Artikel: Quo Vadis, Mr. Miéville?
 
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Artikel: Quo Vadis, Mr. Miéville?

Ein kleiner Überblick über China Miévilles literarische Entwicklung

 

Redakteur: Oliver Kotowski

 

China Miéville muss dem an Phantastik Interessierten kaum vorgestellt werden: Alle seine Romane haben bisher mindestens eine Auszeichnung erhalten – Arthur C. Clarke, Bram Stoker, British Fantasy und Locus sind nur die gewichtigeren Awards. Größer noch dürfte der Eindruck sein, den seine kurze Bas Lag-Reihe und die daraus resultierende Diskussion um das quecksilbrige New Weird hinterließen. (Mein eigener Artikel Was ist eigentlich "New Weird" befasst sich offensichtlich mit dem Thema, doch das letzte Wort dürfte Jeff VanderMeer mit seinem Buch The New Weird behalten.) Da Miéville seit nunmehr über zehn Jahren die Szene bereichert und gerade sein neuestes Buch The City & The City erschienen ist, will ich einmal kurz Entwicklungslinien in seinem Werk nachzeichnen.

 

Dazu soll zunächst ein kurzer Blick auf die jeweiligen Bücher geworfen werden.

Miévilles Romandebüt ist der 1998 erschienene Roman King Rat (dt. König Ratte). Darin gerät der junge Londoner Saul zwischen die Fronten des seit Jahrhunderten zwischen King Rat und dem Rattenfänger (von Hameln) herrschenden Krieges. Schauplatz des revisionistischen Fantasy-Märchens ist das London der Gegenwart – allerdings die schäbigen Seiten der Stadt. Die Charakterisierung der Figuren bleibt eher oberflächlich und der Plot ist recht gradlinig, aber mit vielen Digressen versehen, worunter der Plotfluss leidet; die vielen sehr situativen Szenenbeschreibungen tragen ebenfalls zur Verlangsamung bei. Auch in puncto Erzähltechnik bleibt der Roman eher konservativ, sieht man von dem an Gaunersprachen orientierten Sprachduktus einiger Protagonisten ab.


2000 folgte dann mit Perdido Street Station (dt. Perdido Street Station, bzw. aufgespaltet als Die Falter und Der Weber) der große Wurf: Der erste auf Bas Lag spielende Roman. Der Renegatenwissenschaftler Isaac Dan der Grimnebulin soll für den entflügelten Garuda Yagharek einen Weg finden, ihn wieder fliegen zu lassen. Während seiner Forschungen lässt Isaac ein schreckliches Monster auf seine Stadt New Crobuzon los; er muss alles daran setzen um den Schaden wieder gut zu machen. Schauplatz ist New Crobuzon, eine fantastische Variante des schmutzigen Industrie-Londons von Charles Dickens, in dem sich neben allerlei Fantasiewesen auch Lochstreifenroboter und Remades, eine Art Cyber-Steam-Punks, tummeln. Auch hier bleibt der Blick auf die schäbigen Seiten der Stadt gerichtet: Die Herren der Stadt sind korrupte und skrupellose Kapitalisten, die Arbeiter egoistische Rassisten, die Diebe ehrlos und feige, die Scheiben sind zerbrochen und die Straßen mit Unrat übersät. Der Plot ist sehr breit angelegt und zum Teil zerfasert – so wird z. B. auch der Arbeitskampf der Dockarbeiter thematisiert. Miéville neigt weiterhin zum Situativen, geht aber bei den Figurencharakterisierungen stärker in die Tiefe und auch innere Konflikte beginnen eine Rolle zu spielen. Der Erzählstil ist dem Inhalt angepasst: Aus ungewöhnlichen und erfundenen Wörtern werden komplexe, barocke Sätze gebaut.


2002 erschien der zweite auf Bas Lag angesiedelte Roman: The Scar (dt. Die Narbe und Leviathan). Aufgrund des von Isaac verursachten Chaos muss dessen Exfreundin Bellis Coldwine die Stadt verlassen und landet nach einem Überfall auf der schwimmenden, die Weltmeere bereisenden Piratenstadt Armada. Diese Stadt gelangt in einen Strudel widerstreitender Interessen. Hierin liegt wohl auch der spannendste Aspekt des Romans: Miéville löst den üblichen Protagonist-Antagonist-Gegensatz auf und setzt an dessen Stelle ein kompliziertes Beziehungsgeflecht. Sonst ist die Ähnlichkeit zum Vorgängerroman recht hoch: Armada ist zwar viel chaotischer und maritimer als New Crobuzon, doch im Wesen ist es ebenso eine Metropole. Die Figuren sind etwas gebrochener und vielschichtiger und der Erzählstil ist ein wenig konzentrierter.


2004 erschien der dritte und bisher letzte auf Bas Lag spielende Roman: Iron Council (dt. Der Eiserne Rat). Einige Jahrzehnte später waren die Herren New Crobuzons bestrebt eine Eisenbahnlinie in die Provinz zu bauen um Handel und Versorgung zu verbessern, doch die Eisenbahner sagten sich irgendwann vom harschen Regime los und bahnten sich als Eiserner Rat auf eigene Faust einen Weg in die Wildnis um fernab der Heimat in Frieden leben zu können. In der Heimatstadt wird die Lage indes immer prekärer, denn der Krieg gegen das schwarzmagische Tesh läuft schlecht und die unterdrückten Untertanen werden immer aufrührerischer. Es kommt schließlich zur Revolution, bei der man auf Judah Low, den größten Golembauer, und die Rückkehr des Eisernen Rates hofft. Man ist versucht Iron Council nur als dialektisches Ergebnis der Spannung zwischen Perdido Street Station und The Scar zu beschreiben: Schauplätze sind wiederum New Crobuzon und statt der schwimmenden Stadt Armada die fahrende Stadt des Eisernen Rates. Außerdem wird der klassische Figurenantagonismus nur gemäßigt aufgebrochen. Doch es geht darüber hinaus: Die Figuren werden ambivalenter charakterisiert und erzähltechnisch gibt es einen langen Einschub, dessen Erzählstil sich massiv von der Rahmenerzählung unterscheidet, weil er deutlich anders klingt und wesentlich stringenter erzählt ist.


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2005 erschien mit Looking für Jake (dt. Andere Himmel) kein Roman, sondern eine Kurzgeschichtensammlung, deren Inhalt aus den Jahren zwischen 1998 und 2005 stammt. Diese Sammlung lässt sich gewissermaßen als Wendepunkt verstehen, sie ist Rückblick und Ausblick zugleich. Während in Jack (dt. Jack) das Schicksal des legendären Remade Jack aus Perdido Street Station geklärt wird, greift Miéville andererseits in Reports of Certain Events in London (dt. Berichte über gewisse Vorfälle in London) das von Bruno Schulz in Die Zimtläden bearbeitete Befremden auf, das sich einstellt, wenn man bekannte Stadtviertel plötzlich kaum mehr wieder erkennt, weil sich Details geändert haben; in The City & The City wird es von Miéville erneut aufgegriffen. Das in Familiar (dt. Faktotum) geschaffene Müllmonster könnte dagegen sowohl in dem früheren King Rat wie auch im späteren Un Lun Dun auftauchen.


2007 wurde Miévilles erster Jugendroman Un Lun Dun (dt. Un Lon Dun) veröffentlicht. Es geht zurück nach London, genauer gesagt, in eine Spiegelstadt von London: UnLondon, wo all die Abfälle und andere ungewollte Dinge landen. Dort müssen die beiden Mädchen Zanna und Deeba sich gegen ein grässliches Monster erwehren: intelligentem Smog. UnLondon ist wiederum ein besonders schäbiger Ort, doch anders als in seinen Bas Lag-Romanen ist die Mehrheit der Bewohner freundlich und (in Maßen) hilfsbereit. Auch sind die fantastischen Wesen – mörderische Giraffen, kletternde Busse, rabiate Mülltonnen-Ninjas und belebter Müll – ins Komische reichend grotesk. Zum Jugendroman passend sind die verschiedenen Aspekte – Plot, Charakterisierung der Figuren, Erzähltechnik – ohne dabei ins Banale abzugleiten einfacher gestrickt.


Jetzt (2009) ist mit The City & The City (bisher nicht übersetzt) ein neuer Roman erschienen. Das Geschehen findet in den fiktiven Balkanstädten Besźel und Ul Qoma statt. In Besźel wird eine Frauenleiche gefunden. Inspector Borlú vom Extreme Crime Squad übernimmt den Mordfall. Nach einigen fruchtlosen Herumgestochere bekommt er den entscheidenden Tipp von einem politischen Extremisten aus der Nachbarstadt Ul Qoma – die Tote hatte dort gelebt, was die Ermittlungen erheblich verkompliziert, denn die beiden Städte liegen zwar nicht nur neben, sondern auch ineinander, teilen miteinander aber in erster Linie eine besondere Grenze: Die Bewohner der einen Stadt ignorieren (engl.: unsee) alles, was mit der anderen Stadt zu schaffen hat. Mit diesem Kriminalroman entfernt sich Miéville deutlich von den Vorgängern: Besźel und Ul Qoma haben zwar auch ihre schäbigen Seiten, diese stehen aber nicht mehr im Zentrum, die Figuren sind relativ normale Menschen, sie sind durchaus rund, wenn auch nicht ganz so vielschichtig wie die Hauptfiguren aus Iron Council, der Plot ist außerordentlich prägnant herausgearbeitet und auch im Erzählstil strebt Miéville Klarheit und Knappheit an – oftmals wird besonders der Anfang mit Werken von Raymond Chandler verglichen. Auf der anderen Seite fehlt dem Roman der Genrebruch (auch wenn Breach ein zentrales Thema des Romans ist): Vom Plot und den Figuren her, ja in weiten Teilen auch vom Schauplatz her, ist es ein ganz normaler Krimi.


Zwei Entwicklungen stechen ins Auge. Zunächst ist da die Stadt. Alle Romane und die meisten der kurzen Texte verwenden eine Stadt als Schauplatz. Zu Beginn ruhte dabei der Fokus sehr stark auf den schäbigen Seiten, langsam wanderte er jedoch in Richtung Ausgeglichenheit hin. Un Lun Dun ging dann wieder deutlich zum Schäbigen und The City & The City umso deutlich zur Normalität zurück. Damit verbunden ist die Verknüpfung von Schauplatz und Figur. King Rat weist gewisse Ähnlichkeiten mit Neil Gaimans Neverwhere (dt. Niemalsland) auf, doch schon in Miévilles Erstling sind die Figuren stärker an London gebunden als die Gaimans. Die Tendenz vom Ambiente hin zum Milieu wird immer stärker – in The City & The City sind die Bewohner vollständig vom Leben in den Zwillingsstädten geprägt.

 

Auch die zweite Entwicklung ist mit dem Setting verbunden: Monster. Miéville liebt Monster, je absonderlicher und grotesker, desto besser. Am Anfang standen, einigermaßen zurückhaltend, die hybriden Tierherren King Rat, Anansi und Loplop, menschenartige Wesen mit einigen tierischen Attributen und besonders Charakterzügen. Dann kam die Monster-Parade der Bas Lag-Reihe mit all ihren Khepri (Frauen mit Käfernköpfen), Cactae (menschenartigen Kakteen), Hotchi (Igel-Menschen), den Slake-moths, Anophelii, Golems und zahllosen anderen Monstren. Un Lun Dun ging noch einen Schritt weiter – hier ist beinahe jede Figur ein bizarres Wesen und kaum eines gleicht dem anderen. Wie schon zuvor kommt der radikale Umschwung mit The City & The City: Keine Monster mehr. Miévilles Liebe zu D&D ist nicht mehr spürbar. Damit verbunden ist die Entwicklung der Figuren: Anfangs waren sie noch recht skizzenhaft und oberflächlich charakterisiert, dann wurden sie immer detaillierter und vielschichtiger; den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Tendenz in Iron Council. Un Lun Dun und The City & The City fällen mehr oder weniger dahinter zurück, was allerdings nicht stört, da die Geschichten weder mehr Details und schon gar nicht mehr inneren Konflikt benötigen. Parallel dazu gibt es die Entwicklung vom Exzentrischen hin zum Zentrischen: In The City & The City sind die Figuren völlig glaubwürdige, normale Menschen – sieht man vom Einfluss der eigenartigen Umwelt ab.

Es bleibt eine dritte, schwerer zu fassende Entwicklung. Alle Romanplots haben gewissermaßen mit der Verquickung von Verbrechen und Politik zu tun. Sehr indirekt bleibt es in King Rat, auch in den Bas Lag-Romanen ist diese nicht zentral. In Un Lun Dun wird es zwar zur zentralen Motivation, doch der Plot ist weniger mit dem Verbrechen als mit dem Aufhalten des Täters befasst. Für The City & The City ist sie dann absolut zentral – es ist ein Kriminalroman, der sich mit dem Aufdecken eben jener Verquickung befasst. Charakteristisch für Miévilles Umgang mit Plots war eine gewisse Neigung zum Spiel mit den Konventionen: King Rat verwendet einen seltsamen Rivalitätsplot, die Bas Lag-Reihe in erster Linie Abenteuerplots, deren ungewöhnlichster der von The Scar mit seinem komplizierten Beziehungsgeflecht ist, und Un Lun Dun nimmt die Queste auf's Korn. The City & The City ist, wie gesagt, ein Krimi – ungewöhnlich (für Miéville) ist nur, dass der Plot in konventionellen Bahnen verläuft. Auch ein Stilwandel ist deutlich geworden: Hatte Miéville vor allem in den Bas Lag-Romanen sich eines extrovertierten, schwelgenden, zum Ausgefallenen neigenden Stils befleißigt, der den Plotfluss klar verlangsamte, da viele Szenen situativ, digresshaft und zum Teil sogar redundant waren, so zeichnete sich in der Binnenerzählung Judah Lows in Iron Council schon eine Konzentration auf die Klarheit ab, doch in The City & The City ist Miéville noch deutlich weiter in diese Richtung gegangen. Dieser Stilwandel ist zum geringeren Maße auch in Wortwahl und Satzbau spürbar – beides wurde klarer und prägnanter.


 

Was bleibt als Fazit festzuhalten? Ich denke, dass Miéville sich langfristig vom Genre wegbewegt: Es gibt keine Monster mehr, das Leben in der Stadt wird banaler (wenn auch nicht weniger fantastisch), die Figuren sind runder und zentrischer geworden, der Umgang mit Plot und Erzählstil hat viel vom Spielerischen verloren. Bei aller Originalität und Eigenständigkeit hatte Miéville zunächst die Nähe zu Neil Gaiman, D&D und H. P. Lovecraft gesucht, heißen jetzt die literarischen Anknüpfpunkte Raymond Chandler, Franz Kafka und Bruno Schulz. Bisweilen wird über The City & The City geurteilt, dass der Roman "erwachsen" sei. Ist damit das Entfernen vom Pulpigen und Spielerischen gemeint, so stimme ich zu. Doch Erwachsensein impliziert eine Art Angekommen-Sein, ein Sich-Gefunden-Haben. Dem stimme ich nicht zu. Ich denke, es ist noch einiges an literarischer Entwicklung von Miéville zu erwarten – The City & The City hat gezeigt, dass Miéville zu krassen Änderungen im Stil in der Lage ist.

 

Was mag als Nächstes kommen? Amazon kündigt für 2010 den Science Fiction-Roman Kraken an. Aber der sollte schon auf Un Lun Dun folgen. Folgt man den von mir herausgearbeiteten Linien, wird eher 2011 ein phantastischer Roman erscheinen, der noch mehr zum Magischen Realismus gehört (auf die finstere, bizarre Weise, die Miéville stets zueigen ist) als alle bisherigen Romane. Andererseits bekommt The City & The City eher lauwarme Empfehlungen, denen ich mich zum Teil anschließen muss: Als Ideengeschichte im Stile von Paul Di Filippos A Year in the Linear City (dt. Ein Jahr in der linearen Stadt, in: Moloch, hrsg. v. Peter Crowther) oder Charles Howard Hintons The Persian King (dt. Der König von Persien, in: Wissenschaftliche Erzählungen) ist sie immer noch nicht konzentriert genug und als Kriminalgeschichte kommt sie weder an die knallharte Kürze von Dashiell Hammetts The Maltese Falcon (dt. Der Malteser Falke) oder die politischen Verwicklungen von Eric Amblers Send No More Roses (dt. Bitte keine Rosen mehr) heran; und um Raymond Chandler zu sein, an dessen Werke der Roman am weitesten heranreicht, kommt Miéville einige Jahrzehnte zu spät.

 

Vielleicht führt diese Rezeption zu einer Rückwendung zum Genre hin, vielleicht ist der Krimi nichts weiter als eine Spielerei auf dem Wege zum literarischen Erwachsenendasen. Fehlen täte noch eine echte Horror-Geschichte – vielleicht im Stile der Kurzgeschichte The Ballroom (dt. Kullerbuntland, in: Andere Himmel)? Ich für meinen Teil werde China Miévilles weitere Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, denn wenn es ihm gelingt seine Stärken gebündelt umzusetzen, wird er höchste Kunst und Unterhaltung verbinden.

 

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Erstellt: 11.06.2009, zuletzt aktualisiert: 11.07.2024 19:06, 8859