Kurzinterview Michael Marrak: Dystopie in der Jugendliteratur
 
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Die andere Welt? Ja, die gab es damals auch.

Kurzinterview

 

geführt von Wilhelm Kenzel

 

Das Interview mit dem Autor Michael Marrak führte Wilhelm Kenzel im Februar 2024 im Rahmen einer Facharbeit zum Thema Dystopie in der Jugendliteratur.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Interviewers.

 

Wilhelm Kenzel: Wie kommen Sie auf Ihre Geschichten (spielen hier Erlebnisse, Entwicklungen oder politische Ereignisse mit rein)?

 

Michael Marrak: Zweifellos globale Entwicklungen und die damit verbundenen Bedrohungen für die Menschheit, das politische und infrastrukturelle Gefüge und letztlich unsere Biosphäre und der Planet an sich. Das widerspiegelt sich nicht nur in Das Aion, sondern auch in den anderen Romanen, die im gleichen Universum spielen. Ihr sogenanntes Setting baut aufeinander auf, aber es sind keinesfalls alles Jugendromane. Die Science-Fiction-Literatur basiert immer auf der Frage: Was wäre, wenn?

 

Die globale Entwicklung in den Romanen, die im Kanon-Universum spielen (und zu denen auch »Das Aion« gehört), ist fast schon so etwas wie eine Jakobsleiter. Alles beginnt mit dem Roman Lord Gamma. Hier werden zwei in der Wissenschaft viel diskutierte Bedrohungen und Szenarien etabliert, die das Bild der Erde in den nachfolgenden Büchern prägen. Ich versuche es mal zu umreißen, ohne zu viel zu spoilern.

 

»Lord Gamma« spielt in einer Welt, die entstanden ist durch den Versuch, die Erde vor verheerenden Sonnenstürmen zu schützen, und zwar mithilfe einer künstlichen Superintelligenz, die sich Sublime (bzw. Bioresearch Altosphere) nennt. Dies ist auch gelungen. Die Erde befindet sich an einem sicheren Ort, an dem die Sonnenstürme keinen Einfluss auf sie haben. Eine andere kosmische Bedrohung zwingt diese Intelligenz jedoch letztlich dazu, den ursprünglichen irdischen Status quo wieder herzustellen, was zur Folge hat, dass die Erde den Sonnenstürmen nun doch ausgesetzt sein wird.

 

»Das Aion« beschreibt die Welt, in der die Sonnenstürme bereits stattgefunden haben – mit einer rigoros veränderten Erde sowie einer sehr dezimierten Menschheit. Die Superintelligenz aus »Lord Gamma« existiert zu diesem Zeitpunkt aber noch an ihrem angestammten Platz, und auch die zweite Katastrophe hat noch nicht stattgefunden. Auf dieser neuen Erde gibt es zwar schon viele, zum Teil riesige mechanische Kreaturen, doch diese sind noch nicht beseelt.

 

»Der Kanon mechanischer Seelen« und die Folgeromane spielen schließlich weit in der Zukunft, lange nach der zweiten, viel verheerenderen Katastrophe (wofür eine der verschiedenen Theorien bei unserer heutigen, realen astronomischen Suche nach dem sogenannten Planet 9 verantwortlich war). Hier gibt es kaum noch Menschen, dafür viele beseelte Maschinen und allerlei weitere beseelte Kreaturen. Aber auch manche der riesigen, unbeseelten Maschinen aus »Das Aion« existieren noch (oder werden zumindest erwähnt, wie etwa die Ambodrusen). Die »Instanz«, welche dafür verantwortlich ist, dass die wenigen verbliebenen Menschen Dinge beseelen können, ist der »Rest« der Superintelligenz aus »Lord Gamma«, die im Gegensatz zu »Das Aion« in den »Kanon«-Romanen wieder eine aktive Rolle spielt.

 

Die Gesamtausgabe von »Das Aion«, also alle drei damals geplanten Teile in einem Band) kommt übrigens noch. Kinder der Sonne war ja (leider) nur der erste Teil.

 

Ein anderer SF-Roman, der sich mit aktuellen Entwicklungen beschäftigt bzw. auf diesen basiert, wird Anfang 2025 erscheinen. Darin haben zwei apokalyptische Kriege um die nach dem Klimawandel verbliebenen Grundwasserreservoirs die Welt verwüstet.

 

Wilhelm Kenzel: Würden Sie Ihre Romane als Dystopien bezeichnen?

 

Michael Marrak: Vielleicht eher als Post-Dystopien, denn ich erzähle darin ja meist nicht das Geschehen der Katastrophen selbst, sondern steige zu einem Zeitpunkt in die Geschichten ein, an denen die destruktiven Geschehnisse sich bereits ereignet haben. Ich fungiere also quasi als Chronist dessen, was übrig geblieben ist, und erzähle die Gründe für das ganze Schlamassel allenfalls als Reminiszenz.

 

Wilhelm Kenzel: Gehen Sie davon aus, dass Dinge die Sie in Ihren Romanen beschreiben in naher Zukunft Wirklichkeit werden?

 

Michael Marrak: Ich hoffe nicht. Das wären keine schönen Aussichten. In »Lord Gamma« spielt ein Handlungsstrang des Romans in einer Matrix-artigen, Jahrzehnte zuvor vermeintlich durch einen Nuklearkrieg zerstörten und verseuchten Welt, in der menschliches Leben nur noch in riesigen unterirdischen Bunkern möglich ist. Der Roman erschien im Jahr 2000. Damals, gut zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Prozess aktiver atomarer Abrüstung, haben mich diverse Leser und Rezensenten belächelt, mit dem Argument, dass die Gefahr eines Nuklearkriegs bei null läge und mein Setting daher unglaubwürdig wäre.

 

Und heute? Wo stehen wir heute?

 

Wilhelm Kenzel: Würden Sie den aktuellen Stand der technischen Entwicklung und die momentane Ausstattung der Menschen mit dieser Technik gerne um 20 Jahre zurück drehen?

 

Michael Marrak: Nein. Jede Errungenschaft hat ihre zwei Seiten. Wir müssen diese sogenannte Dilbert-Zukunft, in der die Befürchtung besteht, dass intelligente Kleidung bald schlauer sein wird als die Person, die sie trägt, annehmen und uns mit ihr arrangieren. Zur Not müssen wir uns Regeln auferlegen, um das zu schaffen. Fortschritt ist zu Beginn fast immer unbequem und wird von Existenzangst begleitet. Es wird jedoch immer auch Menschen geben, die glauben, über den Dingen zu stehen. Das ist der ewige Zweikampf zwischen Chance und Bedrohung. Wir sind die Generation, die aufschreit. Für die nächste Generation wird alles, was uns heute befremdet, Normalität sein.

 

Wilhelm Kenzel: Was denken Sie, warum eine – wie ich empfinde – so düstere Atmosphäre in einem Buch so gut bei Jugendlichen ankommt?

 

Michael Marrak: Sie macht (im Idealfall) nachdenklich. Jugendliche haben ja zumeist völlig andere Sorgen und Prioritäten als wir Erwachsenen, aber auch sie werden sich früher oder später mit dem Was-wäre-wenn beschäftigen. Für viele von ihnen sind Begriffe und Geschehnisse wie Klimawandel oder Ressourcenkrieg nur Abstrakta. Sie wissen zweifellos, was sie bedeuten, aber ihnen fehlt die empirische Bewusstseinskomponente. Ich erinnere mich an meine Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener, und auch an den damaligen Freundeskreis. Wir wussten sehr wohl, dass sich Geschehnisse wie die Verhängung des Kriegsrechts 1981 in Polen, der Falkland-Krieg 1982 oder der Tschernobyl-GAU ereigneten, und verfolgten das auch in den Medien, aber es berührte oder bewegte uns nicht sonderlich. Wir machten uns keine Gedanken über Konsequenzen. Unser Kopf wuchs in eine andere Richtung. Wir hatten viel banalere Probleme, uns beschäftigten ganz andere Sorgen. Der Tellerrand unserer Gedanken war sehr nah, und er war steil und nahezu unbezwingbar. Was auf der Welt passierte, geschah einfach nebenher. Wir lebten mehr für den Augenblick als für die Zukunft. Die Katastrophenmeldungen und Hiobsbotschaften erzeugten keine Ängste oder Gewissenbisse in uns, keine Nachdenklichkeit und kein Betroffenheitsgefühl. Unsere Welt bestand aus Schule und Leistungserwartung, der Ausbildung, dem Elternhaus, unseren Freunden, dem Zwischenmenschlichen mit all seinen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die andere Welt? Ja, die gab es damals auch, aber sie war irgendwo dort draußen.

 

Wilhelm Kenzel: Glauben Sie, dass Jugendliteratur eine Plattform für soziale Veränderungen und Bewusstseinsbildung bieten kann?

 

Michael Marrak: Falls die Geschichten lebendig, glaubhaft und vor allem vorstellbar und nachvollziehbar erzählt werden, und der von den VerfasserInnen geforderte – oder besser gesagt: erhoffte – gedankliche Paradigmenwechsel nicht demonstrativ und impertinent vor die eigentliche Geschichte gestellt wird, dann auf jeden Fall.

 

Bei AutorInnen, die der Meinung sind, mit despektierlich erhobenem Zeigefinger predigen und missionieren zu müssen und dabei ihre gut gemeinten Vorsätze unter einem Vermitteln von Zeitgeist-Geboten begraben, für das die Romanhandlung nur als Morallaufsteg und Erweckungsgalerie dient, dann eher nicht.

 

Leider gerät Lesen heute angesichts der medialen Verschiebung unter Jugendlichen immer mehr außer Mode. Lesen auf totem Baum ist uncool geworden, und selbst E-Books haben es schwer. Zu mühsam, zu still, zu zeitaufwändig.

 

Wilhelm Kenzel: Welche aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen spiegeln sich Ihrer Meinung nach am deutlichsten in der aktuellen Jugendliteratur wieder?

 

Michael Marrak: Das kann ich nicht beantworten, da ich im Grunde so gut wie keine Jugendromane lese und wie in unserer Vorabkorrespondenz erwähnt hauptsächlich in der Erwachsenenliteratur (und da oft in recht morbiden und blutigen Gefilden) zu Hause bin. Die »Kanon«-Romane vereinen m. E. zwar viel von Jugendliteratur in sich und haben ihren ganz speziellen, teils märchenhaften Sense of Wonder, aber sie sind nicht zwingend oder gezielt als solche geschrieben. Ihr teils märchenhaftes Flair basiert nicht auf Welten wie etwa jenen in den Märchen der Gebrüder Grimm, sondern eher auf Stanislaw Lems Robotermärchen und seiner Kyberiade.

 

Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass der Klimawandel mit all seinen Schattierungen den Löwenanteil der Jugendliteratur-Themen innehat, denn das ist die Zukunft, in die die LeserInnen hineinwachsen – ob sie wollen oder nicht.

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Erstellt: 28.05.2024, zuletzt aktualisiert: 30.05.2024 21:56, 23133