25. August 1983 (Autor: J. L. Borges; Bibliothek von Babel 5)
 
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25. August 1983 von J. L. Borges

Reihe: Die Bibliothek von Babel Band 5

 

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

25. August 1983, der fünfte Band der Bibliothek von Babel, enthält fünf Kurzgeschichten des Herausgebers J. L. Borges selbst. Sieht man von der Geschichte Die Bibliothek von Babel ab, die bereits 1941 veröffentlicht wurde, stammen die übrigen Werke aus den späteren Schaffensperioden des Schriftstellers. Außerdem gibt es noch zwei weitere Texte in dem Band: Ein Interview und eine Zeittafel.

 

Die Texte im Einzelnen:

Die Bibliothek von Babel (14 S.): Die Bibliothek, die das Universum ist, besteht aus sechseckigen Räumen. An vier der Wände befinden sich je fünf Regalreihen, die jeweils zweiunddreißig gleichformatige Bücher fassen. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Schacht, durch den man zahllose höher und niedriger gelegene Stockwerke sehen kann. Die beiden freien Wände beherbergen einen Gang, der zu anderen gleichartigen Räumen führt und eine Treppe, über die man die anderen Stockwerke erreichen kann. Die Bibliothekare leben nach zwei Axiomen. Ersten: Die Bibliothek ist ewig und damit göttlich. Zweitens: Es gibt genau fünfundzwanzig Zeichen, die in jeder möglichen Kombination angeordnet sind. Da es jede Kombination genau einmal gibt, ist jedes mögliche Buch genau einmal in der ewigen Bibliothek enthalten – auch das eine, das alle Fragen klärt. Wie gehen die Bibliothekare mit diesem Wissen um?

Die Geschichte, die der Reihe ihren Namen verlieh, ist eine einmalige Wundergeschichte: Sie kombiniert ein sehr bizarres Setting, wie man es nur selten findet (etwa bei Paul di Filippos Ein Jahr in der linearen Stadt, z. B. in Moloch), mit einem eigenwilligen logischen Rätsel um Unendlichkeit und Möglichkeit sowie der menschlichen Reaktionen darauf.

 

25. August 1983 (8 S.): An einem schönen Abend kehrt der Ich-Erzähler ins Hotel zurück. Der Portier verhält sich etwas sonderbar: Er scheint ihn nicht zu erkennen und legt das Gästebuch vor. Dort kann der Erzähler in frischer Tinte seinen Namen lesen: Jorge Luis Borges. Der Portier entschuldigt sich – er habe ihn mit einem Gast verwechselt, der ihm zwar sehr ähnlich sehe, aber deutlich älter sei. Wie befürchtet nahm der Unbekannte das Zimmer mit der Nummer 19. Borges geht hinauf.

Diese Wundergeschichte regt mit einem Paradoxon und dessen grotesker Lösung wahrhaft zum Staunen an.

 

Die Rose des Paracelsus (7 S.): Der Alchemist Paracelsus bittet die Gottheit um einen Schüler. In der Tat kommt kurze Zeit später ein junger Mann beim entlegenen Haus an und bittet in die geheime Lehre eingeführt zu werden. All sein Hab und Gut – zahlreiche Goldmünzen – will er dem Meister dafür geben. Nur um eines bittet er: Vor dem Handel möge ihm ein Kunststück gezeigt werden – es heißt, Paracelsus könne eine Rose aus ihrer Asche erstehen lassen. Der Fremde wirft eine Rose ins Feuer und wartet.

Diese situative Kurzgeschichte scheint zunächst am Scheitern des Fremden die Eigenarten der Alchemie aufzuzeigen, doch am Ende stellt sich die Frage, ob es nicht Paracelsus war, der scheiterte.

 

Blaue Tiger (18 S.): Der schottische Professor Alexander Craigie lebt in Lahor. Er lehrt dort abend- und morgenländische Logik. Schon als Kind konnte er sich für Tiger begeistern – vielleicht war die anhaltende Vorliebe für dieses Raubtier der ausschlaggebend dafür nach Indien zu ziehen. Als er von einem blauen Tiger hört, der nahe einem Dorf am Ganges gesichtet worden sein soll, bricht er auf um des Tieres habhaft zu werden. Die Dorfbewohner verhalten sich seltsam: Es scheint so, als hätten sie etwas zu verbergen, doch als der Schotte vom Raubtier zu reden beginnt, wirken sie erleichtert und liefern zahllose Hinweise. Craigie ahnt nicht, dass er einem furchtbaren Geheimnis auf der Spur ist.

Die Geschichte besteht aus zwei Teilen: Zunächst rätselt der Leser ob des seltsamen Verhaltens der Dörfler und des blauen Tigers und dann staunt er gewaltig über das Wunder, das furchtbare Paradoxon, das die Welt auf den Kopf stellt.

 

Utopie eines müden Mannes (11 S.): Eudoro Acevedo ist ein Professor für englische und amerikanische Literatur und Autor phantastischer Erzählungen. 1967 verschlägt es den Siebzigjährigen in eine unbekannte Zukunft, in der es anscheinend keine Grenzen mehr gibt. Der Argentinier stößt auf einen in dieser Zeit lebenden Mann. Die beiden kommen mit einander ins Gespräch und der Zeitreisende hört Erstaunliches: Im Alter von hundert Jahren, wenn ein Mensch ein Kind großgezogen hat – nur eines, denn man hat kein gesteigertes Interesse an einem Erhalt der Menschheit – zieht er in die Einsamkeit um völlig selbstbestimmt zu leben. Es gibt keine Armut mehr und keinen Reichtum, keine Liebe und keinen Hass. Wer sich selbst töten will, dem steht es frei – die Todeszelle wird dem Menschenfreund Adolf Hitler zugeschrieben. Und vergessen will man, sich nicht mehr an die Vergangenheit erinnern können.

Hier wird knapp eine melancholische Utopie angerissen, in der das Leben ausgelaugt ist – es gibt keine großen Gefühle mehr, keine Abenteuer. Die Gesellschaft erinnert hierin an die aus Aldous Huxleys Schöne neue Welt oder Arnold Gehlens Das Ende der Geschichte? Sie unterscheidet sich aber in zwei maßgeblichen Punkten von diesen: Erstens sind die Bewohner nicht fremdbestimmt und zweitens fehlt die sinnlose Hektik. Der Titel beschreibt die Kernhaltung der Gesellschaft treffend.

 

Zentrale Spannungsquelle aller Geschichten ist das Wunder – das, was zum Wundern, zum Staunen anregt. Im Vordergrund stehen dabei das Paradoxon oder das logisch Verblüffende: In Die Bibliothek von Babel sind es die Räumlichkeiten und die Möglichkeiten der Bücher, in 25. August 1983 ist es die unmögliche Begegnung und in Blaue Tiger das Geheimnis, welches der Grundlagen unseres Weltverständnisses spottet. In diesen Geschichten spielen die Figuren und das Setting eine nachrangige Rolle – in Blaue Tiger wird der Leser sogar diesbezüglich auf Ruyard Kipling verwiesen.

In Utopie eines müden Mannes liegt das Wunder eben im Setting – und da die Gesellschaft völlig selbstbestimmt ist, in den Figuren. Diese sind allerdings eher anthropologische Konstanten als echte Personen.

Die Rose des Paracelsus fällt etwas heraus. Dort gibt es zwar auch ein Wunder, ganz am Ende, aber die tiefere Spannungsquelle ist die Frage, welche der beiden Figuren scheitert.

 

Die Erzählstile der Geschichten variieren sehr: Die Bibliothek von Babel verwendet komplizierte Sätze und einige Fachtermini, Die Rose des Paracelsus dagegen ist in einem sehr lakonischen Stil mit kurzen Sätzen und Alltagsvokabeln gehalten. Eines jedoch haben sie alle gemeinsam: Sie sind äußerst konzentriert und durchgeformt geschrieben. Woraus andere, angereichert mit belanglosen Beschreibungen und einer banalen Handlung, einen ganzen Roman machen, wird bei Borges eine zwanzigseitige Kurzgeschichte. Borges schreibt Lyrik: Kein Satz, kein Wort ist überflüssig, jeder Satz, jedes Wort trifft ins Schwarze.

 

Das von María Esther Vázquez geführte Interview Borges gleich Borges besticht nicht nur durch die gesprächhafte Führung, denn die mit Borges befreundete Interviewerin geht auf Borges Antworten ein und widerspricht ihm bisweilen sogar, sondern auch durch die schiere Länge (es füllt immerhin neunundvierzig Seiten) und der damit verbundenen Themenvielfalt, die es dem Leser ermöglicht, einen anderen Blick auf den Menschen Borges zu erhaschen, darauf, was ihn bewegt und wie er es in seinen Werken verarbeitete; für deutsche Leser vielleicht besonders interessant ist die Haltung des Schriftstellers, der seine Jugend in Europa verbrachte und als Siebzehnjähriger während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz mit Heinrich Heines Das Buch der Lieder Deutsch lernte, gegenüber eben jener Sprache: Er zitiert hierzu Thomas De Quincey, dem er zuschreibt, dass die Deutschen einen Satz als einen Koffer, einen großen Koffer, betrachteten, den jemand auf eine lange Reise mitnehmen müsse, und alles Mögliche hineinpacke, wozu er sich mit Klammern und Gedankenstrichen behelfe, so dass ein unförmiges Scheusal heraus komme – hierin erinnert er übrigens an Mark Twain, der in Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof seine Abneigung gegen deutsche Satzkonstruktionen so formulierte: "Wenn der deutsche Schriftsteller in einen Satz taucht, hat man ihn die längste Zeit gesehen; bis er auf der anderen Seite seines Atlantiks wieder hervorkommt mit seinem Verbum im Mund." Ob da was dran ist?

 

Am Ende des Interviews findet sich eine interessante Aussage, die gleichsam als Schlüsselsatz nicht nur für Borges eigene Geschichten, sondern auch für die ganze Bibliothek von Babel gelten kann: "Es gibt keinen einzigen Grund, warum das Universum von einem gebildeten Menschen des 20. Jahrhunderts oder irgendeines Jahrhunderts begriffen werden sollte." Wie das Staunen der Anfang aller Philosophie ist, so ist es das zentrale Thema der Geschichten der Bibliothek.

Eine siebenundzwanzigseitige Zeittafel zum Leben von Borges rundet den Band ab.

 

Fazit:

Ob mit einer unmöglichen Begegnung in einem Hotelzimmer, den Künsten eines Alchemisten oder der erschütternden Entdeckung eines Logik-Professors in Indien es gelingt Borges immer wieder den Leser zu verblüffen. Der Höhepunkt ist möglicherweise gleich die erste Geschichte, die völlig zu recht der Reihe ihren Namen verlieh: Die Bibliothek von Babel. Neben fünf hervorragenden Geschichten des Argentiniers finden sich ein umfassendes Interview und eine ausführliche Zeittafel.

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Buch:

25. August 1983

Reihe:Die Bibliothek von Babel Band 5

Autor: Jorge Luis Borges

Übersetzerin: Maria Bamberg u. a.

Edition Büchergilde, 2007

Gebunden, 156 Seiten

Titelbild: Bernhard Jäger

 

ISBN-10: 3940111058

ISBN-13: 978-3940111050

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 22.07.2008, zuletzt aktualisiert: 23.08.2023 08:32, 6957