Artikel: Fantasy aus dem Morgenland
 
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Fantasy aus dem Morgenland

Eine kurze Geschichte von Tausendundeine Nacht

von Thomas Jeenicke

 

Flaschengeister, fliegende Teppiche, verborgene Wüstenschätze – nichts hat unser romantisches Bild vom Vorderen Orient so sehr geprägt wie »Tausendundeine Nacht«. Freilich ist diese Erzählungssammlung in ihrer heutigen Form (oder vielmehr: heutigen Formen) durchaus auch ein Kind des Abendlandes.

 

Einstmals, noch zu Zeiten der Sassaniden, herrschte im Inselreich von Indien und China der König Schahrijar. Die Untreue seiner und anderer Frauen ließ ihn den Glauben an das weibliche Geschlecht verlieren. Er befahl den Tod seiner Gemahlin und fürderhin nahm er jede Nacht eine neue Jungfrau in sein Bett, die der Wesir am nächsten Morgen zur Hinrichtung führen musste. Der Wesir nun hatte zwei Töchter: Schahrasad und Dinasad. Als kaum noch ein Mädchen im Lande zu finden war, bat Schahrasad ihren Vater, sie mit dem König zu vermählen. Entsetzt wies der Wesir das Ansinnen seiner Tochter zurück, doch setzte die sich letztlich durch. Außerdem erreichte Schahrasad, dass ihre Schwester sie begleiten durfte. Nachdem der König in der Nacht seine Lust befriedigt hatte, bat die diskret im Raum platzierte Dinasad, so wie zuvor abgesprochen, ihre Schwester um eine Geschichte. Mit Erlaubnis des Königs begann Schahrasad zu erzählen. Da die Geschichte bis zum Morgenanbruch noch nicht abgeschlossen war, Schahrijar aber ihren Ausgang gerne erfahren wollte, wurde Schahrasad zunächst einen Tag Gnadenfrist gewährt. So begann sie also Nacht für Nacht um ihr Leben zu erzählen. Sie flocht immer neue Geschichten ineinander, um nie zu einem Ende zu kommen, bis sie dem König drei Knaben geboren hatte und der seinen Mordplan schließlich aufgab.

 

Als Ursprungsland dieser Rahmenerzählung hat die Forschung Indien ausgemacht. Über eine persische Version kam sie in den arabischen Raum, wo sie spätestens seit dem 9. Jahrhundert bekannt war. Einzelne Geschichten aus dem Korpus fanden schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit den Weg ins Abendland, doch entdeckt wurde »Tausendundeine Nacht« für den Westen erst durch den Franzosen Antoine Galland (1646-1715). Mehrfach reiste er – als Diplomat, Übersetzer oder »königlicher Antiquar« – in die Levante; 1701 erhielt er aus Syrien ein Manuskript, das aus dem 14. oder 15. Jahrhundert stammt und heute die älteste uns bekannte Version der »Alf Laila wa-Laila«, so der arabische Titel, ist. Der erste Band seiner Übersetzung (»Les Mille et une nuits«) erschien 1704, der zwölfte und letzte erst postum 1717.

 

Während für die »ursprüngliche« arabische Geschichtensammlung weder ein Autor noch ein Kompilator genannt werden kann, ist Galland in gewisser Weise der Schöpfer von »Tausendundeine Nacht«, wie wir es heute kennen. Er fügte dem Werk erstmals den Zyklus von Sindbad dem Seefahrer hinzu, der zuvor eigenständig kursiert hatte. Auch so bekannte Erzählungen wie bspw. Aladin und die Wunderlampe oder Ali Baba und die 40 Räuber haben erst durch ihn Eingang in die Sammlung gefunden; Galland hat sie sich von einem Christen aus dem syrischen Aleppo erzählen lassen. Dabei ist er auch vor größeren Veränderungen in den Texten nicht zurückgeschreckt, um sie dem Geschmack seines Publikums (den französischen Salons des frühen 18.Jahrhunderts) anzupassen. Letztlich ist kaum die Hälfte seiner »Tausendundeine Nacht« als »original« zu bezeichnen – sofern man diesen Begriff überhaupt gebrauchen darf bei solchen anonymen Sammlungen, die im Laufe der Zeit naturgemäß allerlei Wandlungen unterliegen. Jedenfalls hatte Galland mit seiner Version großen Erfolg: schnell erlangte »Tausendundeine Nacht« im Abendland Popularität – eine Popularität, die auch zurück in den Orient strahlte.

 

Zuvor hatte die Sammlung im arabischen Raum nicht viel gegolten. Sie wurde nur als Unterhaltung für das Volk, gar nicht als Dichtkunst angesehen – was nun keineswegs ausschloss, dass auch der gebildete Araber oder Osmane heimlich eine Ausgabe besaß und las. Der Orientalistin Wiebke Walther folgend, kann man sagen, dass mit dem europäischen Erfolg von »Alf Laila wa-Laila« eine Art »Pizza-Effekt« einsetzte (auch die Pizza gewann ja erst nach ihrem Siegeszug – und ihrer Transformation – in der Fremde breite Popularität im Heimatland). Das Werk genoss daraufhin ebenfalls im Vorderen Orient höheres Ansehen, wenn auch freilich nie so hohes wie im Okzident. Generell wurde die Neuordnung der Sammlung durch Galland in arabischen Ausgaben übernommen, sie beinhalten seitdem ebenfalls Sindbad etc. Und auch heute noch übt die westliche Sicht auf »Tausendundeine Nacht« in der Ursprungsregion ihren Einfluss aus, beispielsweise wenn die Illustrationen ägyptischer Kinderbuchausgaben aus Disney-Filmen stammen.

 

Inhaltlich bietet »Tausendundeine Nacht« ein breites Spektrum: es finden sich märchenhafte Erzählungen, Abenteuergeschichten, moralische Stücke und (teilweise sehr frivole) Schwänke. Dabei tendierten schon seit Galland die meisten Übersetzer dazu, Stellen, die ihnen zu grausam, derb oder pornographisch erschienen, abzuschwächen. Schon früh galt die Sammlung daher als besonders geeignet für Kinder. Allerdings gab es schließlich (vor allem im 19. Jahrhundert) auch die gegenläufige Bewegung mit »Erwachsenenausgaben« von »Tausendundeine Nacht«. Der Vordere Orient mit seinen Harems und Odalisken musste hier als Projektionsfläche erotischer Fantasien des Abendlandes herhalten.

 

Gallands Übersetzung war lange Zeit die dominierende in Europa. Viele angeblich eigenständige Übertragungen orientierten sich in Wahrheit an ihr. Echte Neuübersetzungen entstanden erst wieder im 19. Jahrhundert. Eine der populärsten davon wurde die des britischen Entdeckers und Abenteurers Sir Richard Burton (1821-90) – sonderbarerweise, denn sie ist in einem mitunter grotesken Englisch abgefasst und mit skurrilen, ausufernden Anmerkungen versehen. (Besonders außereuropäsiche Sexualpraktiken faszinierten ihn dabei. Heutige Ausgaben, die sich an Burton orientieren, verzichten in der Regel auf seine Kommentare.) Im Englischen trägt das Werk übrigens den Titel The Arabian Nights‘ Entertainment bzw. kurz The Arabian Nights.

 

Der Einfluss von »Tausendundeine Nacht« auf westliche Schriftsteller war enorm. Hier alle Namen aufzuzählen ist gänzlich unmöglich; erwähnt seien deshalb nur einige Klassiker der fantastischen Literatur, wie William Beckford, Edgar Allen Poe, <link>Jacques Cazotte, H. G. Wells, Lord Dunsany oder H.P. Lovecraft, um anzudeuten, wie tief »Tausenundeine Nacht« auf dieses Genre gewirkt hat. Heutzutage hingegen hat sich die – direkte – Wirkung der Sammlung abgeschwächt. Sindbad und Aladin sind als Namen weiterhin geläufig, auch von Flaschengeistern weiß man noch, aber was sich tatsächlich hinter all dem verbirgt, ist kaum noch bekannt. Mit so manch anderem Klassiker der Weltliteratur (etwa Moby Dick oder Gullivers Reisen) teilt »Tausendundeine Nacht« das Schicksal, weitgehend nur noch in verstümmelten Kinderausgaben zu kursieren und also auch nur noch als Kinderliteratur (wenn überhaupt) wahrgenommen zu werden. Doch bleibt die Sammlung nach wie vor eine wertvolle Quelle der Inspiration, beispielsweise für so renommierte Autoren wie Rafik Schami oder Salman Rushdie. Und nicht zuletzt vermag dieser Schatz der Erzählkunst, dieses gemeinsame kulturelle Erbe der christlichen und muslimischen Welt, auch heutige Leser noch auf vergnügliche Weise in das wunderbare Morgenland zu entführen.

 

Tausendundeine Ausgaben – Buchempfehlungen:

Wer »Tausendundeine Nacht« tatsächlich ganz durchlese, so warnte man einst auf Kairos Straßen, der werde noch im selben Jahr sterben. Wer sich dennoch das im Laufe der Zeit stark angewachsene Gesamtwerk vornehmen möchte, ist mit der sechsbändigen Übersetzung Enno Littmanns (Insel Verlag) gut bedient.

 

Zahllos wie der Wüstensand sind die Ausgaben, die sich auf eine Auswahl beschränken; brauchbar ist hier bspw. die von Johann Christoph Bürgel und Marianne Chenou herausgegebene Anthologie Geschichten aus Tausendundeiner Nacht (Reihe Reclam).

 

Eine deutsche Übersetzung des »Originalmanuskriptes«, auf dem Gallands Ausgabe basiert, ließ lange auf sich warten. Im Jahr 2003 veröffentlichte Claudia Ott ihre sehr poetische und gerade deshalb getreue Übertragung (C.H. Beck, dtv). »Tausendundeine Nacht« ist zwar in erster Linie schriftliche Literatur, aber die Verbindung zur oralen Erzähltradition ist natürlich stark. Erfreulich daher, dass die Ottsche Übersetzung bei Hörbuch Hamburg als Lesung mit vielen hochkarätigen Sprechern vorliegt.

 

Erwähnt sei schließlich auch noch »Tausendundeine Nachts» kleine Schwester 101 Nacht. Die Rahmenhandlung dieser Parallelversion ähnelt der der bekannteren Anthologie, die einzelnen Geschichten jedoch sind ihr ganz eigen. 2010 entdeckte Claudia Ott ein bislang unbekanntes, aus dem maurischen Spanien des 13. Jahrhunderts stammendes Manuskript der »101 Nacht«; ihre Übersetzung erschien 2012 bei Manesse – eine nicht ganz preiswerte Ausgabe, aber ein wahrer Schmuck für jedes Bücherregal und inhaltlich höchst vergnüglich.

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Buch:

Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten

Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden

Übersetzer: Enno Littmann

Taschenbuch, 4821 Seiten

Insel Verlag, 30. August 2004

 

ISBN-10: 3458347437

ISBN-13: 978-3458347439

 

Erhältlich bei: Amazon

Geschichten aus Tausendundeiner Nacht

ÜbersetzerInnen: Marianne Chenou und Johann-Christoph Bürgel

Taschenbuch, 852 Seiten

Reclam Philipp jun., 1. Juni 2010

 

ISBN-10: 3150201950

ISBN-13: 978-3150201954

 

Erhältlich bei: Amazon

Tausendundeine Nacht

Übersetzerin: Claudia Ott

Gebundene Ausgabe, 699 Seiten

C. H. Beck, 10. November 2011

 

ISBN-10: 3406516807

ISBN-13: 978-3406516801

 

Erhältlich bei: Amazon

 

101 Nacht

Übersetzerin: Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums

Gebundene Ausgabe, 336 Seiten

Manesse Verlag, 11. Oktober 2012

 

ISBN-10: 371759026X

ISBN-13: 978-3717590262

 

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 22.06.2015, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 13986