Reise zur blauen Stadt (Autor: Uwe Tellkamp)
 
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Reise zur blauen Stadt von Uwe Tellkamp

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mein Geschäft sind die Arten der Angst,

mein Siegel ist die Windmühle,

Eigennutz, Verrat, Dummheit, Macht

steht auf den vier Flügeln geschrieben.

Meine Wohnung ist der Widerspruch, auf den Feldern der Morde

wachsen die Rosen.

(aus dem sechsundzwanzigsten Kapitel, Zenobia Quichotte, Versicherungsmaklerin)

 

Nachdem ich ein wenig in dem Büchlein herumgeblättert hatte, war ich einigermaßen überrascht – das hatte ich nicht erwartet. Was ich erwartet hatte, weiß ich selbst nicht genau – vielleicht etwa in der Art von Bruno Schulz' Die Zimtläden oder Mircea Cărtărescus Die Wissenden. Doch bevor es mit der Intertextualität weitergeht, erst einmal ein Blick auf das, was man tatsächlich bekommt, geworfen.

 

Reise zur blauen Stadt ist ein Gedicht in vierunddreißig Kapiteln – oder ein Versroman, der aus ebenso vielen Gedichten besteht. Als Ganzes gelesen, beschreibt der Versroman die Bewohner und deren Leben in einer namenlosen deutschen Küstenstadt an der Ostsee. Es gibt ein Serapionstheater, einen Uhrenturm mit Philosophen, einen Dom, das Schloss, in dem die Bürokratie sitzt, und natürlich den groß ausgebauten Hafen mit den daran hängenden Betrieben sowie einen Basar. Überhaupt besitzt diese Ostseestadt ein deutlich orientalisches Flair. Doch keinen dieser Orte lernt der Leser unmittelbar kennen – denn es gibt keine Erzählerrede. Man lernt sie nur sehr facettiert durch die kleinen sehr subjektiven Versberichte der Bewohner kennen. Eine Handlung gibt es nicht, wenn man also den Text als Versroman begreifen will, muss man darin ein äußerst situatives Sittengemälde sehen.

 

Doch zu den einzelnen Kapiteln bzw. Gedichten. Die sind so unterschiedlich wie ihre 'Dichter', sowohl was die Form als auch was den Inhalt angeht. Allerdings gehen sie von einer 'Metagemeinsamkeit' aus: In jedem der Kapitel sinniert ein anderer Bewohner über sein Leben und seine Sehnsüchte nach. Und dieses Leben und diese Sehnsüchte sind eben an der materiellen Grundlage, ihrer Existenz gebunden – daher lassen sich die Sehnsüchte nie ganz von der Stadt lösen. Wobei es neben sehr bodenständigen Menschen natürlich auch sehr vergeistigte Träumer gibt, die nur wenig mit dem Materiellen zu schaffen haben: Der Admiral a. D. spricht von seiner Sehnsucht zur See, der Friseur denkt nur an seine Kunden, die Mutter an die gemeinsamen Stunden mit dem Sohn und den nächsten Lohn. Es gibt dabei allerdings einen Hang zum Surrealen und Grotesken – und stets spielt die Farbe Blau eine Rolle.

Formal zeigt Tellkamp, was sich mit der Sprache anstellen lässt – die Verse sind üblicherweise reimlos (nur einmal gibt es auch ganz klassisch gepaarte Endreime), allerdings stets von einer wunderbaren Sprachmelodie geformt; harsch bei der alleinerziehenden Mutter, verspielter beim Clown. Überhaupt ist alles recht formlos – es gibt sehr lange Verse, sehr kurze Verse, Kapitel mit etwa gleichlangen Versen, Kapitel mit sehr unterschiedlich langen Versen, Kapitel mit nur einem langen Vers; manches erinnert an trockene Beamtensprache, manches an quecksilbrige Gedankenströme. Die gebotene Vielfalt ist beeindruckend.

 

Neben diesen Aspekten besticht der Text auch mit seiner enormen Intertextualität: Das beginnt mit (Gottfried August Bürgers) Münchhausen (dessen Antrag leider vom Kuratorium abgelehnt werden muss) und endet weder mit dem doppelten Verweis auf Tausendundeine Nacht – der Tausendsassa Kapitän Burton (dessen Geschichte der Bordelle Sumatras gelobt wird) ist natürlich der illustre britische Übersetzer der Textsammlung und Scheherezade schreibt Briefe und Tagebuch –, noch mit Dresden. Schließlich sei noch der Hauch von Kafka, der vom Schlosse herab weht, erwähnt. Ich vermute, in jedem Kapitel lassen sich neue Anspielungen entdecken.

 

Meistenteils ist man vergrätzt, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Es ist, wie wenn man sich in einer Stadt verirrt. Man landet in einer Straße, die genauso aussieht wie die Straße, in die man eigentlich wollte, nur dass die Freunde, die man besuchen will, dort nicht wohnen. Man ärgert sich über die verlorene Zeit. Doch manchmal landet man auch an einer Stelle, die man noch nicht kannte, obwohl man meinte, das Viertel gut zu kennen. Man entdeckt vielleicht einen urigen kleinen Park und mit diesem eine neue Perspektive auf die Stadt – mit dieser Entdeckung fühlt man sich reicher. So kann es auch mit Reise zur blauen Stadt gehen.

 

Fazit:

Reise zur blauen Stadt erzählt von den zum Surrealen neigenden Leben und Sehnsüchten der Bewohner einer namenlosen Ostseestadt, in der das Blau von großer Bedeutung ist. In den vierunddreißig Kapiteln des Versromans zeigt Uwe Tellkamp mit viel feinem Witz, aber auch mancher Bitterkeit, wie unterschiedlich schöne Sprachmelodien klingen können.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404200419482cad2eda
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Versroman:

Titel: Reise zur blauen Stadt

Reihe: Insel-Bücherei Nr. 1323

Original: -

Autor: Uwe Tellkamp

Übersetzer: -

Verlag: Insel (September 2009)

Seiten: 108 Gebunden

Titelbild: Unbekannt

ISBN-13: 978-3-458-19323-4

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 19.03.2010, zuletzt aktualisiert: 27.02.2023 19:05, 10218