Artikel: Ein Mythos namens Cthulhu
 
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Ein Mythos namens Cthulhu

Redakteur: Matthias Oden

 

„Das älteste und stärkste Gefühl des Menschen ist die Furcht, und die älteste und stärkste Furcht ist die Furcht vor dem Unbekannten.“

 

Folgt man diesem berühmten Zitat von Howard Phillips Lovecraft, neben Edgar Allan Poe Mitbegründer moderner Horrorliteratur, so beschäftigt sich das nach Motiven aus seinem Werk konzipierte Rollenspiel Cthulhu mit der mächtigsten Emotion der Menschheit. 1981 zum ersten Mal auf dem US-amerikanischen Markt erschienen, konfrontiert es seine Spieler Stück für Stück mit einem Horror, der wenig mit Gespenster- und Gruselgeschichten gemein hat, sondern kosmischer Natur ist: Im so genannten Cthulhu-Mythos existieren gottgleiche, außerirdische Wesen wie der namensgebende Cthulhu, die seit Äonen einen todesähnlichen Schlaf schlafen und Geist zerfetzende Träume aussenden. Dienerrassen auf der Erde, auf anderen Planeten und in Paralleldimensionen warten auf die Zeit, in der die Sterne wieder richtig stehen und diese „Großen Alten“ ihre Herrschaft über das Universum erneut antreten werden. Wahn bringende Bücher flüstern von Zeiten, die waren und die einst wieder sein werden, und ebenso finstere wie verborgene Kulte hoffen, durch ihre blasphemischen Rituale das Anbrechen dieser Zeiten zu beschleunigen.

Für Paranoia, Angst und Alpträume mag in diesem Universum des Grauens Platz sein, nicht aber für die Menschheit: Ihre Wertvorstellungen und Paradigmen sind falsch und irrelevant, ihr Glaube, den Gang der Welt mittels unumstößlichen Naturgesetzen erfassen zu können, nur eine beruhigende Lüge. In dieser Zerstörung aller bekannter Referenzsysteme mag vielleicht der größte Schrecken liegen, den Cthulhu zu bieten hat – die Konfrontation mit abstoßenden Fisch-Mensch-Hybriden und pervertierten Kultisten mag schrecklich sein und die geistige Gesundheit zerrütten. Doch die Erkenntnis, dass es Dinge gibt, die es nicht geben dürfte, dass all das nichtig und unbedeutend ist, was man für gut und richtig hielt, und man nackt und ohnmächtig einer Wirklichkeit gegenübersteht, die der eigene Geist nicht fassen kann – das ist Furcht vor dem Unbekannten in extremo.

Cthulhu spielt man, um aus Lust am Grusel ein Echo eben jener Furcht am Spieltisch erleben zu können. Gespielt wird zumeist in der Epoche, in der Lovecraft schrieb und seine Geschichten ansiedelte – in den Zwanziger Jahren. Dort liegt auch der Schwerpunkt der deutschen Cthulhu-Publikationen des Pegasus-Verlages. Die klassischen anderen Settings Cthulhu bei Gaslicht (in der Viktorianischen Ära) und Cthulhu Now (in der Gegenwart) sind in den letzten Jahren in der Reihe Cthuloide Welten um eine Vielzahl weiterer, teilweise recht ausgefallener Szenarien erweitert worden: Cthulhu 1000 AD lässt Charaktere Cthulhus Ruf im finsteren Mittelalter vernehmen, Cthulhu Wild West überzieht die Prärien Nordamerikas mit Schrecken und in Katzulhu schlüpfen die Spieler gar in die Rollen von Katzen, die sich cthuloidem Horror auf Samtpfoten stellen müssen. Auch Abenteuer mit anderen, etwa mit Piraten- und Science-Fiction-Hintergründen, sind bereits erschienen oder werden es demnächst.

Die Regeln, mit denen man sich diese Setting-Fülle erschließen kann, sind denkbar einfach und wenig umfangreich: Gespielt wird nach dem Basic Roleplay System (BRP), das auf Prozentwerten basiert und auch bei Stormbringer angewendet wird. Neben den Eigenschaften Stärke, Konstitution, Größe, Geschicklichkeit, Intelligenz, Bildung und Mana existieren noch einige wenige hergeleitete Attribute wie Glück und geistige Stabilität. Eine je nach Bedarf und Setting unterschiedliche und frei erweiterbare Liste von Fertigkeiten rundet die spieltechnischen Daten eines jeden Charakters ab. Die Auswahl dieser Fertigkeiten ist den Anforderungen im Spiel angepasst und offenbart bereits ein paar der Eigentümlichkeiten von Cthulhu, die das Spiel von anderen Systemen abhebt: Fertigkeiten wie Bibliotheksnutzung, Anthropologie und Psychoanalyse geben einen ersten Vorgeschmack auf die Art kommender Abenteuer.

Die Charaktererschaffung kann man durch die Übersichtlichkeit der Regeln – klammert man die Erstellung einer stimmungsvollen Hintergrundgeschichte aus – innerhalb einer Viertelstunde abschließen. Und während andere Systeme ohne umfangreiche Wertetabellen nicht denkbar wären, ist es kein Problem, Cthulhu auch völlig würfellos zu spielen. Der Verzicht auf Regelschulmeisterei und Würfelorgien geschah aus Betonung der Spielatmosphäre. Denn wenig kann das Wichtigste eines Horrorrollenspiels, die Spannung, leichter zerstören, als umständliches Suchen in Regelwerken oder langatmige Würfeleinlagen. Aus diesem Grund lassen die Regeln dann auch dem Spielleiter vor allem in Kampfsituationen recht freie Hand: Gespielt wird so, wie es der Stimmung nach am besten passt. Zu Kämpfen aber wird es in der Welt von Cthulhu ohnehin nicht oft kommen – verdecktes Vorgehen ist meistens sinnvoller und erfolgversprechender. Dazu kommen realistische Waffenschäden, denn bereits ein Messerstich kann genau wie in der Wirklichkeit eine tödliche Verletzung sein, und vor allem – übermächtige Gegner, die in offener Konfrontation kaum zu besiegen wären.

Der alte Witz, nach dem in Cthulhu die besten Waffen der Charaktere ihre eigenen Beine seien und man sich die letzte Kugel am besten für sich selbst aufheben solle, mag zwar überzogen sein, völlig an der Wahrheit vorbei ist er nicht.

Dies sollte jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, dass Abenteuer in der Welt von Cthulhu staubtrockene Erlebnisse ohne jede Action wären – denn das für Cthulhu typische Gemisch aus bizarren Verbrechen, dunkelster Magie und alptraumhaften Schrecknissen sorgt für eine spannungsgeladene, thrillerähnliche Stimmung, die sich nicht selten in fulminanten Höhepunkten entlädt.

Angesichts der gewaltigen Dimension des Schreckens, der auf die Charaktere im Laufe des Spiels hereinbricht, verwundert es nicht, wenn es in Cthulhu-Abenteuern nicht immer ein glückliches Ende gibt. Der Verlust des Seelenfriedens, der geistigen Gesundheit und in nicht seltenen Fällen auch des Lebens steht dort, wo in anderen Systemen Ruhm, Reichtum und Ehre auf die wackeren Helden warten. Ein kurzzeitiges Aufhalten des Unvermeidlichen, ein Verhindern des Schlimmsten oder eine letzte Gnadenfrist sind oftmals die einzigen Erfolge, die sich am Ende verbuchen lassen. Die Charaktere mögen an einer Stelle die Gefahr des Mythos erkannt und vielleicht auch zurückgedrängt haben – doch wie sollte man gegen einen Kosmos ankommen, der auf Wahnsinn und Geistlosigkeit fußt?

Cthulhu-Charaktere unterscheiden sich aber nicht nur in Hinsicht der schlussendlichen Vergeblichkeit ihres Tuns von denen anderer Rollenspielwelten. Nur in wenigen Systemen beginnt man das Spiel mit Charakteren, die eigentlich bereits „fertig“ sind. Eine Charakterentwicklung im herkömmlichen Sinne, also dem stetigen Verbessern der eigenen Attribute und Fertigkeiten, das aus einem unerfahrenem Jungspund einen Meister seines Fachs macht, findet bei Cthulhu nicht statt. Ein typischer Cthulhu-Charakter ist mittleren oder höheren Alters und verfügt über dementsprechende Lebens- und Berufserfahrung, die sich in weitgehend ausdifferenzierten Spielwerten ausdrückt. Es ist zwar möglich, Fertigkeiten im Laufe des Spiels zu verbessern – dies geschieht mittels Steigerungsversuchen nach erfolgreicher Anwendung – doch ist der Rahmen dafür begrenzt und besitzt auch nicht die sonst rollenspielübliche große Bedeutung. Die Wahl der Charaktere jedoch ist völlig frei. Zwar gehören zu den im Spiel häufig gewählten Charakteren solche, die sich besonders gut für investigative Aufgaben eignen, etwa Professoren, Journalisten oder Polizeibeamte, doch theoretisch ist vom Kutscher bis zum Rockmusiker alles drin – erlaubt ist, was Spaß macht.

Eine Entwicklung, die ein Cthulhu-Charakter aber in jedem Fall durchmachen wird, ist die des geistigen Niedergangs: Überfordert mit dem Grauen, dem er sich gegenübersieht, verliert er nach und nach an innerer Festigkeit bis sich erste Anzeichen von geistigen Defekten einstellen. Besonders hier tun sich vielfältige Möglichkeiten zum Rollenspiel auch abseits der eigentlichen Abenteuer auf: Wie verändert sich zum Beispiel das alltägliche Leben, wenn man hinter jedem Mitmenschen einen mörderischen Kultisten vermutet? Wie reagiert die Umwelt auf jemanden, der von schrecklichen Bedrohungen aus dem All (oder besser noch: aus der Zeit!) spricht und eventuell sogar allerlei Straftaten begeht, um diese angeblich zu beseitigen? Und schließlich: In welche Richtung entwickelt sich ein Mensch, der einsehen muss, dass seine gesamte Schulweisheit nicht ausreicht, um Erklärungen für das Widerfahrene zu geben, der miterleben muss, wie die Werte, an die er geglaubt hat, an Bedeutung verlieren, je mehr er über die wirklich herrschenden Mächte des Kosmos erfährt?

Um solche Charakterzüge darstellen zu können, bedarf es einer glaubwürdigen Spielwelt. Mit einer Fülle von Hintergrundbeschreibungen kommt Cthulhu dieser Anforderung nach. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der 2003 erschienenen Box Deutschland – Blutige Kriege & Goldene Jahre beschäftigt sich ein 248 Seiten starker Quellenband mit nichts anderem – Geschichte und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, Verkehr und Reisen, Kriminalität und und und. Kein Bereich des gesellschaftlichen Lebens, der nicht vorgestellt wird; bis hinunter zu Informationen über Freizeitgestaltungen, Mode und zeitgenössische Preise findet man hier eine ausführliche Beschreibung des Deutschlands der Zwanziger Jahre. Doch diese Detailverliebtheit hat noch einen anderen Grund: Denn nur wenn es gelingt, die Spielwelt lebendig vor den Augen der Spieler zu erschaffen, hat der Spielleiter die Chance, auch den Schrecken, der in ihr lauert, auf eine realistische Art und Weise zu präsentieren. Erscheint sie im Gegensatz unglaubwürdig, kann auch der Horror nicht schocken.

Mehr als anderswo ist in Cthulhu immer Frage der Motivation zu bedenken, fällt doch das klassische Motiv des bewussten Abenteuersuchens weg: Kaum ein Mensch würde sich freiwillig auch nur in die Nähe jener monströsen Geschehnisse begeben, die den Cthulhu-Mythos eben ausmachen. Dieser Schwierigkeit hat man sich in den Publikationen auf verschiedenen Wegen genähert, sei es, dass verstärkt persönliche Motivationen der Charaktere herausgearbeitet wurden, sei es, dass Abenteuer weniger wie der herkömmliche zu erledigende Abenteuerauftrag konzipiert wurden, sondern als plötzliche Begebenheit, welche die Charaktere in ihrer Gewalt mit sich reißt, so dass diese sich – wenn auch wider Willen – mit ihr beschäftigen müssen. Und in naher Zukunft ist zusätzlich das Erscheinen eines Quellenbandes geplant, der eingehend Wege aufzeigen wird, wie trotz der genannten Motivationsschwierigkeiten eine längere Reihe von Abenteuern glaubhaft durchspielt werden kann.

Zu guter Letzt soll hier einem recht weit verbreiteten Vorurteil widersprochen werden. Entgegen vielerlei Behauptungen ist das Rollenspiel mit dem unaussprechlichen Namen kein Rollenspiel, das sich nur an fortgeschrittene und erfahrene Spieler wendet. Ganz im Gegenteil ist Cthulhu durch ein schlankes Regelsystem und eine Spielwelt, die zumindest in groben Ansätzen jedem bekannt sein dürfte, sehr wohl auch für Einsteiger geeignet. Für Spielleiter mag es nützlich sein, bereits in anderen System Erfahrungen gesammelt zu haben, da Cthulhu großen Wert auf Atmosphäre legt, und es sicherlich schwieriger ist, eine gruselige Spannung zu erzeugen, als den mittelalterlichen Marktplatz eines Fantasy-Settings anschaulich zu beschreiben. Doch ist dies auch schon die einzige Einschränkung, die man in dieser Hinsicht machen mag – auf keinen Fall ein Grund, warum Rollenspielanfänger auf Abenteuer in der Welt von H. P. Lovecraft verzichten sollten.

Es wäre doch schade, wenn ausgerechnet in diesem Fall die Angst vor dem Unbekannten stärker als die Neugier sein sollte ...

 

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024042507574176a46143
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Rezensionen:

weitere Infos:

Cthulhu bei Pegasus

Hinweis:

Dieser Artikel wurde auch auf Vampyreplanet.net veröffentlicht!


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Erstellt: 14.12.2005, zuletzt aktualisiert: 24.01.2015 23:44, 1632