Und hier kommt jetzt Tad Williams mit einem Küchenjungen als Helden …
Moment mal, hatte ich nicht weiter oben etwas von Wendepunkt in der Fantasy geschrieben? Ja, Williams bedient sich durchaus klassischer Elemente. Simon Mondkalb ist ein einfacher Küchenjunge auf dem Hochhorst, der Burg des Königs. Der einzige Drache, gegen den er kämpft, ist die Küchenchefin Rachel. Simon ist ein Waisenjunge, der sich orientierungslos durch den Alltag träumt, bis der Hofgelehrte Doktor Morgenes auf ihn aufmerksam wird und ihn als Lehrling zu sich nimmt. So weit so bekannt, die Prämisse kennt man auch schon von Raymond Feists »Midkemia Saga«. Nur dass Magie in Osten Ard, der Welt in der Simon lebt, nicht so offensichtlich ist und direkt beim Namen genannt wird. Morgenes ist vor allem Arzt und Schriftgelehrter, der Simon mit allerlei langweiligem Zeugs traktiert, wie z. B. lesen lernen.
Was Williams Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt von seinen Vorgängern unterscheidet, ist der Detailreichtum, mit dem er das Leben auf der Burg ausführlichst über mehrere Hundert Seiten beschreibt. Da fühlte ich mich teilweise schon an Mervyn Peaks Gormenghast erinnert. Wobei es zwischendurch durchaus auch schon um Politik ging. Vor allem um den steinalten König, der schließlich stirbt, und dessen Platz auf dem Thron sein Erstgeborener Elias einnimmt. Ein einst starker und selbstbewusster Krieger, der nun unter dem unheilvollen Einfluss des zwielichtigen Priesters Pyrates steht, der sich mit dunklen Mächten eingelassen hat.
Und hier geht es jetzt (nach etwa 250 richtig los): Simon muss alleine aus der Burg fliehen, findet erste Verbündete und begibt sich auf eine Queste. Währenddessen steigert Williams aber auch den Anteil an den politischen Geschehnissen. Immer öfters wechselt die Handlung von der Hauptfigur Simon zu einem der unzähligen Adligen, die sich mit dem repressiv werdenden König und dessen Schergen rumschlagen müssen, bis schließlich alle Anzeichen auf Krieg stehen.
Und genau diese Mischung macht den Unterschied. Hofintrigen, Diplomatie, große Schlachten usw. gab es auch in der Fantasy der 70er und 80er Jahre, aber nicht in diesem Ausmaß und mit dieser Detailtreue auf solch komplexe Weise miteinander verwoben, wie es danach erst wieder George R. R. Martin gelingen wird. Wobei Williams auf dessen Grad an Brutalität und Zynismus verzichtet. Vom Tonfall und der Stimmung her, ist er das deutlich näher an Eddings. Martin nannte Tad Williams übrigens auch als einen seiner Einflüsse für Das Lied von Eis und Feuer.
Obwohl Williams mit viel Aufwand und Können seine eigene Welt erschafft, ihr eine eigene Historie und eine eigene Mythologie verleiht, löst er sich nicht ganz von Tolkien. Die langlebigen schönen Sithi sind eindeutig mit Elben/Elfen verwandt. Die Trolle erinnern zumindest ein wenig an die Hobbits, auch wenn sie mit dem Eifer von Zwergen kämpfen. Der Sturmkönig Ineluki erinnert stark an Sauron, der einst in einem gut aussehenden Körper auf Erden wandelte und im zweiten Zeitalter den »Ring sie alle zu beherrschen« schmiedete; Ineluki erschuf ein Schwert, seine rote Hand, die aus fünf Getreuen besteht, erinnert an die Nazgûl, die Ringgeister. Aber Williams gelingt es, diese Ähnlichkeiten auf Oberflächlichkeiten zu beschränken bzw. sie so zu verfremden und mit anderem Material (germanische Mythologie, japanische Sprache usw.) anzureichern, dass es kaum auffällt.
Ich habe »Der Drachenbeinthron« vor ca. 15 Jahren das erste Mal gelesen. Dass er nicht zu meinen absoluten Lieblingsbüchern avanciert ist, die ich alle paar Jahre wieder lese, lag vermutlich an unglücklichem Timing, aber Feist, Tolkien, Moorcock, Salvatore und <link>Goodkind fielen mir einfach früher in die Finger. Damals hatten mich Bücher auch um so mehr fasziniert, je mehr Magie sie enthielten. Und ähnlich wie bei Martin, wurde die hier im ersten Band nur sehr spärlich eingesetzt. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch als sehr gut in Erinnerung.
Mit Rereads ist das so eine Sache. Häufig spielt ein gewisser Nostalgiebonus eine Rolle, da man sich an die behüteten, sorgenfreien Tage seiner Kindheit bzw. Jugendzeit erinnert, in der man die Bücher zum ersten Mal las. Man ist also emotional mit dem Buch verbunden und liest es eventuell durch die rosarote Nostalgiebrille. Was ich nicht unbedingt als schlecht empfinde. Ist doch schön, wenn ein Buch einem ein Stück Kindheitsatmosphäre zurückbringt. Es ist aber auch riskantes Unterfangen, da man (zumindest ich) in der Kindheit und Jugendzeit als relativ unerfahrener Leser sehr viel unbefangener und unkritischer gelesen hat. Was bedeuten kann, dass man beim Reread feststellt, dass man das Buch inzwischen total furchtbar findet, was die positive Erinnerung ein wenig trüben kann (ging mir bei der »Drachenlanze« so).
Bei den meisten Büchern, die ich noch einmal lese, stelle ich aber fest, dass sie mir noch genauso gut gefallen wie damals. Das ist auch bei »Der Drachenbeinthron« der Fall. Da ich mich nur noch an einzelne Schlüsselszenen und wage Handlungsverläufe erinnern konnte, ist die Lektüre auch zu (fast) keinem Zeitpunkt langweilig gewesen. Und sobald mir ein Name bekannt vorkam (wie z. B. Camaris, von dem ich noch weiß, dass er eine wichtige Rolle spielen wird) habe ich mich über die zurückkehrende Erinnerung gefreut. Ich hatte also immer noch einen Riesenspaß, mit Simon durch die Wildnis zu fliehen und allerlei schreckliche Abenteuer zu erleben. Die Szenenwechsel zu Protagonisten, die nur ein oder zwei Mal überhaupt im Buch vorkommen, empfand ich allerdings als etwas langweilig, aber diese Kapitel waren zum Glück immer recht kurz gehalten. Das ist eventuell auch dem Charakter des Auftaktbandes zu dieser vierbändigen Serie geschuldet, der vor allem als Prolog für die eigentliche Geschichte dient.
»Der Drachenbeinthron« ist gut gealtert und macht auch noch 25 Jahre nach Ersterscheinung viel Spaß und kann locker mit aktueller Fantasy mithalten. Ich würde sogar so weit gehen, dass es heutzutage nur wenige Werke gibt, die es schaffen an Williams Werk heranzukommen.
Ich habe übrigens die alte Ausgabe von Fischer gelesen, in der Übersetzung von Verena C. Harksen. Eine andere gibt es auch nicht, aber zumindest eine von Andy Hanemann überarbeitete Fassung, die vor einigen Jahren bei Klett/Cotta erschienen ist. Obwohl mir die ursprüngliche Fassung der Übersetzung ganz gut gefällt, kann ich mir gut vorstellen, was da zum Teil vielleicht überarbeitet wurde, da sie sich stellenweise doch etwas holprig liest - nicht im Sinne von schlecht, sondern eher als Geschmacksfrage, vor allem was den Stil angeht.