Mikromegas (Autor: Voltaire; Bibliothek von Babel Bd. 28)
 
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Mikromegas von Voltaire

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 28

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mikromegas, der achtundzwanzigste Band der Bibliothek von Babel, wendet sich wiederum einen Franzosen zu – auf Villiers de L'Isle-Adam folgt Voltaire. Doch auch wenn der Philosoph in Candide den Begriff "Optimismus" prägte um damit Gottfried Wilhelm Leibnitz' Ansichten zu verspotten, sind die von J. L. Borges herausgegebenen Satiren viel zu frohen Mutes um mit dem Begriff "Pessimismus" treffend beschrieben zu werden. Entstanden sind die Geschichten zwischen 1738 und 1768.

 

Zu den einzelnen Geschichten:

Memnon oder die menschliche Weisheit (10 S.): Memnon der Niniveer fasst eines Tages den Entschluss nach absoluter Weisheit zu streben. Er glaubt, dass dieses nur über Leidenschaftslosigkeit zu erreichen sei. Folglich will er sich nicht mehr in Frauen verlieben, keine Delikatessen mehr genießen, nicht mehr nach Reichtum, Einfluss oder Ansehen streben. Dieses dünkt ihm einfach. Doch schon wenige Stunden später findet er sich zusammen mit einer schönen Frau wieder; er wollte sie trösten, weil sie ihren gewalttätigen Onkel fürchtet und jetzt sitzen sie neben einander – nicht mehr mit züchtig übereinander geschlagenen Beinen – und führen ein erregtes Gespräch. Das ist nur der Anfang.

Eine ironische Anti-Fabel, die das antike Ninive humorvoll als Ambiente verwendet.

Die beiden Getrösteten (3 S.): Eine Dame, die gute Gründe hat am Boden zerstört zu sein, wird vom Philosophen Citophil getröstet. Er berichtet ihr von Heinrich des IV. Tochter, die als Königin aus England vertrieben wurde, beinahe auf See umkam und den Schafotttod ihres Gatten mit ansehen musste, von Marie Stuart, deren Geliebter vor ihren Augen ermordet wurde und die dann nach Jahren der Inhaftierung von ihrer guten Freundin Königin Elisabeth selbst auf's Schafott gebracht wurde.

Beinahe parodistisch greift Voltaire das Bonmot "Freude für jeden im Leid ist, Leidensgefährten zu haben" und ähnliche auf.

Geschichte der Reisen Scarmentados (13 S.): Scarmentado wurde 1600 geboren. Mit fünfzehn wird er zum Studieren nach Rom geschickt – sein geistlicher Lehrer lehrt ihn allerdings weniger den Aristoteles als was es heißt ein Lustknabe zu sein. Da nach einem Zwischenfall mit der Signora Fatelo die Kirche mit Verbannung droht, beginnt der Priester mit einer Reise quer durch Europa, Asien und Afrika – und ist vielfach erstaunt ob der eigentümlichen Sitten.

In der für Reiseberichte dieser Zeit üblichen naiv staunenden Art berichtet der Erzähler von allerlei Gräueltaten, die sich viele Menschen aus Torheit, Eitelkeit oder Machtstreben antun. Der fröhlich ironische Tonfall lässt den Leser unentschieden zurück: Ist das menschliche Dasein eine Komödie oder eine Tragödie?

Mikromegas (29 S.): Mikromegas ist ein Gelehrter der Sternenwelt Sirius. Der junge Mann ist acht Meilen – also hundertzwanzigtausend Fuß – hoch, eine nicht unübliche Größe für Bewohner des Sirius. Nachdem er ein Buch über die Urform der Flöhe (die unter einem normalen Mikroskop nicht sichtbar, da sie unter hundert Fuß groß sind) verfasste, wurde er vom Mufti wegen Ketzerei vom Hofe verbannt. Mikromegas nutzt die Zeit für eine Reise zum Saturn, wo er sich mit einem der dortigen Einwohner anfreundet. Die beiden reisen gemeinsam weiter und stoppen aus Verlegenheit auf der Erde; sie sind fürbass erstaunt über die Verhältnisse der Erdenbewohner.

Der Untertitel lautet: "Eine philosophische Erzählung." Tatsächlich ist es eine die Gattung der contes philosophique prägende Geschichte. Wer an Philosophie nicht interessiert ist, könnte sie vielleicht noch als Vorläufer von Stanislaw Lems Sterntagebücher aus literaturhistorischen Günden für lesbar halten (auch wenn eben jene wohl auch mit Ijon Tichys Abenteuer nicht viel anfangen können). Wer allerdings mit Namen wie Aristoteles, Descartes und Leibnitz etwas anfangen kann, wird seinen Spaß an dieser Groteske haben.

Der Weisse und der Schwarze (21 S.): Auf dem Jahrmarkt von Kabul kommt es zu einer folgenschweren Begegnung: Rustam, der Sohn eines afghanischen Mirza, ist auf der Suche nach einer angemessenen Ehefrau als er die Prinzessin von Kaschmir sieht. Die Prinzessin ist auf der Suche nach den verlorenen Schätzen ihres Vaters, einen daumengroßen Diamanten, in dem ihr Abbild geschnitten war, und einen magischen Wurfspeer. Zwangsläufig verlieben sich die beiden in einander. Rustam verspricht sie heimlich in Kaschmir zu besuchen. Rustams weißer Diener Topas rät von dieser Reise ab, doch der schwarze Diener Eben ermutigt ihn. Rustam tritt eine gefährliche Fahrt an, bei der er auf überraschende Hindernisse und wunderbare Hilfe trifft.

An dieser Geschichte wird Voltaires Kenntnis der Geschichten aus Tausendundeine Nacht besonders deutlich. Er schreibt jedoch keine Abenteuergeschichte im Stile der Sammlung, sondern persifliert gewisse Elemente. So ist der Protagonist außergewöhnlich wankelmütig: Stößt er auf das geringste Hindernis, verliert er sofort den Mut, ist die Angelegenheit geklärt, bricht er sofort völlig sorglos auf. Hinzukommen groteske Orakelsprüche, bizarre Wunder und ironische Einwürfe. Humorvoll schildert der Erzähler die Reise ins Unglück – bis zum völlig absurden Ende.

Die Prinzessin von Babylon (104 S.): Vor vielen Jahrtausenden lebte Belos, der König von Babylon. Die Tatsache, dass seine Vorgänger seit mehr als dreißigtausend Jahren am Aufbau des Reiches und vor allem des Königspalastes arbeiteten, verleitete ihn dazu sein Reich für das bedeutendste der Welt zu halten. Entsprechend sollte seine Tochter, die wunderschöne Formosante, verheiratet werden. Ein Orakel kündete davon, dass ihr Ehemann den Bogen des Jägers Nimrod spannen, einen furchterregenden Löwen töten und seine Nebenbuhler niederringen solle. Außerdem solle er freigiebig und gewitzt sein. Drei Könige melden sich zum Wettstreit: der Pharao von Ägypten, der Schah von Indien und der Khan der Skythen. Es wird ein pompöses Fest veranstaltet, exquisite Geschenke überreicht und allgemein in Luxus geschwelgt. Gerade als die Proben beginnen sollen, reitet ein gut aussehender Fremdling mit einigen Begleitern auf Einhörnern herbei. Schäfer seien sie. Der Fremde schaut zu, wie die drei Könige beim Bogenspannen scheitern – gegen den Löwen treten Pharao und Inderkönig gar nicht erst an und den Skythen errettet das beherzte Eingreifen des Fremden. Mit etwas spontaner Lyrik, einigen Diamanten und einen Wundervogel erobert er das Herz der Prinzessin zur Gänze, muss dann aber zum sterbenskranken Vater davon eilen. Belos steht vor einem Dilemma: Keiner der Könige hat die Aufgaben bewältigt, aber einem Schäfer kann er wohl kaum seine Tochter überlassen. Die Könige Ägyptens und Indiens sind ob dieser Beleidigung erzürnt und ordern heimlich große Heere herbei und der Skythe verliebt sich unterdessen in die Nichte Belos' – und wahre Thronerbin Babylons – und schwört ihr Erbrecht mit Waffengewalt zu erstreiten. Ein neuer Orakelspruch macht Belos das Leben auch nicht einfacher: "Deine Tochter wird sich erst vermählen, nachdem sie die Welt durchstreift hat."

Diese Novelle ist sehr eigenartig: Zunächst beginnt sie als eine seltsame Mischung aus Märchen, antiker Geschichtsschreibung und Wundergeschichte aus Tausendundeiner Nacht. Dann als die Queste der Prinzessin, die Weltreise, beginnt, gesellen sich noch die Züge der Fabel und des Reiseberichts hinzu. Als sie schließlich Europa erreicht, mischen sich zuerst leise, dann immer deutlicher, Anspielungen auf die europäische Gegenwart Voltairs (i. e. die Mitte des 18. Jh.) darunter, die wiederum stetig satirischer werden. Germanien, Gallien, Albion und Iberien sind hier sonderbare Hybriden aus antiken Stämmen und 'modernen' Nationen. Mit Formosantes Rückkehr in den Osten kehrt der Leser auch in das Altertum zurück – das Märchenhafte bleibt jedoch durch das Satirische ersetzt.

Eine wichtige Spannungsquelle kann nur gedämpft wirken: Die kaum verhohlene Gesellschafts- und Staatskritik. Sie bezieht sich eben auf das 18. Jh. Dennoch lässt sich manches Bonmot aus den Text ziehen – Stichwort 'Salami-Taktik': "In diesen großen Ländern hatten die Menschen den Mut vernünftig zu sein, während man sich anderswo einbildete, sie nur regieren zu können, solange sie Dummköpfe seien." Hielte sich doch nur jeder so genannte Demokrat daran!

Interessant ist auch die Erzähltechnik, denn Voltaire nimmt der Postmoderne so manches vorweg, wenn auch mit deutlich weniger Eleganz. Er spielt mit Märchen und Geschichtsbezügen, ist ambivalent und selbstreferentiell, er verweist auf seinen Philosophieroman Candide und macht die Fiktionalität seiner Geschichte deutlich. Ein spezieller Fall von Intertextualität könnte dabei für Fantasy-Leser besonders erheiternd sein: Die Kaiserin Kimmeriens, also Conan des Barbaren Herrin, gilt als zivilisierteste und kultivierteste Herrscherin der Welt – sie tritt für Toleranz und Harmonie ein und entsendet ihre Heere um Kriege zu unterbinden und Friedensschlüsse zu vermitteln.

 

Fazit:

Mit diesem Band durchstreift der Leser gewaltige Räume und Zeiten, von der frühesten Vorzeit, als die Wellen gerade über Atlantis zusammenschwappten bis hin zur Neuzeit, von Ninive zum Sirius – immer sind die Begebenheiten Spiegel der Zeit Voltaires. Zwar sind die Satiren als literaturhistorischer Meilensteine besonders interessant – viele Anspielungen sind nur noch für den entsprechend Belesenen zu erkennen – doch vielfach greift Voltaire darüber hinaus: Sein scharfer Blick für die Banalität des Bösen lässt den Leser oft ins Grübeln verfallen, doch am Ende ist und bleibt das Menschsein in Voltaires Geschichten eine Komödie und lädt immer zum Lachen und Vergeben ein. In dieser Hinsicht ist er ein Vorläufer Terry Pratchetts. Über die Phantastik hinaus geblickt, ist es sicherlich kein Verlust von Lebenszeit, ein paar Texte des wohl einflussreichsten französischen Autors zu lesen.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024042522551136a4de1b
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Titel: Mikromegas

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 28

Original: Ohne Angabe

Autor: Voltaire

Übersetzer: Ilse Lehmann, Hans Balzer und Rolf Müller

Verlag: Edition Büchergilde (April 2008)

Seiten: 206-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-28-9

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 22.06.2008, zuletzt aktualisiert: 18.09.2023 16:23, 6763