Die Salzsäule (Autor: Leopoldo Lugones; Bibliothek von Babel Bd. 15)
 
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Die Salzsäule von Leopoldo Lugones

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 15

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Mit der Herausgabe von Leopoldo Lugones wendet J. L. Borges sich mit dem fünfzehnten Band der Bibliothek von Babel nach den Argentinischen Erzählungen und seinen eigenen Texten in 25. August und andere Erzählungen wieder einem Argentinier zu. Die Salzsäule enthält sieben Werke aus dem Jahr 1906, allesamt recht unterschiedliche Kurzgeschichten, in denen Lugones sein Sprachgefühl und seine Fähigkeit den Erzählstil dem Inhalt anzupassen demonstriert.

 

Zu den Geschichten im Einzelnen:

Yzur (15 S.): Einem Wissenschaftler ist die javanesische Fabel zu Ohren gekommen, dass Affen nicht sprechen wollen um nicht arbeiten zu müssen. Mit einiger Verwunderung stellt er fest, dass es keinen physiologischen Grund für das Schweigen gibt. So setzt sich bei ihm die fixe Idee fest, einem Affen das Sprechen beizubringen. Er kauft einem Zirkus den Schimpansen Yzur ab, der ein gelehriges Tier ist. Anfangs machen die beiden auch Fortschritte, aber dann scheint es dem Wissenschaftler, als würde sein Schüler sich weigern.

Plausibel und unspektakulär befasst sich diese Geschichte mit der Möglichkeit, einem Affen das Sprechen beizubringen. Das Scheitern wird dann deutlich weniger plausibel erklärt – ein klarer Hinweis auf den überspannten Geist des Erzählers. Ist der Höhepunkt dieser SF-Wundergeschichte dem ebenfalls geschuldet? Damit genügt die Geschichte auch den Ansprüchen der todorovschen Phantastik. Die Unterschiede zwischen Affen und Menschen hatte schon eine andere Geschichte aus der Bibliothek von Babel zum Thema: Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie (in: Der Geier), doch sie entwickeln sich sehr unterschiedlich.

Der Feuerregen (18 S.): Ein alternder, ermüdeter Künstler schlendert zum Essen. Er macht sich nichts aus Frauen – die letzte Orgie liegt für ihn schon zehn Jahre zurück – und weniger noch aus Männern, so speist er allein. Doch der Appetit vergeht ihm, denn dem servierenden Sklaven bohrte sich ein glühendes Kupferstück in die Schulter. Es fiel einfach vom klaren, blauen Himmel herab. Der Alte besieht sich auf dem Weg durch die dekadente Stadt prachtvolle Lustgärten und lüstern flirtende Männer, Frauen, Mädchen und Knaben – und dann beginnt es erneut heiße Kupferkugeln auf Sodom zu regnen.

Feuerregen hat als Aufhänger das bekannte Bibelzitat: "Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra […]" – Sodom ist eine Stadt, in der Gisbert Haefs Mungo Carteret oder Michael Moorcocks Jerry Cornelius sich wohlfühlen würden. Ihr Untergang wird vom Alten unter ästhetischen Gesichtspunkten gewürdigt.

Die Salzsäule (10 S.): Der alte Mönch Sosistratus betet seit Jahren fünfzehn Stunden am Tag zu Gott. Seine stetige Aufopferung für die Menschheit stimmt Gott gnädig und verhindert viele Naturkatastrophen und dergleichen. Durch seinen festen Glauben hat er Heiligkeit erlangt, sogar die wilden Tiere respektieren das: Tauben bringen ihm Trauben, damit er sich daran labe. Eines Tages kommt ein staubiger Wanderer aus Caesarea zum mittlerweile allein im San Sabas Kloster lebenden Mönch und berichtet ihm davon, dass er die Salzsäule sah, die Lots Frau war. Der Versucher setzt dem heiligen Mann einen gefährlichen Gedanken in den Sinn: Eine Taufe der Säule könnte die Seele der armen Frau erretten.

"Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule", ist der Ausgangspunkt dieser eigentümlichen Pseudolegende. Die Namen (Sosistratus und Juvenicus, der kundige Autor des Buchs De Sodoma, etc.) täuschen Historizität vor, es sind aber letztlich fiktive Figuren.

Die Pferde von Abdera (11 S.): In der thrakischen Stadt Abdera nimmt die Pferdezucht einen besonderen Platz ein. Die Bürger sind so sehr in ihre Pferde vernarrt, dass nicht nur ein jedes einen Namen hat, sondern viele auch zum Haushalt gehören wie jedes andere Familienmitglied auch. Man fördert die Klugheit der Tiere, wo es nur geht, und ist entzückt, als sie beginnen menschliche Eigenheiten zu übernehmen. Dann aber werden die Rösser rebellisch.

Die Geschichte spielt auf die achte Tat des Herakles an: Dieser musste die Mähren des König Diomedes einfangen. Als bei dieser gefährlichen Aufgabe sein Freund Abderos starb, gründete der Heros zu Ehren des Toten die Stadt Abdera. Daneben ist Borges präziser Beschreibung nichts hinzuzufügen: "Der Anfang ist einfach reizvoll, dann wird es grausig, und das Grausige leitet über zum mythologischen Wunderding."

Ein unwirkliches Phänomen (14 S.): Irgendwo im Norden Argentiniens zwischen Cordoba und Santa Fe schlägt ein freundlicher Friedensrichter einem Reisenden vor, bei einem Engländer Quartier zu suchen. Der wohne ganz in der Nähe, sei aber etwas verschroben. Tatsächlich empfängt der Engländer den Reisenden, ist aber während der Konversation geistesabwesend. Schaut er – nervös oder zerstreut – in jene schattige Ecke? Es stellt sich heraus, dass beide Homöopathen sind. Man beginnt sich immer besser zu verstehen. Schließlich fasst der Gastgeber so viel Vertrauen, dass er von einer seltsamen Krankheit berichtet, mit der er sich in Indien infizierte – und schaut weiterhin beunruhigt zu jener dunklen Ecke.

Der Witz dieser Horrorgeschichte liegt im nüchternen Understatement – sonst könnte sie von H. P. Lovecraft sein (der stets einen blumigen, flatterhaften, leicht hysterischen Stil pflegte), denn auch hier gilt: Die sicher befahrbare See des Wissen ist nur ein schmaler Streifen an der Küste. Es besteht darüber hinaus eine intertextuelle Verbindung: Ähnlich wie in Scarlett Thomas Troposphere führt die Homöopathie in eine neue Bewusstseinssphäre.

Francesca (14 S.): Dem Erzähler fällt ein Manuskript aus dem späten 13. Jh. in die Hände. Es verbürgt sich die Wahrheit der Liebe zwischen Francesca und Paolo wiederzugeben: Um einen Frieden zwischen zwei verfeindeten Familien zu besiegeln, soll Francesca de Rimini den Giovanni Malatesta heiraten. Da der Verkrüppelte Ablehnung fürchtet, schickt er seinen Bruder Paolo, der in seinem Namen heiraten soll. Die so Getäuschte wird doppelt enttäuscht, als sie ihren Gemahl erkennt: Er ist ein hässlicher, sadistischer und verlogener Machtmensch. So verlöscht die Liebe zum ihr gewogenen Paolo, die bei der Heirat entfacht wurde, nicht.

Um diese Neuausdeutung (im Vokabular der SF: Alternative History) vollständig würdigen zu können, muss man Lugones Bezugsquellen kennen. Dante, ein Zeitgenosse der historischen Francesca, lässt sie zusammen mit Paolo in der Göttlichen Komödie im zweiten Kreis der Hölle auftreten, da sie sündigten, weil sie aber aufrichtig liebten, ist ihre Strafe vergleichsweise mild. Boccaccio fügt in seinem Decamerone noch weitere Details hinzu: Er berichtet von der erwähnten Täuschung und lässt Francesca aus Rache die Beziehung beginnen. Als die Ehebrecher entdeckt und getötet werden, sind aus ihnen jedoch Liebende geworden.

Grossmutter Julia (11 S.): Emilio und Señora Oliva sind zwei melancholische, zurückgezogen lebende Menschen. Emilio ist ein distinguierter Mann von fünfzig Jahren, Señora Oliva ist seine zwanzig Jahre ältere Tante. Die beiden haben viel gemeinsam: Sie haben einen aristokratischen Geschmack, eine Vorliebe für gute Literatur und Reisebeschreibungen und ihre Weltverachtung grenzt an Egoismus. Die beiden sehen sich regelmäßig und teilen einander alles Wichtige mit; nur die Ursache ihrer Traurigkeit verbergen sie sorgsam – es wäre nicht schicklich davon zu sprechen. Eines Sonntags, man plaudert gerade über die deutsche Nachtigall als wahren Landsmann Beethovens, wagt sich Emilio seiner Tante gegenüber ein wenig vor.

Diese feinfühlige Geschichte thematisiert eine unpassende Liebe; sie erinnert darin ein wenig an den Film Harold und Maude; Grossmutter Julia nimmt aber eine gänzlich andere Entwicklung. Diese Geschichte kommt ohne Wunder aus; allein die seltsame Beziehung könnte beim Leser ein sense-of-wonder auslösen. Borges hielt sie für eine der besten Geschichten Lugones'; ich habe offenbar andere Interessen.

 

Wie für Kurzgeschichten üblich, kommen dem Setting und den Figuren kaum eine Bedeutung zu, sieht man von Der Feuerregen ab; dort wird der Schauplatz angemessen, aber knapp und präzise entwickelt um ihn dann in Flammen aufgehen zu lassen. Diese Angemessenheit gilt ganz generell für die Settings und besonders für die Figuren: Sie mögen zwar nur ausschnitthaft dargestellt werden, aber es sind immer potentiell runde und vielschichtige Figuren.

 

Die Plots werden alle recht schnörkellos entwickelt; nach einer kurzen Einleitung geht es zum Knackpunkt. Dieser liegt bei vier Geschichten im intertextuellen Spiel mit dem literarischen Vorbild; Yzur und Grossmutter Julia wenden sich verstärkt der Eitelkeit des Menschen zu, die – wie in diesen beiden Geschichten – oftmals dem Glück im Wege steht und Ein unwirkliches Phänomen behandelt einen seltsamen Fall von Persönlichkeitsspaltung. Erzähltechnisch sind die Geschichten konventionell, was wenig überrascht, bedenkt man den Entstehungszeitraum; tatsächlich ist Yzur in diesem Rahmen sogar als progressiv zu werten, da Lugones hier den gradlinigen Stil, wie ihn H. G. Wells später für SF populär machte, ausprobiert. Bemerkenswert ist auch Lugones variantenreiche Erzähltechnik, die stets zum Inhalt der Geschichte passt. So verwendet jede Geschichte einen Ich-Erzähler, der aber sehr unterschiedlich eingesetzt wird.

 

Fazit:

Die Stärke des fünfzehnten Bandes ist der große Variantenreichtum des Erzählers Lugones, aber auch sein spielerischer Umgang mit klassischen Werken der Literatur, sei es nun griechische Sage, Bibelvers oder mittelalterliche Dichtung. Damit fordern die Geschichten allerdings auch eine gewisse Belesenheit ein, da sonst der Kontext fehlt, in dem sie ihre Kraft entfalten können. Den Wert dieser Texte sieht man vielleicht am besten, wenn man bedenkt, dass Techniken, die Lugones verwendet, heute zum Standart gehören – 1906 aber noch nicht annähernd.

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Titel: Die Salzsäule

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 15

Original: Ohne Angabe

Autor: Leopoldo Lugones

Übersetzer: Arthur Wagner

Verlag: Edition Büchergilde (September 2007)

Seiten: 107-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-15-9

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 16.04.2008, zuletzt aktualisiert: 18.04.2024 09:19, 6291