Die Spinne: Clever, stark, schnell … und so zerrissen
Artikel von Karin Reddemann
Die erstaunliche Spinne. Mein Ding. Meine Zeit. In den 1970ern für eine Mark zwanzig in Michelts Lottobude erreichbar, linkes Fach unten hinter der Tür zwischen Fix & Foxi und Lucky Luke. Der rauchte noch. Und der clevere Bursche im rot-blauen Ganzkörpertrikot, das mir erstaunlicherweise niemals irgendwie albern vorkam, hieß noch nicht Spider-Man. Nicht wirklich. Zumindest für uns damals nicht. Einfach: Die Spinne. Alias Peter Parker. Wendig, stark, schnell. Auch grüblerisch, zerrissen, traurig. Verantwortungsbewusst allemal, im Hinterkopf stets die weisen Worte des toten Onkels:
»With great power comes great responsibility.«
Ur-Comic mit Klasse
Große Stärke, große Verantwortung. Eben. Das war der Slogan. Die Spinne als geniales Phantasieprodukt, das war Ur-Comic, das waren Stan Lee und Steve Ditko als Schöpfer einer der erfolgreichsten und populärsten Marvel-Figuren, die ihren ersten Auftritt im August 1962 in Amazing Fantasy hatte. Peter Parker war dabei zu Beginn noch deutlich verstärkter der klassische Normalo, ein absoluter Durchschnittstyp, mehr ein wenig geselliger Streber, bei weitem kein Mädchenschwarm. Ein Denker, ein Skeptiker, alles andere als Everybody’s Darling. Auch nicht als Spider-Man. Dem ist klar, dass das Leben nicht fair ist. Er kämpft für die Gerechtigkeit und wird mit Feindseligkeit, Misstrauen, auch Hass belohnt. Und er kämpft, – immer wieder –, gegen seine eigene Unruhe, private Probleme, seine Düsterheit, muss aber erkennen, dass er als Rächer keine Ausgeglichenheit, keinen Frieden finden kann.
»Das Schicksal gab mir Superkräfte! Und ich weiß, dass es meine Pflicht ist, sie zu nutzen, ohne zu zweifeln … und ohne zu verzweifeln.«
Die Spinne, Nr. 246
Trimphaler Filmgigant
Spiderman als triumphaler Filmgigant kam später in der Gestalt des US-amerikanischen Schauspielers Tobey Maguire und beeindruckte (mich allemal) immens. Hätte sich Parker als Spinnenmann aus dem zerlesenen Comicheft geschwungen, wäre er Maguire selbst in seiner Paraderolle gewesen. Der glänzte bis dato in großartigen Filmen wie Gottes Werk und Teufels Beitrag (1999), Seabisquit (2003) und uneingeschränkt halt auch in Sam Raimis Spider-Man-Trilogie aus den Jahren 2002, 2004 und 2007. Regisseur Raimi, genialer Macher vom Horror-Klassiker Tanz der Teufel (The Evil Dead, 1981), von Armee der Finsternis (1992) und Drag me to Hell (2009), schwärmt vom Spinnenmann. Und hat dessen ganz besonderer Mentalität mit seinen Filmen auch gebührend Respekt gezollt.
»I love the Spider-Man character. And that's what’s at the heart of it. That’s why I really love it.«
Sam Raimi
Raimis phantastische Verneigung vor der Spinne ist natürlich nicht die erste Verfilmung des Superhelden, im zivilen Leben ein Waisenkind, das in der liebevollen Obhut von Tante May und Onkel Ben mitten in New York aufwächst und rein zufällig durch den Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne zum Mega-Fighter mit den Fähigkeiten des mutierten Krabblers und dem geistigen Rüstzeug eines überdurchschnittlich intelligenten jungen Mannes wird.
Durch Biss zum Mega-Fighter
Erste Cartoon-Folgen wurden 1967 für das Fernsehen produziert, die Serie The Amazing Spider-Man mit Nicholas Hammond in der Hauptrolle lief von 1978 bis 1979. Etwa zeitgleich entstand in Japan eine TV-Version von Spider-Man, dem ein riesiger Roboter als Kollege an die Seite gestellt wurde. Mitte der 80er- und Anfang der 90er-Jahre scheiterte man mit zwei weiteren Versuchen, der Spider-Man-Realfilmserie endlich zu Glanz zu verhelfen.
Alles wenig spektakulär, obgleich es immerhin etliche Animationsserien auf dem Markt gab. Die erfolgreichste war die von FOX ab 1994 produzierte New Spider-Man in zwar stärkerer Anlehnung an die Comic-Vorlage, jedoch sehr kindgerecht gemacht.
Erst Raimis Trilogie weckte die Nationen wirklich und anhaltend für eine der zentralsten und charakterlich eigensten Marvel-Figuren. Spider-Man schwang sich durch die Wolkenkratzerschluchten Manhattans, kämpfte und küsste (auch mal: seine Mary Jane), und das Publikum war vollends begeistert. Der Startfilm spielte 2002 weltweit 807 Mio. US-Dollar ein, Spider-Man 2 folgte zwei Jahre darauf finanziell dicht auf den Fersen und bekam den Oscar für die besten visuellen Effekte, und der dritte Teil war der Überflieger als einer der erfolgreichsten und zugleich teuersten Kinofilme seiner Zeit.
Das glorreiche Kapitel Raimi/Maguire war damit beendet, der Schauspieler war zu alt für die Rolle des Highschool-/College-Boys geworden, Raimi passte das Drehbuch für den im Raum schwebenden vierten Teil nicht. Und basta. Es folgten Neuverfilmungen mit freilich neuen Figuren und neuen Handlungselementen; die erste, The Amazing Spider-Man (Regie Marc Webb), feierte 2012 mit Andrew Garfield als Peter Parker Premiere. Der macht sich auch wahrlich recht gut, die Luft war und ist ergo wohl noch längst nicht raus, – gedreht wurde weiter, 2014, 2017, 2019 –, aber diese ganz spezielle Faszination, die mit Raimi/Maguire kam und packte und mitriss, hat sich irgendwie so ein gutes nostalgisches Stück weit davon geschlichen. Reine Ansichtssache. Natürlich.
Der ganze Ernst der großen Story
Auf den originalen Stories der Spinnen-Schöpfer Stan Lee und Steve Ditko, die in den 1960ern an den Start gingen und in den ersten Jahren in Deutschland unter dem Titel Die Spinne (BSV, Hit-Comics) in loser, später neu aufgelegt in chronologischer Folge (Williams Verlag) erschienen, basiert eine aktuelle Umsetzung für das amerikanische Fernsehen, die 2008 erstmalig ausgestrahlt wurde. The Spectacular Spider-Man bietet Action, Dramatik, auch Komik, die aber, anders als in der zwei Jahre darauf produzierten Serie Der ultimative Spider-Man, nicht in Slapstick ausartet. Die Ernsthaftigkeit der Story bleibt im Vordergrund. Damit auch ein Peter Parker, der so oft so Mitleid erregend deprimiert und hadernd ist. Exakt im Sinn der Comics, in denen Peters Verantwortungssinn und seine Schuldgefühle, – unwissentlich trägt er zum Tod seines Onkels bei, kann auch andere Verluste nicht verhindern –, neben seiner zweiten Identität als Wunderwesen zentrale Thematik sind.
»Ganz gleich, was ich tue, ganz gleich, was ich versuche, die, die ich liebe, sind immer die, die bezahlen.«
Tobey Maguire alias Peter Parker alias Spider-Man
Spider-Man quält permanent das Gewissen. Unrecht gegen Recht, Gut gegen Böse, er versucht, den bestmöglichen Weg zu gehen, fliegen, klettern, wird zwar bewundert, aber auch mit Argwohn betrachtet. Wer ist er, was will er wirklich? Die Presse hetzt ihn, allen voran ausgerechnet Zeitungsverleger Jameson, dem Peter Parker als freier Fotograf immer nur Exklusiv-Fotos von Spiderman anbringen muss.
Die Basis-Idee, – ein kluger, bescheidener Kopf entwickelt die Superkräfte einer menschlichen Power-Spinne, nutzt sie positiv und bleibt unkostümiert oft ratlos, einsam und zudem noch unglücklich verliebt zurück –, wurde im Lauf der Zeit permanent erweitert durch noch mehr komplexe Stories, andere Figuren, alte/neue Erzfeinde, Wendungen, Verknüpfungen der Fäden einzelner Geschichten, zweite, dritte Wege. Und es geht immer noch weiter, der Comicbranche, der Filmindustrie, den Fans in erster Linie zum Wohle.
Remember: Panini-Comics
Wir Übriggebliebenen werden dabei nicht vergessen: Marvel Deutschland veröffentlichte in den letzten Jahren unter dem Namen Panini Comics die alten Geschichten von Spider-Man (Jahrgänge 1963–1979); seit 2005 erscheinen die frühen Spider-Man-Comics in korrekter Reihenfolge als Sammelbände unter dem Titel Marvel History: Spider-Man. Und was das bedeutet?
»Das bedeutet … die Spinne wird wieder kämpfen! Ich werde kämpfen wie nie zuvor! Nichts wird mich aufhalten können. Denn ich weiß, dass ein Mensch sein Schicksal nicht ändern kann! Und ich wurde geboren, um die Spinne zu sein!«