen Ideen angeregt.

 

Die Geschichte an sich, von Flucht, Ignoranz und Fanatismus, erzählt sich oft melodisch, meist schnell. Und lässt mir dabei kaum Zeit für die heimliche Hauptperson: eine Welt, die ich am liebsten in einem Videospiel hätte – wo ich dann jede Ecke abgrasen kann, nur um noch mehr von ihr zu sehen und zu erfahren.

 

Wieso ist das eine Kurzgeschichte und kein Roman? Oder gleich eine ganze Serie? Wieso bekommen schnarchlangweilige Welten wie Philip José Farmers Riverworld mehrere Romane plus Verfilmung und Vesika nur einen Kurzgeschichten-Lichtblitz?

 

Ankommen von Jol Rosenberg

In mittelferner Zukunft erarbeitet sich eine nicht-binäre Außerirdische als Krankenpflegeryx ein Aufenthaltsvisum für die Erde. Dabei erlebt sey viel Zwischenmenschlichkeit und sucht neben einer neuen Heimat auch nach Nähe. In liebevoller Manier.

 

Kleiner Nitpick: Die Müllwelt Deposa? Deponia lässt grüßen ;-)

 

Wer schon etwas mehr von Jol Rosenberg gelesen hat, weiß dass them vor allem zwei Geschichten schreibt: Vom Überlegenen, der helfen will und vom Außenseiter, der dazugehören möchte. »Ankommen« ist Zweiteres und gestaltet sich angenehm nachvollziehbar und liebevoll – insbesondere, was die so niedlich-herzliche Suche der Hauptperson nach Nähe betrifft.

 

Wie für Rosenberg üblich werden die meisten Themen eröffnet, aber nie ganz abgeschlossen. Vieles bleibt auf intellektuelle Art der Phantasie des Lesers überlassen, während sich die Geschichte zudem flink und gekonnt präzise erzählt, ohne Zeit zu verschwenden – sogar wenn es langsam vorangeht.

 

Und während ich diesen Beitrag an sich für eine kleine, feine Addition zur Anthologie halte, frage ich mich so allmählich, was eigentlich im Joloversum geschieht, wenn jemand harter Prüfungen unterzogen wird oder auf Hürden stößt, die sich nicht so leicht (oder gar nicht) überwinden lassen.

 

Kann es auch Überlegene geben, die das in Wirklichkeit nicht sind oder Außenseiter, die das aus gutem Grund sein sollten? Können die Guten auch dunkle Impulse verspüren, eine andere Person in Gedanken ausziehen oder an bösen Taten Gefallen finden? So interessant und tiefgehend Rosenberg schreiben kann, so fehlt mir auf Dauer das Risiko, der Schweiß und die Gefahr in thems Erzählungen. Bei »Ankommen« ertappte ich mich gleich nach der Charaktervorstellung mit dem Gedanken: »Ist eine Jol-Geschichte, der Protagonistin wird also eh nichts passieren.«

 

Hoffnungs-Tief von Jacqueline Montemurri

Eine Gruppe Flüchtlinge gerät auf See in Not, während einer von ihnen eine Begegnung phantastischer Natur erlebt.

 

Es ist nicht Montemurri geschuldet, dass man sich erneut im Mittelmeer wiederfindet und Kinder bzw. Jugendliche gegen das Ertrinken ankämpfen, nun aber einmal zu oft passiert. Und auch wenn ich bis hier als Leser genug mediterranes Salzwasser geschluckt habe (darin ertränkt wurde), so heißt das nicht, dass ich nicht beim Lesen Spaß hatte. Mir gefiel, dass sich die Geschichte zuerst vorhersehbar entwickelte, nur, um dann doch noch ein wenig zu überraschen.

 

Die eben schon zu oft ausgeschöpfte Schlussprämisse ließ dann leider »Hoffnungs-Tief« eher wie eine Rekapitulation der Anthologie wirken. Rein literarisch betrachtet ist sie somit einer der Fälle, in denen eine Kurzgeschichtensammlung wirklich zu mehr als die Summe ihrer Teile wird.

 

Hope von Marianne Labisch

Und zuletzt folgt die Geschichte der Herausgeberin. Ich mag es, wenn die Regeln eingehalten werden!

 

Nach dem Tod ihres Mannes flüchtet eine werdende Mutter von einem Minen- zu einem Dienstleisterplaneten und stößt dort auf ein bizarres Geheimnis. Auf ungute Art muss sie verstehen, dass es auch im Paradies Nutzvieh braucht.

 

Labisch bedient sich dabei einer seltenen, aber nicht unangenehmen Mischform aus szenisch-erzählerischen Passagen und Dialogen. Besonders Letztere lesen sich kantig realitätsnah, als sich Blue-Collar-Umgangssprache gegen akademische Bevormundung zur Wehr setzt. Beide Parteien, Prota- und Antagonistin, führen dabei einen Kampf, den sie längst verloren haben – ob nun auf moralischer oder auf mechanischer Ebene. Wenn du hier bleiben willst, musst du uns nützen – wird der Protagonistin wie ein Messer an die Brust gelegt.

 

Und hier offenbart sich auf gruselige Art in der Meta-Ebene, was auch Flüchtlingen in der realen Welt bevorsteht: Während die Schleuser (und leider auch manche Bewegungen von links-außen) damit werben, in Europa würde es keine Arbeit, aber nur Luxus geben, erzählt die Realität etwas anderes: Ob nun die Schattenmenschen in den Fleischereibetrieben, die Arbeiter an den Fließbändern von Amazon oder Mülltrenner – es gibt viele Jobs, die der bildungsatrophierte, sanierte Europäer nicht mehr tun möchte.

Und das zeigt Marianne Labisch bis unter die Gürtellinie auf: Ob rechter Parolengröler oder linke*r Genderkrieger*in – alle Ideale lassen sich doch viel besser vertreten, wenn man nicht S-Bahnen reinigen, Pizza ausliefern oder Schlachtabfälle wegräumen muss. Die Drecksjobs, die dürfen gern andere erledigen, während man selbst wichtig ist – so klagt Labisch an, ohne es zu tun.

 

Aber wo wir gerade davon reden: Ich hole mir jetzt noch einen Kaffee und vielleicht gehe ich dann auch schon heim. Ist ja schließlich 15 Uhr an einem Freitag und es nervt die Putzleute, wenn noch einer vom Marketing an seinem PC sitzt.

Fazit

Und weiter bleibt das Thema Flüchtlinge schwierig, was »Strandgut« wieder einmal aufzeigt. Sind alle Fliehenden wirklich einfach nur auf der Flucht oder doch einige nur auf der Suche nach einem besseren Leben? Sind die reichen Nationen überhaupt dazu verpflichtet, sie aufzunehmen oder sollten sie eher selektiv vorgehen und hineinlassen, wen sie wirklich brauchen? Und müssen sie am Ende nicht auch um ihre eigenen Werte und Ideale fürchten?

 

Diese Fragen werden nie direkt beantwortet. Vielmehr präsentieren die Autoren und -innen von »Strandgut« Gedankenspiele und lassen den Leser damit allein. Aiki Mira, wenn auch mir zu dick aufgetragen, zeigte auf, dass Utopia letztendlich doch nur aus seinen Bewohnern besteht; Janika Rehak hingegen konterte (verflucht gut) mit der These, dass diese irgendwann infantilisieren. Yvonne Tunnat und Michael Tinnefeld erzählten neutral, wie grausam doch Flucht sein kann, Michael Schmidt machte mich zum Flüchtling in seine Welt und Achim Stößer wollte einfach nur unterhalten. Zum Schluss noch warnte Marianne Labisch, dass Utopia nie ein Versprechen gewesen ist.

 

Nun bleibt eigentlich nur die Frage: War »Strandgut« jetzt neben Strand auch gut?

 

Die Anthologie gehört zu jenen, in denen das jeder Leser für sich entscheiden muss. Sie macht Spaß, wenn sie Spaß machen soll und regt zum Nachdenken an, sogar wenn sie das nicht will. Jede Geschichte, selbst wenn sie mir nicht zusagte, ist konsistent gut geschrieben und das von Menschen, die sich auf ihr Handwerk verstehen. Ein bisschen zu oft geht es mir aufs Mittelmeer hinaus, manche Erzählungen neigen zur Eindimensionalität – was dann aber in anderen durch faszinierende oder groteske Gedankenspiele ausgeglichen wird. Die Sammlung war leichtgängig zu lesen und im schlimmsten Fall kurzweilig.

Inhalt

Vincent Voss: Die Geschichte von zwei Reisen

Arno Endler: Rote Nase

Aiki Mira: Was wir im Traum einander antun

Regina Schleheck: Rosinenpicken

Friedhelm Schneidewind: Rebell aus Liebe

Heidrun Jänchen: Ausreißer

Achim Stößer: Stürzender Stern

Yvonne Tunnat: Das ist hier nicht Bullerbü

Rudolf Arlanov: Die Verstossenen

Veith Kanoder-Brunnel: Die Tiere vor den Fenstern

Karsten Lorenz: Ein paar Minuten noch

Monika Niehaus: Kneipenasyl

Anke Höhl-Kayser: Tiefes Wasser

Janika Rehak: Hashtag #Back_to_normal

Ansgar Sadeghi: Manuels Worte und Imaras Geschichten

Michael Tinnefeld: Livorno sehen und ...

Michael Schmidt: Segmentfäule

Jol Rosenberg: Ankommen

Jacqueline Montemurri: Hoffnungs-Tief

Marianne Labisch: Hope

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Buch:

Strandgut

Herausgeberin: Marianne Labisch

gebundene Ausgabe, 368 Seiten

Hirnkost Verlag, 22. März 2024

Illustrationen: Mario Franke und Uli Bendick

Cover: Marianne Labisch

Vorwort: Jacqueline Montemurri

Story-Einleitungen: Michael K. Iwoleit

 

ISBN-10: 3988570540

ISBN-13: 978-3988570543

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 28.06.2024, zuletzt aktualisiert: 02.07.2024 20:48, 23245